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Unicorn Health – Wie milliardenschwere Startups das Gesundheitssystem umkrempeln

Illustration von Karsten Petrat


Was symbolisieren die Einhörner?

Einst waren Einhörner geheimnisvolle, seltene, scheue Fabelwesen. Doch in den letzten Jahren unterwanderte das regenbogenfarbige Wesen regelrecht die Popkultur. Sogar ein eigenes Emoji hat das bunte Tier. Seine Symbolkraft konnte es sich trotz Popularitätsgewinn erhalten. Wer das Einhorn sieht, hofft auf eine andere Welt – eine quere, fantasievolle, verspielte. In der Wirtschaft wiederum bezeichnen Einhörner begehrte Unternehmen mit grossem Entwicklungspotenzial. Investoren stellen ihnen noch vor dem Börsengang über eine Milliarde für ihre Pläne zur Verfügung.

In den meisten Fällen ist von jungen Startups die Rede, vereinzelt kann es sich um noch nicht kotierte Traditionshäuser handeln. 2014 stellte der begriffsgebende «Cowboy Venture» Fond erstmals eine Liste mit Einhörnern auf. Damals umfasste der Unicorn Club 39 Unternehmen, im September 2018 rangieren gemäss CB Insights bereits 271 Unternehmen – mit einem geschätzten Investitionsvolumen von 864 Milliarden Dollar. Diese Summe entspricht etwa dem zehnfachen jährlichen Budget der Schweiz (68 Mia im Jahr 2017).

Investoren stellen Einhörnern noch vor Börsengang über eine Milliarde für ihre Pläne zur Verfügung

Als Finanzvehikel illustrieren die Einhörner, an welche Zukünfte, präziser ausgedrückt, an welche technologischen Innovationen, Produkte, Dienstleistungen und gesellschaftlichen Umbrüche die Financiers glauben. Denn wer als Venture Kapitalist in Startups investiert, hofft als Gegenzug seines unternehmerischen Risikos auf eine überdimensionale Rendite beim Verkauf seiner Anteile. Die Einhörner stehen damit ebenso für die Visionen der Unternehmer wie die Gewinnerwartungen der Investoren. Sie vereinen die Funktionen von Propheten und goldenen Kälbern. Jeweils schimmert der ungewisse Erfolg durch. Skepsis ist angebracht.

Wer den Einhörnern sämtlichen Realitätsbezug abspricht, verkennt jedoch, dass aus dieser Population (wenn auch aus wenigen) mächtige Unternehmen der Zukunft hervorgehen. Ebenso verweisen sie auf Technologien und Routinen, die künftig selbstverständlich Teil unseres Alltags sein werden. Weil in der Diskussion der digitalen Transformation zuletzt der Prozess den Inhalt verdrängt hat, sind die Einhörner ein guter Anfang, um zum Inhalt zurückzukehren. Vielerorts konzentriert man sich so sehr auf die Frage, wie man die Transformation meistern könnte, dass man die konkreten Zukunftsszenerien aus den Augen verliert.

Warum sind Einhörner wichtig?

In der Folge geht es weniger um die gesamte Population der Einhörner, als vielmehr um die Frage, wie diese das Gesundheitswesen der Zukunft prägen könnten. Es handelt sich nicht nur um eine Branche, in der jede zehnte Schweizerin arbeitet. Gesundheit ist auch ein Lebensbereich, der uns alle betrifft. Wir alle müssen irgendwann zum Arzt (umgekehrt müssen nicht alle soziale Medien nutzen, ein VR Brille tragen oder ein Taxi bestellen). Mehrere Trends erschweren die Frage, wie wir das Gesundheitswesen designen wollen, eine neue Dringlichkeit.

Wir alle werden die Versprechen neuer digitaler Technologien erhören und unsere Bedenken relativieren, sobald wir oder jemand aus unserem Umfeld erkrankt

Da wäre zum Beispiel der demographische Wandel. In einer Gesellschaft der Hundertjährigen steigen die Ansprüche der Älteren an Mobilität, Unterhaltung und Lernmöglichkeiten. Auch der Bedarf an medizinischer Versorgung und Betreuung nimmt zu. Eine andere Entwicklung sind neue psychische Belastungen – zum Beispiel in Form von Einsamkeit. Beide Entwicklungen bedingen, noch mehr Geld ins Gesundheitswesen zu leiten. Sie ebnen in Kombination mit höheren Erwartungen an Convenience, Erreichbarkeit und Langlebigkeit gesundheitlicher Angebote den Boden für neue Ansätze der Diagnose, Prävention, Behandlung, Beratung und Versorgung.

Ein disruptiver Systemwechsel wird wirtschaftliche, ethische, rechtliche Dilemma aufwerfen. Dabei dürften wir alle den Versprechen neuer digitaler Technologien erliegen und unsere Bedenken relativieren, sobald wir oder jemand aus unserem Umfeld erkrankt. Das Gesundheitswesen ist eine Branche, die von den grossen Plattformen bisher nicht umgekrempelt wurde. Wir merken dies im Alltag zum Beispiel daran, dass wir in keinem Portal unsere Röntgenbilder, Blutwerte und Impfungen einsehen können. Wir alle schlucken dieselben Pillen oder werden häufig erst behandelt, wenn es eigentlich zu spät ist.

Diese Defizite begünstigen strukturelle Veränderungen in den nächsten zehn Jahren. Im Wandel dürften die staatlichen Instanzen an Einfluss verlieren, während neue Akteure die Fundamente für ein neues System legen. Diese Veränderungen werden, wenn nicht von amerikanischen und chinesischen Mega-Plattformen, von Einhörnern getrieben (wobei eben diese Plattformen die Einhörner häufig aufkaufen und damit einfangen. Entwicklungen im Gesundheitswesen sind zweifellos heikler als anderswo, gehört es doch zur Infrastruktur einer Gesellschaft. Veränderungen sollten sorgfältig beäugt werden – in Bezug auf Kosteneffizienz, Ethik oder Solidarität.

Woher stammen die Einhörner?

Im aktuellen – 271 Unternehmen umfassenden – Leaderboard von CB Insights finden sich 17 Einhörner, aus den Bereich „Healthcare“, „Digital Health“ und “Biotechnology”. Für die vorliegenden Überlegungen wurden – in Anlehnung an einen Artikel in Business Insider – vier weitere Einhörner berücksichtigt. Bei der Analyse stehen deren Herkunft und Tätigkeit im Vordergrund. Die systematische Beobachtung der Einhörner lässt nicht nur erahnen, mit welchen Technologien wir künftig unsere Gesundheit optimieren oder unsere Krankheiten diagnostizieren und behandeln werden.

Ebenso geben sie Aufschluss, durch welche Akteure, nach welchen Prinzipien und mit welchen Hilfsmitteln das Gesundheitswesen künftig organisiert sein könnte. Gemäss der Logik der Plattformwirtschaft ist insbesondere zu prüfen, wie die künftigen Schnittstellen zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Patienten und Versorgen gestaltet werden. Von ebenso grosser Bedeutung ist die Frage wer welche Datenströme kontrolliert und wer die Hoheit über neue, für die Diagnose und Behandlung unserer Gesundheit relevanten Daten kontrolliert.

Die Mehrheit der Einhörner in den publizierten Listen stammt wenig überraschend aus den USA (15). Diese Verteilung lässt sich nicht nur mit der Autorenschaft der Rankings erklären. Auch die Venture Capital Tradition und der Umgang mit Rückschlägen sprechen für Amerika. Auf den ersten Blick überraschend, stammen die meisten Einhörner nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus der Region Boston. Im Bundesstaat Massachusetts ist eine deutliche Häufung von Health Unicorns erkennbar. Ein wichtiger Grund für den neuen Hotspot dürfte das «Dreieck» der Weltklasse Universitäten MIT, Harvard und Tufts sein.

In ihrem Report streichen die Cowboys explizit die Bedeutung von Hochschulen für die Entstehung von Einhörnern heraus (nicht ohne die mangelnde Diversität in der Gründerschaft und damit möglicherweise auch der erarbeiteten Lösungen zu kritisieren). Weitere Herkunftsländer sind China (4), Grossbritannien und Deutschland (je 2). Das Schweizer Unicorn „Mindmaze“ wird dem Bereich „Virtual and Augmented Reality“ zugeordnet – auch wenn die anvisierten Hirn-Maschinen Interfaces einst für die Therapie von Hirnschlag-Patienten eingesetzt werden sollen.

Abb. 1: Health Unicorns, Datenquelle Business Insider, CB Insights

Was versprechen uns die Einhörner?

Health Unicorns kann man sechs Innovationsfeldern zuordnen. Eine erste Gruppe forscht an Medikamenten 2.0. Nicht neue Wirkstoffe stehen im Vordergrund, sondern neue Wirkungsprinzipien. Proteus Digital Health entwickelt Pillen, die ein Signal senden, sobald sie eingenommen wurden. Hintergrund ist die Bedeutung der regelmässigen Einnahme von Medikamenten für den Behandlungserfolg. CureVac und Moderna forschen dagegen an der mRNA-Technologie. Proteine sollen nicht in ihrer Funktion gehindert werden, sondern bereits die Entstehung soll verunmöglicht werden.

Zwei Unicorns (Gan & Lee, Interacia) konzentrieren sich auf neue Behandlungsformen von Diabetes (einer weit verbreiteten Krankheit, unter der 4.4% der Schweizer und 2.7% der Schweizerinnen leiden). Ein ganz besonderes Einhorn ist Gingko Bioworks. Das Bio-Design Unternehmen will neue Organismen entwickeln und unter anderem als Medikamente nutzbar machen. Technologie soll Biologie ersetzen. Eine zweite Gruppe von Einhörnern ist der datenorientierten Medizin zuzuordnen. Krankheiten sollen mittels (neuen) Daten frühzeitig erkannt, die Behandlung stärker personalisiert werden. Zu dieser Gruppe zählen Unternehmen, die unser Genom sequenzieren (23andme, Oxford Nanopore).

In den Plänen der Einhörner spielt unser digitaler Zwilling eine wichtige Rolle

In den Plänen der Einhörner spielt unser digitaler Zwilling eine wichtige Rolle. Sensoren – in smarten Toiletten, Kleidern, Smartphones, Kameras etc. bilden unseren Körper digital ab. Das Spiegeln beginnt noch vor der Geburt, mit einer Genom-Analyse. Alle Daten stehen den Akteuren des Gesundheitswesens zur Verfügung. Unser Zwilling wird von KI laufend überwacht. Eine dritte Gruppe produziert, analysiert und integriert medizinisches Bildmaterial in den Praxisalltag (Heart Flow, Outcome Health, United Imaging Healthcare). Der digitale Zwilling kann via Cloud abgerufen werden - wobei Bilder die Analyse sowie die Kommunikation mit den Patienten erleichtern.

Viertens gibt es einen Typus von Einhörnern, die als Plattformen im Gesundheitswesen der Zukunft eine orchestrierende Rolle einnehmen möchten. Dazu gehören Zog-Doc (USA) und GuaHoa (China), die Patientinnen und Ärztinnen in Verbindung bringen. Xiang Yuan und iCarbonX sind Plattformen, die mittels KI gesundheitsrelevante Daten sammeln, aufbereiten und nutzbar machen. Fünftens erarbeitet eine Gruppe von Startups neue Hardware für das Gesundheitswesen. Dazu gehören das deutsche Unternehmen Ottobock (Prothese, Orthesen und Rollstühle) sowie Auris Health (Robotic Endoscopy). Clover und Oscar sind schliesslich datenbasierte US Krankenkassen, die auf E- und M-Health setzen.

Was haben die Einhörner gemeinsam?

Die Einhörner streben ein patientenzentriertes und datenorientiertes Gesundheitswesen an. Dabei werden neue Daten in Diagnose, Prävention und Behandlung eingesetzt. Diese befinden sich bisher nicht in den Händen des Gesundheitswesen und umfassen Geodaten, Informationen aus den sozialen Medien, zu unserem Genom oder Mikrobiom, zu Proteinen und Metaboliten. Neuen Daten bedeuten, viel mehr Faktoren als bisher zu berücksichtigen, die unsere Gesundheit beeinflussen. Die stärkere Nutzung von Daten hat Konsequenzen auf die Art und Weise, wie wir Gesundheit betrachten und Krankheit behandeln. Erstens nimmt die Personalisierung von medizinischen Interventionen weiter zu. Medikamente werden individuell (zum Beispiel gemäss unseren Genen) fabriziert, individuelle Gesundheitsprofile ersetzen allgemein gültige Diagnosen.

Zweitens gewinnt die Prävention an Bedeutung. Prävention ist nicht nur für den Behandlungserfolg entscheidend. Auch die Gesundheitskosten sinken: Prävention ist billiger als Reparatur, Krankheiten sind bei Ausbruch einfacher zu behandeln als in fortgeschrittenem Zustand. Drittens führen mehr Daten zu einer intensiveren Nutzung von KI. Maschinen dann die besseren Arbeitskräfte, wenn es bei einer Problemstellung viele Daten gibt. Fehlen dagegen Daten, sind wir Menschen durch Intuition, Kreativität und Flexibilität den Maschinen überlegen. Die Nutzung von KI wird die Entwicklung hin zu mitarbeitenden Patienten (analog zu arbeitenden Kunden) forcieren.

Schliesslich ist es das Bestreben vieler Einhörner, unsere Lebenserwartung verlängern. Das Altern soll gestoppt oder zumindest verlangsamt werden. Kritiker werden den Einhörnern vorwerfen, ins Gotteswerk zu pfuschen – erliegen sie doch der Versuchung eines irdischen ewigen Lebens. Kaum überraschend haben viele Einhörner einen technischen Hintergrund. Das spiegelt sich sowohl in der Art und Weise, wie Gesundheit betrachtet wird (nämlich als Datensatz) als auch in den Fähigkeiten des Managements. Zum Beispiel hatte die CEO von BenevolentAI hohe Positionen bei Google und Facebook inne. Google (Clover Health, 23andme) und Tencent (Xiang Yuan, GuaHao, iCarbon) sind bedeutende Investoren der Health Unicorns.

Sie erwarten nicht nur lukrative Zukunftsmärkte. Sie haben auch die Fähigkeiten, die es in einem digitalisierten Gesundheitswesen braucht – zum Beispiel in der Robotik oder KI). Der Markteintritt der Einhörner verstärkt die Vermischung von Technologie-, Medizin- und Biotechnologie-Branche. Ebenso auffällig ist die zunehmende Überlappung von Medizin und Lifestyle (durch Schönheits-, Fitness- und Ernährungsangebote). Offensichtlich wird diese Vermischung bei IcarbonX, das entsprechende Apps anbietet. Längst hat ein Wettbewerb um das Orchestrieren der Anwendungen und Akteure begonnen, die etwas mit unserer Gesundheit zu tun haben. Ob staatliche Institutionen diesen Geschwindigkeitswettbewerb erkennen, ist zumindest fraglich.

Welche Rolle spielen die Kryptos?

Eine wichtige Entwicklung, die bei der Betrachtung der Einhörner verdeckt bleibt, ist die Förderung von neuen Unternehmen mittels Kryptowährungen. Startups vermeiden dadurch den staatlich regulierten Prozess der Kapitalaufnahme. Gleichzeitig bauen sie globale Community auf. Beim ICO (Initial Coin Offering) geben Unternehmen statt Aktien Tokens aus. Man könnte statt von Einhörnern von Fledermäusen sprechen - weil sie nur digital zu finden sind und weil sie wie Batman häufig eine Mission verfolgen, die auf einen Umsturz bestehender Verhältnisse abzielt. Kryptos sind aber eben nicht nur ein neues Anlagevehikel. Interessant im vorliegenden Zusammenhang ist ihre Funktion als “Schmiermittel” von Ökosystemen an Bedeutung.

Einblick welche Rolle die Coins künftig im Gesundheitswesen spielen könnten, gibt der Messenger KIK. Dieser hat 300 Millionen Nutzer und konnte mit einem viel beachteten ICO über 100 Millionen Dollar sammeln. Das sind Dimensionen, in denen die Plattformlogik spielt. Die hier beobachteten Entwicklungen dürften im Sinne der Winner Takes it All Logik also durchaus etwas über die Zukunft verraten. Die Währung des KIK-Systems heisst Kin. User erhalten Coins, wenn sie an Marktforschung teilnehmen und Werbefilme anschauen. Ebenso arbeitet das Kin Developer Program an deren Integration in Gesundheit und Fitness Apps. Das zeigt, warum Kryptos für das Gesundheitswesen relevant, beziehungsweise das noch fehlende Puzzleteil in dessen Re-Organisation durch Plattformen sind.

Ein Anbieter könnte uns aber auch entschädigen, wenn wir unsere Daten teilen, künstliche Intelligenz helfen zu erziehen oder an wissenschaftlichen Studien teilnehmen.

Aus Sicht des Ökosystems stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien man die systemeigene Währung verteilt. Zu Beginn dreht sich alles um das gesundheitsförderliche Verhalten. Man erhält Punkte, wenn man seine Entspannungsübungen macht, das Handy für einige Stunden ausschaltet oder zur Dentalhygiene geht. Ähnliche Mechanismen installieren Krankenkassen schon heute, wenn sie Prämienreduktionen ab einer gewissen Anzahl Schritte pro Tag vergeben. Das Ökosystem reduziert durch die Mechanismen die totalen Kosten für das Individuum sinken (je nach System) die Prämien oder die Mitgliederbeiträge. Freilich gehen diese Vorteile mit einer stärkeren Überwachung der Patientinnen einher.

Ein Ökosystem könnte mit Coins auch “arbeitenden Patienten” entschädigen. Naheliegend ist die Belohnung für Feedbacks, Weiterempfehlungen oder die Teilnahme an Innovationsworkshops. Wir könnten auch entschädigen werden, wenn wir unsere Daten teilen, künstliche Intelligenz helfen zu erziehen oder an wissenschaftlichen Studien teilnehmen. Diese werden – gerade im Bereich der psychischen Gesundheit – künftig weniger Medikamente und mehr Algorithmen umfassen. Wir werden also belohnt, wenn wir einem Anbieter sämtliche Daten unserer sozialen Medien für Forschung zur Verfügung stellen. Noch futuristischer ist der Gedanke, Coins als Gegenleistung für das Speichern von Daten in unserer DNA zu vergeben. Versteht sich ein Ökosystem als geschlossene Gesellschaft, wird es ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch Bezahlungen mit der systemeigenen Währung akzeptieren – um die Kosten zu kontrollieren, den Zulauf zu regulieren und die Monetarisierung des Wissens zu sichern.

Welche Fragen werfen die Einhörner auf?

McKinsey prognostiziert die Reduktion der Wirtschaft auf 15 Ökosysteme. Die Logik der Plattformwirtschaft macht gegenwärtig aus vielen Märkten ein “Winner Takes It All”-Rennen. Im Bereich der Gesundheit ist offen, wer einst vorne liegen wird. Es könnte sich um eine bereits etablierte Plattform oder die Pharma-Industrie handeln. Oder aber ein Einhorn designt das Gesundheitswesen von Grund auf neu - mit mehr Daten, mehr Prävention, mehr KI. Jedenfalls scheint eine datenorientierte und patientenzentrierte Medizin unmöglich ohne digitalen Zwilling, der uns als Krankenakte 2.0 durchs Leben begleitet. Das illustriert, wer in der Pole-Position für das Orchestrieren des Ökosystems steht: Jene, die es verstehen unsere Gesundheit in Daten auszudrücken. Wollen die heutigen Akteure nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken, müssen sie rasch einige kritische Fragen stellen.

Wie naiv ist eine Reduktion Europas auf die kritische, ethische Reflexion der Plattformen – im Kontext geopolitisch agierender Volkswirtschaften?

Ja, Einhörner sind zu einem nicht unwesentlichen Teil Finanzanlagen. Viele Versprechen werden niemals real werden, Produkte Prototypen bleiben. Dabei kommt es zweifellos zu Schwarmdummheit, weil sich Medien und Investoren nach den schillerndsten Eihörner umdrehen. Das illustriert den Charakter des Einhorns als flüchtiges Fabelwesen, das manche Hoffnung enttäuschen wird. Exemplarisch für den möglichen Fall eines Stars, ist ausgerechnet ein Einhorn aus dem Gesundheitswesen. Theranos Gründerin Elizabeth Holmes wollte den Bluttest revolutionieren – bis ein Betrug aufflog. Der Liebling der Konferenzen und Feuilletons wurde zum hässlichen Entlein. Doch wie auch immer man es dreht, die Einhörner bleiben – in der Sprache der Trendforschung – schwache Signale der Zukunft. Wir sollten sie als Anlass nehmen, um die richtigen Fragen zu stellen.

Diese Fragen sind anders als die künftigen Gewinne der Einhörner voll und ganz real. Wohlmöglich sind diese Fragen, das wichtigste, was wir von den erschienenen Einhörner lernen können. An der Schnittstelle von medizinischer Versorgung, Politik, Wirtschaft und Ethik ergeben sich fünf Reflexionsfelder.

Fragestellungen im Hinblick auf das Systemdesign

Wie kann die Transformation des Gesundheitswesens in Richtung Versorgung durch Plattformen gefördert werden? Kann dieser Wandel aus dem bestehenden Gesundheitssystem heraus passieren oder braucht es neue Player, die das System von Grund auf neu bauen? Wie offen zugänglich sollten Daten und KI sein? Sind Patente noch tragbar oder könnten andere Mechanismen Innovationstätigkeit belohnen? Welche Forschung soll in Unternehmen stattfinden und welche an Hochschulen? Wer wird mit wem solidarisch sein?

Regulatorische und geopolitische Fragestellungen

Braucht es neue Steuern und Gesetze, um die Macht der Mega-Plattformen zu beschränken? Wie wahrscheinlich ist der Markteintritt einer Plattform aus den USA oder China ins hiesige Gesundheitswesen? Was ist die Rolle Europas in der Plattformwirtschaft? Inwiefern ist die kritische Reflexion der Plattformen wertstiftend – und braucht es dazu eine Stärkung der Geisteswissenschaften? Oder ist eine Reduktion Europas auf die kritische, ethische Reflexion der Plattformen – im Kontext geopolitisch agierender Volkswirtschaften – einfach nur naiv?

Volkswirtschaftliche Fragestellungen

Wie kann die Schweiz ihre Stärke in der Pharmaindustrie, der Medizin- und Biotechnologie besser nutzen, um eine entscheidende Rolle im künftigen Gesundheitssystem zu spielen? Wie stark soll das System ins Ausland wachsen? Wie kann die Politik sich vom allgemeinen Hype um die digitale Transformation lösen und spezifische Anwendungen für das digitale Gesundheitswesen besser fördern? Wie kann sich Innovationsförderung vom Wunsch nach Skalierbarkeit lösen - und neben Einhörnern auch Zebras fördern, die sich am Gemeinwohl orientieren?

Fragestellungen in Bezug auf (Weiter)Bildung

Wie verändern sich die heutigen Berufe im Gesundheitswesen durch neue Technologien? Was wird der Mensch tun und was die Maschine? Welche Tätigkeiten verlieren an Bedeutung, welche werden wichtiger? Welche ganz neuen Tätigkeiten entstehen – zum Beispiel im Bereich der Datenintegration, -analyse oder -ethik? Wie können Mitarbeitenden des heutigen Gesundheitswesens für die Zukunft befähigt und deren Institutionen transformiert werden? Wie können wir Fähigkeiten besser fördern, die Maschinen niemals haben werden?

Fragen in Bezug auf unsere Daten

Wie können wir Personalisierung und Prävention in der Medizin fördern – ohne in Überwachungssystem zu enden? Wie gehen wir damit um dass mehr Daten und deren Zentralisierung mehr Innovation und Macht bedeuten könnten? Müssen wir Kranke und Krankheitsanfällige vor Diskriminierung schützen? Wie können Patienten Eigner ihrer Daten bleiben? Welche Daten-Partnerschaften könnten bestehende Wettbewerber im Gesundheitswesen eingehen, um zu mehr Wissen zu kommen (und eine Chance gegen die Megaplattformen zu haben)? Welche Rolle spielt die Blockchain, um die Daten zu integrieren und zu speichern?

Nicht nur die Vielzahl der Fragen, auch die Schwierigkeit, diese zu beantworten lässt aufhorchen. In der Auseinandersetzung mit der Zukunft sollten wir die Einhörner weder einseitig als Bedrohung noch vorschnell als unbedeutende Fabelwesen abtun. Vielmehr schenken sie uns Hinweise, wohin sich die Welt entwickelt. Als Hoffnungsträger lassen sie eine Zukunft erahnen, in der wir länger, glücklicher und gesünder leben werden. Die Einhörner sind keine Hirngespinste, sie sind längst unter uns.


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