Vergessen - Ein Gedankenprotokoll am Rande der Digitalität
Dies ist eine Hommage an das Vergessen, die in der Form eines inneren Monologs vorgetragen wird. Er erzählt von einer Welt zum Vergessen, in der durch die exponentielle Vermehrung der In formationen und Optionen der Wunsch nach dem Selbstvergessen immer grösser wird.
Am Rande seiner Digitalisierung entdeckt der Mensch eine Kulturtechnik wieder, welche die Religionen seit Jahrhunderten als Instrument der Reinigung und Erlösung nutzen. Je mehr sich der Text von der Oberfläche der Zeitdiagnose löst, desto subjektiver argumentiert er. Der Essay bewegt sich zwischen wissenschaft licher Beobachtung und persönlichem Tagebuch. Er führt vor, was er zu beobachten glaubt: Erkennt nisse in der Digitalität sind uneindeutig, hyperver netzt, disziplinlos und subjektiv eingefärbt.
Leseprobe
Ich erinnere mich an einen Fluchtversuch an einem verregneten Wochenende, in zermürbenden Zeiten ohne Pause. Ein kurzer Aufenthalt in der Ferne sollte den Alltag distanzieren. Ich wollte durchatmen, um weiterzuziehen. Mit reduzierter Schwerkraft und verzögerten Bässen in überdimensionierten Kopfhörern stand ich an einer designten Bar im Zürcher Flughafen, schaute den an den Fensterscheiben sterbenden Regentropfen zu, in isolierter Einsamkeit, die verbindende Digitalität eng an mein Rückgrat geschnallt. In den letzten Monaten war ich mir überdrüssig geworden, ohne es zu merken, ohne dagegen anzukämpfen. Jetzt aber war ich bereit abzuhauen, unterzutauchen und das Quälende, das Nervende, das Störende, das Umständliche für kurze Momente in den Hintergrund zu rücken. Durch den Kulissenwechsel wollte ich die Vergangenheit mit Gegenwart überschreiben und neuen Erinnerungen Platz machen. In den Routinen des Alltags bin ich nicht fähig, die Fesseln zu lösen. In der Ferne aber scheint es ein heilendes Fenster des Vergessens zu geben. Your flight is now ready for boarding. Die Augen schliessen, und schon ist der Flüchtige in der Fremde deponiert. Aussteigen und sofort wieder einsteigen. Nahe am Überschall bringt mich ein überteuertes Shuttle durch kilometerlange Tunnels in wenigen Minuten in die Innenstadt. Vor den Zugfenstern entfalten sich farbenfrohe Frühlingsstreifen. Die ersten Erinnerungen verziehen sich.
London hat sich verändert, der Erneuerungsprozess ist unaufhörlich, gnadenlos. Das Düstere verschwindet und wird durch das Transparente ersetzt. Die Gebäude ragen weit in den Himmel, kratzen an den Regenwolken und schreiben die Skyline ständig um. Ein gläserner Tannenzapfen ragt aus dem Boden, in seinen Schuppen spiegelt sich das Licht der Dämmerung, in seinem Inneren übertragen fleissige Wissensarbeiter Gedanken in Buchstaben und Informationen in Geld. Ich erkenne mich im Glanz der Fassaden, staune den Kratzern entlang in den Himmel, strecke die Hand aus und glaube den Himmel zu berühren. Ich fotografiere ins Nichts, fühle nur Leere. Niemand dringt in meine Innenwelt ein, in der Gedanken um das Ich kreisen, ohne dieses zu erreichen. Ich fühle mich surreal, flüchtig, unbestimmt. De-materialisiert, besteht das Ich nur noch aus Symbolen.1 Baudrillard fragt richtig: Warum ist nicht alles schon verschwunden? Ich fühle mich verlassen, ohne Bezug. Ich streune ziellos, drohe in meinen Gedanken zu ertrinken. Der Alltag, die Sorgen, die Ängste, die Zwänge haben das Ich verblassen lassen. Den totalitären Aufforderungen der digitalisierten, ökonomisierten Wissensgesellschaft vermag ich nichts mehr entgegenzusetzen. Ich habe mich an den Rand meiner Existenz gejagt, die Zwänge der Selbstoptimierung zerstören mich.
Ich drehe mich im Kreis. Ich erkenne und verkenne mich. Ich will von mir lassen, mich zumindest für kostbare Sekunden überwinden. Mein Inneres ist faul, Fruchtfliegen kreisen.
Ich drehe mich im Kreis. Ich erkenne und verkenne mich. Ich will von mir lassen, mich zumindest für kostbare Sekunden überwinden. Mein Inneres ist faul, Fruchtfliegen kreisen. Es modert, stinkt und fühlt sich kränklich an. Ich spüre, wie mein Ich Tag für Tag weiter zerfällt. Ich verliere die Konturen und den inneren Zusammenhang. Der Kontext verlangt, dass ich den Schein bewahre. Das Publikum weicht mit seinen Augen nicht von mir, die Aufführung muss pannenlos weitergehen. Ich fliesse aus, aber sie bemerken es nicht. Ich zweifle, während sie applaudieren. Meine Oberfläche zeigt sich je nach Tagesform bewegt, gestresst, überfordert oder übermüdet. Das Kontrastprogramm ist ebenso denkbar: Ein rastloses hyper¬mobiles multivernetztes überdrehtes Ich voller Ideen, mit einem übertriebenen Selbstvertrauen. Mit den Szenen wechselt das Ich seine Kostüme, kann aber nicht einmal sich selbst darüber hinwegtäuschen, dass es sich in der Selbstreflexion verloren hat. Die Schlingen engen sich, die Luft atmet sich dünner. Das Ich verfolgt, jagt, bedrängt mich. Das Errichten der digitalen Spiegel hat gerade erst begonnen, doch bereits am Anfang der Digitalität ist klar, dass das Ich nicht dasselbe bleiben wird. Rastlos strebt es nach neuem Wissen, endlos erneuert es sich selbst, kraftlos schwebt es zwischen Raum und Zeit.
Schreiben, um nicht zu vergessen, um die inneren Gedankenwelten in äusserlich sichtbare Protokolle zu verwandeln, um die Symmetrie zwischen innen und aussen, zwischen Realität und Digitalität voranzutreiben. Durch das Schreiben loslassen, das Ich ordnen und zum wiederholten Male neu anfangen. Im Schreiben steht die Welt still, zumindest auf dem Papier, zumindest für den Moment. Das Dynamische wird statisch, für einige Stunden und durch die Niederschrift doch für die Ewigkeit. Das Gedachte wird nicht mehr vergessen und kann notfalls gar vor Publikum vorgetragen werden. Diese Fixierung befreit das Ich von seinen Gedanken, von seinen Erinnerungen, von den teufelsgleichen Dämonen einer grenzenlosen Selbstreflexion. Erst im Schreiben stellt sich eine beruhigende Distanz zum Äusseren ein. Das Ich konzentriert sich ganz auf sich selbst: strukturierte Introspektion, kontrollierte Synchronisation. Das Schreiben ist scheinbar ziellos, führt aber dann doch zum Ich. Buchstaben folgen Buchstaben. Schreiben, um die Komplexität der Kulissen des Seins begreifbar zu machen und nicht unterzugehen.
Ein Essay, ein Versuch, ein Gedankenprotokoll. Das Unvollständige, das Unfertige, das Wagnis, das Unperfekte. Das Relative. Das Ultrasubjektive und das Unvollständige zulassen, den Widerspruch aushalten, das Unfertige anstreben, die Perfektion missbilligen und die Endgültigkeit ignorieren. Eklektisch zusammenfügen, was aus meiner Sicht zusammengehört und den Zustand des digital werdenden Ichs am besten beschreibt. Der Essay passt zu einem essayistischen Ich, das in essayistischen Zeiten auf der Suche nach sich selber ist. Der Schreibfluss ist ein Prozess, ein fortlaufender Akt der Welt- und Selbstfindung. Selbstoffenbarung, Ego-Tripp, Ego-Falle. Inmitten der Weltbeobachtung betreibe ich Selbstbeobachtung oder eben umgekehrt. Die Grenzen zwischen Analyse, Beobachtung und Empfinden lösen sich auf. Der Essay führt vor, was er zu beobachten glaubt. Die Digitalität ist uneindeutig, hypervernetzt, disziplinlos und subjektiv eingefärbt. Das Netz unterscheidet nicht zwischen Gefühlen, Beobachtungen und Bewertungen. Welt und Ich verschmelzen, Aussen und Innen verlaufen, Welt- und Ich-Konstruktion sind dasselbe. Ich bin mein Körper, mein Avatar, mein Algorithmus. Wieder drohen die Dämonen der Selbstzerstörung. Je tiefer ich in mich eindringe, desto lauter zirzen sie.
Das Vergessen als notwendige Kulturtechnik – Beitrag in Bulletin der Credit Suisse, Dezember 2011
Der Mensch ist ein Wissenssammler. Weil sein Speicher beschränkt ist, muss der Mensch vergessen, um Erkenntnisse und Erlebnisse laufend verarbeiten zu können. Das Vergessen ist eine uralte Kulturtechnik, die insbesondere die Religionen gefördert haben. In einer Gesellschaft voller Informationen steigt die Notwendigkeit, die Techniken des Vergessens wieder zu entdecken.
Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Es ist die Tatsache, dass unsere Realität relativ ist. Wir haben keine Triebe und Instinkte, die unser Verhalten in jeder Situation automatisch vorschreiben. Stattdessen stellen wir Fragen an unsere Umwelt, an unsere Mitmenschen und auch an uns selber. Wer bin ich, warum nimmt die Finanzkrise kein Ende und warum schnurrt die Katze auf meinem Bauch? Das Reflektieren garantiert uns nicht nur das Überleben, es ermöglicht uns auch, die Natur immer mehr zu unseren Gunsten zu nutzen.
Das fragende Wesen
Durch Fragen lernen wir nicht nur die Welt und gleichzeitig unser Ich kennen. Welt- und Selbsterkenntnis lassen sich genauso wenig trennen, wie sich der Mensch aus seiner Umwelt isolieren lässt. Das Fragen erlaubt uns, als Menschheit fortzuschreiten, immer neue Technologien und Produkte zu entwickeln. Letztlich münden die Fragen in eine Steigerung des Wohlstands, wobei wir mit dem Erreichten nie zufrieden sind. Stetig überlegen wir uns, wie unser Leben noch besser sein könnte. Der Mensch ist das fragende Tier, ein Tier, das nie zu abschliessenden Antworten findet und immer wieder neu mit dem Fragen beginnt.
Der Mensch ist ein Wissenssammler. Mit jedem absolvierten Lebensjahr staut sich mehr Wissen in unserem Inneren an. Durch die eingesammelten Wissensbausteine konstruiert sich das Ich seine Welt. Man könnte so weit gehen und sagen, dass die Welt nur im Kopfkino des einzigartigen Individuums existiert. Alles andere gehört zu den Kulissen und Requisiten. Der Beginn der Wissenssammlung liegt im frühsten Kindesalter, wenn wir mit Hilfe von Mama und Papa die ersten Worte lernen.
Eine nicht endende Wissensreise
Mit den gelernten Worten formulieren wir Sätze und können dadurch gegenüber den Mitmenschen unsere Bedürfnisse zum Ausdruck bringen. Auf der Schulbank findet die Wissensreise ihren Fortgang, wo der noch fast wissensleere Mensch zuerst das Alphabet und dann das Einmaleins lernt. Es folgt die Grundausbildung in der Mathematik, den Sprachen, der Geografie, der Geschichte, der Biologie. Nach und nach lernt der Mensch die Welt zu verstehen. Er lernt die gesellschaftlichen Gesetze und Regeln kennen und wie er sich innerhalb dieser zu verhalten hat.
Nach der Schule werben sich die einen in einer Lehre praktisches Wissen an, während sich die anderen in den Hörsälen der Wissenschaft einfinden, um sich noch mehr theoretisches Wissen anzueignen. Das ist nicht das Ende des Wissenserwerbs, längst hat sich die Nachricht auf dem ganzen Planeten verbreitet, dass das Lernen eine lebenslängliche Beschäftigung ist, will man auch in Zukunft mit den Anforderungen der Wissensgesellschaft mithalten können.
Der menschliche Wissensspeicher
Erkenntnisse werden in unserem Gehirn gespeichert. Das Gehirn ist ein Wissensreservoir, in dem neben dem praktischen und dem theoretischen auch sämtliche alltäglichen Erkenntnisse abgespeichert werden. Nicht alle Erfahrungen verbleiben in diesem Speicher. Gewisse Einsichten sind so kurzlebig, dass sie, kaum als Gedanken entstanden, schon wieder im schwarzen Loch des Nichtwissens verschwinden. Die moderne Hirnforschung zeigt, dass das Gehirn vor allem jene Erkenntnisse langfristig speichert, die das Bewusstsein mit seinen Emotionen verknüpft. So weiss die Braut ein Leben lang, wo sie geheiratet hat und wie das Wetter an ihrem Hochzeitstag war. Der Bräutigam wird nie vergessen, wie er wenige Monate vor dem Bund fürs Leben momentelang in einen Mann verliebt war.
Dagegen werden sich beide nicht mehr an die Namen oder die Gesichter aller Kinder erinnern, die mit ihnen im Kindergarten waren. Diese Beschränkung auf das Nötigste ist kein Missgeschick, sondern vielmehr zwingend, soll in der Fülle der Eindrücke der Überblick behalten werden. Das Gehirn ist trotz seiner unglaublichen Eigenschaften beschränkt. In seinem Innern gibt es zirka 85 Milliarden Neuronen, die aneinandergereiht eine Strecke von rund 5,8 Millionen Kilometer ergeben, was wiederum dem 145-fachen Erdumfang entspricht.
Die vier Techniken des Vergessens Unsere Multioptionsgesellschaft ist gleichzeitig eine Multiwissensgesellschaft. Die sich aufgrund der Digitalität pausenlos mehrenden Möglichkeiten führen zu einer Verwirrung des Ichs. Verliert aber die Aussenwelt des Ichs an Stabilität, so wird auch seine Innenwelt instabil. Das macht das Ich anfällig für jede Form der Verführung, die Eindeutigkeit und Sicherheit verspricht. Zudem besteht die virulente Gefahr des Verzweifelns. Vier Techniken des Vergessens leisten einen Beitrag zur Reduktion der Welt- und Selbstkomplexität: das Fantasieren, der Rausch, das Reisen und das Löschen.
Ein Meister des Vergessens
Die Beschränkung des Gehirns verweist auf den zwingenden Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen. Es ist weniger ein Nichtvergessendürfen als vielmehr ein Vergessenmüssen. Damit sich der Mensch erinnern kann, muss er ab und an seinen Speicher leeren, sonst ist da kein Platz, um Neues aufzunehmen. Die meisten Gedanken werden erst gar nicht abgespeichert und das Rechenzentrum muss in Sekundenbruchteilen entscheiden, was relevant ist. Es ist wie in einer Bibliothek: Wenn die Bibliothekarinnen nicht regelmässig die nicht mehr benötigten Bücher ausmisten, platzt die Bibliothek in wenigen Jahren aus allen Nähten. Das Beispiel zeigt, dass nicht automatisch die ältesten Bücher aussortiert werden. Im Gegenteil: Über die Zeit hinweg kristallisieren sich Klassiker heraus, die in keiner Bibliothek fehlen dürfen. Diese sind dann so wichtig, dass spätere Bücher auf diese Werke Bezug nehmen. Nicht anders ist es in unserem Gehirn. Es sind ein paar emotionsverknüpfte Schlüsselgedanken, die das Ich ausmachen. Diese Ich-Klassiker nennen die Wissenschaften dann «Identität». Was nicht in Bezug zu ihr gesetzt werden kann, wird gar nicht wahrgenommen oder verpufft zum Zeitpunkt der Verarbeitung. So gesehen ist der Mensch nicht nur ein Wissenssammler, er ist auch ein Meister des Vergessens.
Gelassenheit durch religiöse Rituale
Besondere Bedeutung hat das Vergessen in der Religion erlangt. Das Religiöse unterstützt das Ich im Prozess der Konzentration auf das Wesentliche. Die Techniken des Vergessens unterscheiden sich zwar von Religion zu Religion, zielen aber doch immer auf dasselbe: auf das Loslassen von unliebsamen Erinnerungen. In der christlichen Religion sucht der Sündige den Pfarrer auf, der in der Beichte die Sünde von ihm nimmt. Dem Reuigen wird verziehen, seine Sünden werden durch Gott von ihm genommen. Das fühlt sich wie eine Befreiung an, wie eine Reinigung der Seele, wie ein gnädiges Leeren des Erinnerungsspeichers.
Die Vergebung ist eine Erlösung auf Erden, die dem Ich die Last des Seins nimmt. Durch das Beten steht den Gläubigen eine weitere Technik des Vergessens zur Verfügung. Im Gebet widmen wir uns unserem intimen Ich, seinen Sorgen und Ängsten. Wir bitten um eine neue Stelle, um eine neue Liebe, um Segen für unsere Liebsten, um Hilfe für unsere Eltern, um die Rückkehr der Grosseltern in die Arme Gottes. Wir bitten Gott, die Last von uns zu nehmen, und erlangen Gelassenheit für unsere Zukunft.
Das freie Ich
Die Religionen geben zudem Ausblick auf das langfristige, auf das finale Vergessen. Es ist das Vergessen, das den Speicher des Ichs komplett leeren wird und das Ich für ein Leben nach dem Dasein vorbereitet. Das Ich wird geräumt und neu programmiert. Dieses Vergessen zeigt sich im Christentum in der Vorstellung eines unendlichen, paradiesischen Reich Gottes. Im Leben nach dem Tod wird das Ich endgültig erlöst und erhält ein unendliches Leben, das ausschliesslich aus seinen positiven Erinnerungswelten besteht. Noch konsequenter wird das Selbstvergessen im Buddhismus praktiziert. Hier ist die komplette Leerung des Wissensspeichers schon auf der Erde das Ziel. Das Ich meditiert, lässt alles los und strebt danach, keinen einzigen Gedanken mehr in sich zu tragen. Die Gläubigen streben nach dem Nirwana, in dem es nichts mehr, nur noch das Nichts gibt.
Dann ist das Ich frei, frei von der Welt, aber auch frei von sich selbst. Dieser Zustand beschreibt nichts anderes als das vollkommene Vergessen. Das Ich löst sich aus seiner Welt heraus und vergisst nicht nur seine Sorgen, sondern auch seine Freunde und Feinde, seine Vergangenheit und seine Zukunft.
Platz für das Neue
Der Mensch hat gelernt, sich mit der Beschränktheit seiner Erinnerungen und der Beschränktheit seines Wesens zu arrangieren. Er ist sich bewusst, dass er ein endliches und mit Mängeln behaftetes Wesen ist. Um dieser Beschränktheit auch in seinem Erinnerungsspeicher gerecht zu werden, hat er die Fähigkeit des bewussten Vergessens. Dabei geht es immer darum, durch das Vergessen von Gedanken, Erkenntnissen und Erinnerungen Platz für das Neue zu schaffen.
Das Ich ist wie ein Zimmer, dessen Fenster man nach einer unruhigen Nacht öffnet. Lüftet man das Zimmer nicht, wird die Luft immer schlechter und das Dasein unangenehmer. Es fehlt an Sauerstoff und frischem Wind. Wie bei den religiösen Vergessenstechniken zielt auch dieses weltliche Vergessen letztlich auf die Erlösung des Ichs, auf die Erlösung von Zweifel, Unglück und Trauer. Diese Befreiung fühlt sich wie ein Strecken der Gegenwart an. Es sind nicht mehr die Erinnerungen an eine missratene Vergangenheit oder die Ängste um die Zukunft, die im Vordergrund stehen. Im Gegenteil: Das Ich gibt sich ganz seiner Gegenwart hin. Es lacht und tanzt, es kocht und singt, es segelt und diskutiert. Die irdischen Techniken des Vergessens umfassen das Fantasieren, die Reise, den Rausch und das Löschen. Im Fantasieren wandelt das Ich in einfallsreichen, fantastischen Gedankenwelten. Durch Filme, Bücher und Erzählungen lässt es sich treiben und inspirieren. Das Ich sieht sich aus neuen Perspektiven und lässt das Alltags-Ich hinter sich. Ähnlich wirken die Reise und der Rausch. Auch hier distanziert sich das Ich für eine vorher bestimmte Zeit von sich selbst und gibt sich ganz dem Moment hin.
Kultivierung des Vergessens
Mit Hilfe der Vergessenstechniken kultivieren wir jenes Ich, das in den Zwängen der Gewohnheit und Normen keinen Platz hat. Wer in den Urlaub fährt oder mit Freunden eine Flasche Wein trinkt, vergisst, was ihn sonst quält und drängt. Man gibt sich dann ganz dem Augenblick hin, ohne sich vom Vorher oder vom Nachher derangieren zu lassen. Schliesslich kann das Ich versuchen seine Erinnerungen zu löschen, indem es verdrängt, Dinge wegwirft oder Dateien löscht. Dieses bewusste Löschen ist schwierig, weil in unserem Erinnerungsspeicher doch immer Reste an die unangenehme Vergangenheit übrigbleiben. Erfolgsversprechender scheint es, darauf zu vertrauen, dass der natürliche Vergessensprozess in Form des Alters nach und nach die überschüssigen Erinnerungen von uns nimmt.
Entstehen der Erinnerungsmaschine
Dieses Nachdenken über das Vergessen findet in einer Zeit statt, in der wir Tag für Tag an einer gigantischen Erinnerungsmaschine basteln. Die Rede ist vom Internet, in dessen Netz wir alles speichern, was Tag für Tag an Dokumentation über uns anfällt: unsere Fotos, unseren elektronischen Briefverkehr, unsere Ferienvideos und alle Dateien, die im Berufsleben stündlich entstehen. Das Internet wird mehr und mehr zu einem symmetrischen Spiegel der Realität. Es ist das Gehirn der gesamten Menschheit oder, anders betrachtet, das Zuhause der Menschen der nächsten Generation.
Weil das Internet aber eine Maschine ist, vergisst sie nicht. Sie speichert nicht nur, was wir in den digitalen Raum bewusst hochladen, sondern erinnert sich vielmehr an jeden unserer Klicks, jede Anfrage bei Google, jede Bestellung in der Mediathek, jeden Besuch im digitalen Reisebüro. Sie registriert aber auch das Anschauen eines unanständigen Videos oder den Beitrag in einem politischen Forum.
Die digitale Wissensgesellschaft
Das Internet nimmt das Ich gefangen und lässt es nicht mehr los. Im Entstehen dieser Erinnerungsmaschine verwachsen die Realität und die Virtualität, die Vergangenheit und die Zukunft, der Mensch und die Maschine. Es wird deutlich, dass das Vergessen mehr denn je seine Berechtigung erhält. Gerade in einer digitalen Wissensgesellschaft lebt der Mensch nur dann unbekümmert in seiner Gegenwart, wenn er sich regelmässig der Techniken des Vergessens bedient. Das Fantasieren, das Reisen, der Rausch und das Löschen erlösen das Ich von seinen Sorgen und Zweifeln, von den Fragen, die den Genuss des Augenblicks unmöglich machen. Vergisst das Ich zu vergessen, droht es in der Unendlichkeit seines Wissens verloren zu gehen oder aber in seiner Hilflosigkeit als Maschinenmensch zu enden.
Interview mit Lukas Dumelin
Joël Luc Cachelin hat ein Buch geschrieben übers Überleben im digitalen Zeitalter, das nichts mehr vergisst. Für ein besseres Zusammenleben fordert der Forscher, auf Facebook auch Schattenseiten zu inszenieren. (St.Galler Tagblatt vom 29. März 2012)
Joël Cachelin, die EU fordert ein Recht auf Vergessen. Auch ein Nationalrat will, dass man eigene Spuren im Internet löschen kann. Woher kommt dieses Bedürfnis?
Joël Luc Cachelin: Viele fürchten verfängliche Partybilder und Statusmeldungen. Um überall einen guten Eindruck zu hinterlassen, will man kaschieren können.
Aber das Problem liegt tiefer.
Cachelin: Die Gesellschaft ist dran, alles ins Internet zu spiegeln. Doch was im Netz landet, bleibt dort. Der Vorstoss im Nationalrat ist nur Symptombekämpfung. Wir sollten vielmehr unsere Haltung gegenüber dem Vergessen überdenken. Wir könnten akzeptieren, dass wir Fehler machen, uns Ausrutscher leisten – und müssten keine Angst mehr vor unvorteilhaften Fotos haben.
Wir wollen alles löschen können und gleichzeitig alles wissen. Sie schreiben in Ihrem Essay, das Gebot der Stunde sei «Du sollst nicht vergessen». Ein Widerspruch.
Cachelin: Ja. Wir wollen nicht alles Wissen teilen, obwohl Wissen die wichtigste Währung in unserem System ist. Wissen steht für Reichtum. Ohne Wissen kein Diplom, keinen Job, keinen Erfolg. Gleichzeitig ziehen sich viele hinter den Computer zurück.
Kommuniziert wird verstärkt übers Internet. Ist diese Entwicklung gefährlich?
Cachelin: Die Gefahr liegt in der Verführung. Das Internet lockt. Ein Klick – und ich bin am Ziel. Porno holt man sich nicht mehr am Kiosk, sondern im Netz. Die virtuelle Welt macht das Ich anfällig für vorgefertigte Identitäten. Marken, politische Parteien – alles kann man auf Facebook zu den Interessen hinzufügen. Darum wird die Selbstreflexion wichtig. Jeder muss wissen, wer er ist und was er will, um den Verführungen zu widerstehen. So behält man im Chaos der vielen Informationen und Optionen den Überblick.
Um Abstand zu gewinnen, schlagen Sie verschiedene Techniken vor.
Cachelin: Die Techniken erlauben, sich kurz von den Ansprüchen der Gesellschaft erholen zu können. Bestenfalls vergisst man sich und erlöst sich für kurze Zeit. Gelingen könnte das mit Phantasieren, um sich so in eine neue Welt zu flüchten. Oder man sucht den Rausch.
Aber ich kann mir doch nicht jeden Abend in der Beiz die Kante geben.
Cachelin: Das ist nicht nötig und auch schwierig, weil ein Rausch häufig von Nebenwirkungen begleitet wird. Man kann auch in einen Film eintauchen oder auf einer Reise staunen. Es zählt die Wirksamkeit des Moments. Totales Abstandnehmen ist so oder so unmöglich: Sich selber wird man nicht so schnell los.
Sie fordern ja, dass wir auf Facebook auch unsere Schwächen inszenieren. Dabei zeigen wir doch viel lieber, was wir sein wollen. Und nicht, was man ist.
Cachelin: Richtig. Aber genauso gehen wir auch in der Realität vor. Wir inszenieren uns ständig, um einen besseren Eindruck zu machen. Wenn jemand einen neuen Job oder eine neue Partnerin sucht, wird er sich auch von seiner besten Seite zeigen.
Warum fänden Sie es trotzdem gut, wenn mehr Leute im Netz zu ihren Schattenseiten stehen würden?
Cachelin: Schwächen sind schön. Je mehr wir preisgeben, desto besser lernen wir uns kennen. Je mehr ich twittere, poste, google, desto mehr erfahren andere von mir, wie es mir geht, was ich mache und was ich denke.
Aber stellen Sie sich vor, wie das wäre, wenn alle meine Facebook-Freunde ständig ihre Abstürze und Sorgen präsentieren würden. Das würde mich doch heillos überfordern – und irgendwann auch nicht mehr interessieren.
Cachelin: Diese Informationsflut wäre ein Problem. Wir brauchten bessere Filter, um dieses «Spamproblem» in den Griff zu bekommen. Solche Fragen zeigen, wie wichtig es ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie viel Digitalisierung wir uns in Zukunft in unserem Alltag wünschen.
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