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Tokyo, 2015

Weit weg, wollt ich wissen, wer ich bin.
Hab mich gedreht für Rückenwind, nur gab’s nicht immer was zu holen.
Du atmest auf, alles noch so vertraut.
Stadtrandlichter, tauchen auf.
Und bringen Dich nach Haus.

Clueso, 2014


Es ist ein gigantisches Labyrinth. Ich kenne keine Stadt, welche die Gesellschaft der Optionen besser verkörperte als Tokyo. Man könnte hier wirklich alles erleben, was man sich überhaupt vorstellen kann. Der Perversion, dem Konsum, der Exklusivität sind keine Grenzen gesetzt. Und doch müsste man es eben vermögen, die Möglichkeiten auch Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist die alte Differenz der Multioptionsgesellschaft, mit der man hier zwangsläufig jeden Tag Bekanntschaft macht. Ich schwanke zwischen dem Gefühl der Gelassenheit, dem Stolz der Selbstbeherrschung und der Enttäuschung nicht mit Fremden zu schlafen, unbekannten Drogen zu experimentieren oder bis in die Dämmerung in düsteren Bars herumzuhängen.

Das Labyrinth bin ich selbst.

Es herrscht der milde Winter, den man von der Küste des Mittelmeers kennt. Die Orangenbäume tragen Früchte, vereinzelt blühen Hibiski, überall Immergrünes. Man vergisst in der Unendlichkeit der Häuser schnell, wie nahe das Meer ist. Nicht nur das milde Klima macht das Reisen angenehm. Alles ist mit Farben und Pfeilen gut signalisiert. Die Menschen sind zurückhaltend aber freundlich und entzückt, wenn man ihre Dinge mag. Ihr Englisch scheint mir bei jeder Rückkehr verbessert, aber es reicht kaum für mehr als für den Austausch von Nettigkeiten. Wohin man auch geht, man fühlt sich sicher. Auch in der Enge der Rushhour fürchtet man sich nicht vor Taschendieben oder anderen Unglücken.

Alleine zu reisen ist hier vielleicht besonders einfach, weil die Japaner meist alleine unterwegs sind. Zumindest scheint es so. In den Metros ist es still, es gibt – ausgenommen von Jugendlichen in Schuluniformen – selten Gruppenbildung, die meisten sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Man scrollt sich durch Facebook und Twitter oder spielt ein graphisches Spielchen. Die Restaurants sind darauf ausgerichtet, der Küche entlang, Einzelgäste zu empfangen. Wenn der Koch Zeit hat, sucht er das Gespräch mit seinen Gästen. Ihr Zusammensein wird anderswo stattfinden, in der Familie, einem stillgelegten Ubahn-Schacht, einer Bar im 24. Stock. Ich bedauere nicht dabei zu sein.

Es mag einen Kontrast geben zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Ich empfinde diesen aber nicht als störend. Ordnung und Diskretion werden hier gewiss gross geschrieben. Trotzdem bricht man aus. Selektiver, dezenter, überlegter als bei uns, vermute ich. Die Liebe zur Ordnung spiegelt sich im Design des Alltäglichen, der Signaletik, dem Essen, der Kleidung. Es ist eine holistische Ordnung, die sich von der Organisation des Bahnhofs bis zum Kauf eines Mineralwassers durchzieht. Rituale stiften Sicherheit, vermitteln Zusammengehörigkeit. Das Leben findet im Kleinen statt. Abseits der Hauptstrassen haben die Kaffees und Restaurants zwischen 4 und 10 Tischen.

Ich geniesse es auszuschlafen und erst aufzustehen, wenn der Schlaf sein Mögliches getan hat, um meine Batterien aufzuladen. Es ist 10, manchmal 11, wenn ich beim ersten Kaffee sitze. Es gibt kein Ziel, ausser innerlich zu ruhen, mich für die nächsten Monate, Jahre wieder zu fokussieren. Die Arbeit an Büchern und dem Alltag lässt sich nicht ganz vermeiden. Durch die Arbeit verringert sich aber auch die Gefahr, mich zu verlieren. Ich besuche alte Bekannte (Shibuya, Omotesando) und entdecke neues (Naka-Meguro, Jiyugaoka). Nicht immer kommt das gut. So hat die Reise zur künstlichen Insel Odaibo zwar etwas retro-schickes, aber eigentlich steht man plötzlich in der Trostlosigkeit.

Erstaunlich ist die technologische Rückständigkeit im Land der Roboter. Das Internet ist schlecht, WIFIs in Kaffees sind selten. Der Japan Rail Pass wird auf Papier ausgestellt, dabei muss man als Japaner immer mit einer RFID-Karte einchecken, will man einen Bus, eine Metro oder einen Zug besteigen. Sämtliche Kassen sind noch mit menschlichem Personal besetzt. Das hat wohl auch mit den vielen Minijobs zu tun, die man überall im öffentlichen Raum erkennt. Arbeitslose und Junkies scheint es hier nicht zu geben. Aber gewiss gibt es eine grosse Schattenwelt. Einmal mehr merke ich, wie gerne ich gleichzeitig im Realen und Digitalen lebe, wie sehr ich die digitalen Fortschritte erwarte. Musikstreamen funktioniert genauso wenig ohne Internet wie medienbruchloses Fotografieren oder digitales Kartenlesen.

Durch die Strassen der Topfpflanzengärten zu streifen, fühlt sich an, wie einen guten Freund zu besuchen. In seiner Nähe stellt sich Geborgenheit ein. Weil man sich selten sieht, entdeckt man seine Eigenheiten immer wieder neu. In Restaurants wird geraucht, setzt man sich an einen Nichtrauchertisch, wird man darauf aufmerksam gemacht, dass man hier nicht rauchen darf. Wenn nicht die aktuellen Hits laufen (Nike Town ist eine Diskothek, beliebt auch hier Taylor Swift), vergnügt man sich mit Cover-Versionen (was mit der Zeit nervt). Abfalleimer sucht man im öffentlichen Raum vergebens. An jeder Ecke gibt es einen Lawsons, eine Family Market oder einen 7Eleven, überall derselbe Geruch zu lange gekochter Suppe.

Zurück im Hotel, versuche ich mich nicht digital zu verirren. Auch hier eine endlose Anzahl an Möglichkeiten. Mit Apps sind die Optionen stets griffbereit, immer nur ein paar Schnitte entfernt. Die Wirklichkeit ist ein Bruchteil des Möglichen. Karte und Gebiet, wie Houellebecq betitelt hat – der im übrigen mit Unterwerfung einmal mehr ein wesentliches Werk zur Diagnose des Zeitgeistes beisteuert. Nicht bequem, nicht salonfähig, aber gewohnt vorausschauend. Ich experimentiere mit den neuen, nicht mehr so neuen Medien. Ich schaue zu, wie Walter White Drogen kocht.


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