ZwischenWelten – Die Süchte der Zukunft als Erinnerungen an das Menschliche
Zuerst erschienen in laut & leise, Juli 2018
Unsere Zukunft passiert in Netzwerken. Wie wir kommunizieren, zusammenwohnen, Energie verwalten und zusammenarbeiten – alles gleicht sich der Metapher des Netzwerks an. In den vernetzten Städten läuft alles zusammen: Die Daten-, Ideen-, Finanz- und Warenströme. Auf das Land fahren wir, um regionales Gemüse einzukaufen, unsere Fantasie anzuregen oder am Flussufer vordigitalen Gewohnheiten wie beispielsweise Yoga nachzugehen. Hier finden wir Entnetzung, hier floriert die Gegenkultur.
Die Maschinen werden intelligenter, menschlicher und kleiner. Sie werden selbstverständlicher Teil des Alltags, werden unsichtbar. Heute sind die Smartphones unsere digitale Kommandozentrale, schon bald sind die Schnittstellen zum Digitalen in unsere Körper integriert. Smarte Kontaktlinsen zeigen uns Wege, Busfahrpläne und die Lebensläufe der Menschen an, die uns auf dem Gehsteig entgegenkommen.
Das Internet dringt in alle Aspekte unseres Alltags vor. Es saugt alles in sich auf, die Menschen, die Autos, die Bücher und bald schon unsere Haustiere. Wir leben künftig vermehrt zwischen den Welten, in Zwischenwelten, die halbwegs analog und digital sind. Wir bereisen abends New York und am Wochenende treffen wir unsere Freunde im virtuellen Mittelalter. Algorithmen übernehmen die göttliche Vorhersehung. Sie kennen uns so gut, wie niemand sonst, und bestimmen mit wem wir uns wann, wo, wie und warum vernetzen.
Süchtig in einer digitalen Welt
Auch 2050 ist Sucht ein gescheiterter Versuch, der Realität und damit sich selbst zu entkommen. In intensiven, rauschhaften Momenten geben wir uns der Gegenwart hin. Wir wollen entspannen, loslassen, vergessen, davonkommen – vom Ich und seinen Schatten. Die Abenteurerin pendelt leicht zwischen den Welten. Doch dem Süchtigen misslingt es, seine Flucht als temporären Ausflug abzustecken. Realitätsflucht zieht weitere Fluchtversuche nach sich. Nach Abklingen der Intensität bleiben die Probleme unbewältigt.
Süchte sind im doppelten Sinne epochenspezifisch. Süchtige versuchen den psychosozialen Belastungen ihrer Zeit auszuweichen. Auch die Mittel, um sich zu befreien, sind gesellschaftlich geprägt. Man konsumiert die Drogen, die «in» sind. Zwanghaft stählt man seinen Körper und versucht sich richtig zu ernähren. Die sozialen Medien bewirken ein verzweifeltes Hoffen auf Likes und viele sind süchtig nach ihrer Arbeit, denn an ihr hängt unsere Identität. Die psychosozialen Herausforderungen im 2050 sind vom richtigen Umgang mit flüchtigen und digitalen Identitäten, Robotern aller Art, Automaten und Daten geprägt. Was als Wunsch nach noch mehr Vernetzung begonnen hat, stellt nun das Menschliche zur Diskussion. Der Mensch muss seinen Platz finden, in einer Welt, die nach Effizienz und Perfektion strebt.
Sucht nach Resonanz
Individualisierung bedingt Spiegelbilder, Bühnen und Zuschauer. Es ist nicht möglich, sich in der stillen Kammer ohne Publikum, selber zu verwirklichen. Das Individuelle funktioniert erst durch Referenz, durch etwas, von dem man sich abgrenzen, zu dem man sich ins Verhältnis setzen kann. Verwirklichung verlangt Feedback und Resonanz. So betrachtet, ist die Sucht nach Aufmerksamkeit vielleicht die Ursucht, die Mutter aller Süchte. Sie steht stellvertretend für das einsame Selbst. Es möchte schwach sein dürfen, unterstützt und beschützt werden. Doch ist es viel zu stolz, das auch zuzugeben. Deshalb giert es nach Likes, deshalb will es Feedback erhalten. Wir erfahren Aufmerksamkeit – wenn nicht durch einen liebenden Partner – durch Applaus und Likes. Gesteigert wird dieses Mitfiebern durch Techniken der Simulationen: In den sozialen Netzwerken der Zukunft lassen wir unsere Mitmenschen unsere Erlebnisse miterleben, gemeinsam mit uns fühlen.
Sucht nach alternativen Realitäten
Eine einzige Realität genügt nicht mehr. Wir werden uns noch mehr sehnen, digital erweiterte Realitäten zu erleben. In diesen Parallel- und Spiegelwelten entfalten wir die widerspenstigen und widersprüchlichen Bestandteile unseres Selbst. Heute surfen wir dazu im Internet oder verlieren uns in den künstlichen Welten von Videospielen. Die virtuellen Szenarien werden sich schon bald real anfühlen. Wir werden das Gefühl haben, die Dinge schmecken, fühlen, berühren zu können. In simulierten Welten werden wir andere Wesen entdecken, bewundern und lieben. Wir werden nicht mehr wissen, ob sie Menschen oder Maschinen sind. Das wird uns ermöglichen, gleichermassen in die Zukunft oder die Gegenwart zu reisen. Diese Eingriffe in unser Zeitverständnis könnten soweit führen, dass wir nicht mehr wissen, in welcher Epoche, an welchem Ort wir zuhause sind.
Sucht nach Emotional Engineering
Schon lange konsumiert man im Silicon Valley in kleinsten Mikrodosen LSD, um seine Kreativität anzuregen. Der Wunsch kreativ zu sein, ist gleichermassen ökonomische Notwendigkeit wie Ausdruck einer grundsätzlichen menschlichen Verunsicherung . Wir möchten nicht wie Maschinen in repetitiven Arbeitsschlaufen gefangen sein – ohne Selbstbestimmung, ohne Möglichkeit auszubrechen. In der Psychiatrie wiederum wird über unter die Haut gesetzte Substanzen nachgedacht, die bei einer Stimmungsveränderung aktiv werden. Das eröffnet den Blick auf eine Zukunft, in der wir alle von «SOMA» abhängig sind. Aber anders als bei Huxleys düsterer Zukunftsvision nehmen nicht alle dieselben Stimmungsmacher. Vielmehr wird die Medikation der Situation, dem Charakter und den beruflichen Erfordernissen angepasst. Emotional Engineering sichert uns gegen emotionale Risiken ab und verspricht uns eine maximale Intensität des Erlebens.
Sucht nach Schmerz
Auch weil wir uns zunehmend in simulierten und nicht-natürlichen Welten aufhalten, wird sich die Frage nach dem Menschlichen stellen. Wie können wir wissen, dass der Moment echt ist, wir nicht träumen, nicht simulieren, nicht zeitreisen? Diese existenzielle Unsicherheit steht im Kontrast zu den Maschinen. Maschinen fragen, sterben, leiden nicht. Also könnte sich, wer sich menschlich fühlen möchte, nach Schmerz sehnen. Wir können uns diesen selber zufügen – uns absichtlich schürfen, ritzen, verbrennen. Oder wir bitten beim SM-Sex andere, uns diese Schmerzen zuzuführen. Sie sollen uns schlagen, fesseln, Wachs auf uns tropfen lassen, uns demütigen. Im Moment der Qual und Erniedrigung kommt die Welt zum Stillstand. Die Wahrnehmung kehrt sich nach innen und wir treffen auf unser Selbst. Wer Schmerz lustvoll spürt, lässt sein Leid im Leiden und kehrt voller Energie in sein Leben zurück.
Warum Süchtige scheitern
Je weiter der Mensch fortschreitet, desto mehr multiplizieren sich die Wirklichkeiten, in denen wir zu Hause sind. Getrieben durch Virtualisierung, Individualisierung, Globalisierung, neuen Formen der Mobilität und personalisierten Designerdrogen erweitert sich gleichermassen unser Bewegungsradius wie der Takt unserer Erlebnisse. Jedes unserer vielen Ichs wird eine Bühne der Entfaltung verlangen. Einige von ihnen werden analog sein, andere digital. Wir werden zwischen Realität und Virtualität navigieren, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Freundschaften mit Menschen und Maschinen. Die skizzierten Süchte sind Varianten, um für Augenblicke die Leiden des Selbst hinter sich zu lassen – das Orientieren in einer komplexen Welt, das Bestehen auf dem Arbeitsmarkt, die Last der täglichen Entscheidungen, die Verantwortung unserer Beziehungen, den Druck der perfekten Maschinen und immer vollkommeneren Mitmenschen.
Süchtigen misslingt es, ihre Zusatzrealitäten in ein passendes Verhältnis zur Beschränktheit des kleinen Ichs zu bringen. Sie wollen das Menschliche und verlieren sich im Künstlichen. Sie verstricken sich in fantastischen Realitäten, verzetteln sich zwischen den Wirklichkeiten oder sind erschöpft, ob den Nebenwirkungen, welche das Navigieren zwischen den Welten mit sich bringt. Sie scheitern daran, ihre Unvollkommenheit als Merkmal des Menschlichen zu erkennen, lassen sich dazu verführen, allzu fehlerlos, schön und funktionsfähig sein zu wollen. Wer nicht süchtig werden will, kann versuchen, sich in seiner Fehlerhaftigkeit zu akzeptieren und anzuerkennen, dass die mühsame Suche nach sich Selbst, das tägliche Überwinden von Widerständen, den Menschen zum Menschen macht.