Tokyo, 2012
Um mi ume verändere sech d’Farbe, aber i bi immer glich
Sophie Hunger, 2012
Schon vor der Abreise war klar, dass es das bei meinem Aufbruch erscheinende neue Album der Sophie Hunger sein würde, das mich in den kommenden Wochen begleiten würde. Nun sind wir zusammen zeitzonenweit von Zuhause entfernt und schreiben das erste Reiseprotokoll nieder. Sie schreibt 30 sei das neue 20, ich nicke und geniesse die Gelassenheit der sich in den letzten beiden Jahren eingestellten Reiseerfahrung. Es fühlt sich gut an, wieder hier zu sein. In Japan, in Tokyo, in der Geborgenheit des Alleinseins. Fast ist es so, als wäre ich nie weg gewesen. Ich erinnere mich an das Gefühl, während sich das Gefühl langsam wieder ausbreitet. Strassenzüge, die ich wieder erkenne. Rituale, die ich pflege. Druck, der sich abbaut.
Der Startschuss folgte am Montag gegen Abend am geliebten Zürcher Flughafen. Ich brach mit meinen Gewohnheiten, die Ferien an der Espressobar zu beginnen und schenkte den Sprünglis im Stock weiter oben eine Chance. Sie haben sie gepackt, auch wenn ein Schockokuss im Miniaturformat den zwei Frankenpreis locker überschritt. An Bord der Emiraten, stellte ich zuerst fest, dass ich nur auf einem Kanal Ton haben würde. Danach machte ich mit einem älteren Schweizer Ehepaar Bekanntschaft. Diese wiederum besuchten ihren in Dubai arbeitenden Sohn (Financial Services?) und hatten ihre liebe Mühe mit dem im Vordersitz eingebauten Flatscreen. Offenbar führte auch die mitgebrachte Lupe nicht zum Ziel. Ich bot zweimal meine Hilfe an und liess es dann trotz regelmässiger Kontrollblicke bleiben.
In der Transferzone in Dubai konnte ich den Sünden nicht widerstehen. Ich hatte solchen Hunger, dass ich freiwillig im güldenen M einkehrte und dann die erstandene US-Ware möglichst unauffällig in meinem Rachen verschwinden liess. Doch der Sünden nicht genug. Zwischen Palmen und Sprinkelbrunnen wartete die Heineken Lounge auf meinen Besuch – wo ich im sündenvollen Netz erfuhr, dass Bill und Tom von Tokyo Hotel nächstes Jahr neben Dieter Bohlen in der DSDS Jury sitzen würden, Dirk Back gestorben und GC der neue Leader der Super League ist. Vielleicht befindet sich in dieser Lounge im Nirgendwo der Wüste, in dieser Heimat simulierenden kapitalistischen Kapelle, das wahre Zentrum der Globalisierung. Man streichelt sein Smartphone, um ein Instagramm auf Facebook hochzuladen. Man zieht lässig seine Visa durch die Scheide des Kapitalismus, um die begangenen Sünden vergessen zu machen.
Ein Riesenvogel erledigte den Rest der sündhaften Reise in die Ferne. Man sitzt im A380 und merkt eigentlich nicht, dass man in einem Flugzeug sitzt. Ausser wenn der Nachbar über einem steigt, um seine Blase zu leeren, wenn man erkennt, dass das Schlafen in einem Sessel doch nicht so gemütlich ist oder wenn alle Durchsagen mindestens in drei Sprachen gemacht werden müssen (wenigstens in zwei unverständlichen). Es ist kein fliegender Teppich, aber ein fliegendes Wohnzimmer. Dass ich mich nicht mehr lückenlos an das genossene Unterhaltungsprogramm erinnern kann, sagt alles über die zugeführte Unterhaltung. In Tokyo angekommen, halfen die Erfahrungen des letzten Besuches, um mich rasch zurechtzufinden. Narita Express, zweimal Metro und dann vom Glück gesegnet, dass sich der gewählte Ausgang der Metro zufällig vis-à-vis vom Hotel befand.
In zwei Tagen und einem Abend bin ich für über 30 Franken U-Bahn gefahren. Ich fuhr zum 450 Stockwerke hohen Skytree, wo ich schnell wieder den Lift nach unten nahm und zum Shopping, wo ich nach ein paar Läden zur Erkenntnis kam, das ich eigentlich alles habe, was ich brauche. Endlich bin ich auch in Tokyo Boot gefahren, entlang der Skyline, entlang zahlreicher unauffälliger kleiner Häuser. Die Fahrten durch Tokyo folgen dem Instinkt, ich orientiere mich an Quartieren und Metrostationen. Ich verzichte auf Karten, lasse mich treiben, reise so, als würde ich im Internet surfen. Ab und zu kehre ich an einen sicherheitsstiftenden Fixpunkt zurück, um eine Pause zu machen, um den nächsten Schritt zu planen. Ich habe in den letzten Tagen viel gesehen und trotzdem bin ich im Vergleich zu meinen ersten Reiseversuchen freier geworden. Ich hetze mich weniger und gönne mir Momente in einem Kaffee, in denen ich innehalte, beobachte, an einem Text arbeite.
Warum es mir hier so gefällt? Weil der Stil streng und nüchtern ist, aber Ausbrüche erlaubt sind - so ist die Spannweite der getragenen Mode zum Beispiel wesentlich grösser als zu Hause. Weil alles so gut organisiert und beschriftet ist. Weil zwischen den Hochhäusern immer wieder ein geordneter Garten aufkreuzt. Weil die Japaner bescheiden und zurückhaltend sind. Weil die Menschen nur dann sprechen, wenn es wirklich sein muss und gleichzeitig freundlich und hilfsbereit sind. Weil man nicht gafft und die seltenen Augenkontakte im Gegenzug ehrlich und tief sind. Weil die Patisserie vorzüglich ist. Weil man sich beim Abschied vor seinem Gegenüber verbeugt. Weil man immer wieder auf Kuriosa trifft: Geheizte WC-Ringe, Männer mit Dauerwelle, durch die Strassen fahrende Lastwagen, die lautstark die neusten Songs von japanischen Stars bewerben, künstliches Gezwitscher im U-Bahnhof.
Die Zeit hier tut mir gut. Ich finde zu mir. Nicht weil ich meilenweit von zu Hause entfernt bin. Sondern weil ich Zeit für mich habe, um die Dinge zu ordnen, um Abstand zu nehmen – ohne auf niemand und nichts Rücksicht nehmen zu müssen. Ich habe meine in Norwegen begonnene Tradition fortgesetzt, meine Reisen durch Nadeln unter der Haut festhalten zu lassen. Das hilft, den Moment zu dehnen, das Innere zu ordnen und Land und Leute kennenzulernen. Das will man doch mit seinen Ferien, das Prozessuale des Lebens fühlen, intensivieren und sich der Illusion hingeben, dass alles ewig dauern könnte.