Tokyo, 2010
Vor zwei Tagen hätte ich mich zu einem Liebesbrief hinreissen lassen. Ich war in Ekstase, erfüllt und satt voll von Begeisterung. Heute verbleibt nur noch die Erinnerung an die Verliebtheit des Moments. Ja, Du bist grossartig. Du bist nicht hübsch, aber Du bist schön. Deine vielen Unschönheiten formieren sich zu einer beeindruckenden Schönheit. Du hast Deine Eigenständigkeit in diesem weltumspannenden Zeitalter behalten können. Ich habe Dich von vielen Seiten betrachtet, ich habe mich in Deinen Strassen vom Moment und der Neugierde treiben lassen. Ich habe meine Angst niedergelegt und bin Dir in die Gassen der Gassen der Gassen gefolgt. Nicht bis zum Untergrund, aber bis dorthin, wo die letzten Touristen verschwunden sind. Bis dorthin, wo Du einzig Du selbst sein kannst.
Ich hatte mich in Dich verliebt, weil Du einzigartig bist. Du bist trotz Deiner Grösse eine ruhige Stadt geblieben. Die Hektik der Zeit erträgst Du mit Gelassenheit. Du bist nicht Teil eines Regimes, in dem man Angst haben muss, einen falschen Schritt zu tun oder ein falsches Wort in den Mund zu nehmen. Du bist frei. Du schenkst und erhältst Vertrauen. Deine Bewohner sind freundlich. Sie lassen mich aus den unterirdischen Bahnen aussteigen. Noch in Shanghai musste ich meinen Platz im Wagon strategisch wählen, um sicher zu sein, an der richtigen Station aussteigen zu können. Deine Bewohner grüssen und lächeln mich an. Sie danken und lassen mich ungebeten ihre Speisen kosten. Sie pflegen sorgsam ihre Gärten, die aus nicht mehr als einigen Blumentöpfen bestehen.
Während ich durch Deine Adern streifte, entdeckte ich Deine unterschiedlichen Charakterzüge. Du hast erst gerade begonnen, die Wolkenkratzer in die Höhe zu ziehen, die einst Deinen Status markieren werden. Deine Gärten sind fein säuberlich, kaiserlich. In den Konsumalleen glitzert es, nicht so prunkvoll wie bei Deinen Nachbarn, aber es glitzert. Auch Du hast Dich mit den Tempeln des globalen Luxus geschmückt. In der Nacht fühle ich mich wie im Rausch. Aber sobald man Deinen Hauptstrassen den Rücken zuwendet, trifft man auf Deine Natürlichkeit. Du bist asiatischer und westlicher als die anderen besuchten Städte zugleich. Westlicher, weil die Umgangsformen dieselben wie bei uns sind. Asiatischer, weil Du Deinen Stil behalten hast. Ich mag Deine kühle Gradlinigkeit. Was Dich auch noch auszeichnet: Die Telefonkabel in den Lüften, der Automat für jedes Bedürfnis, die Verbundenheit Deiner Bewohner mit ihren Gerätschaften, die Qualität Deines öffentlichen Verkehrs, Deine Selbstzufriedenheit und die damit verbundene Möglichkeit, etwas Unperfektes stehen zu lassen.
Mit der steigenden Hitze, meiner Schlaflosigkeit und der Zuwendung an meine Rückkehr in die Heimat habe ich meine Liebe zu Dir verloren. Die Liebe des Augenblicks hat sich verflüchtigt. Tokyo, Du bist anstrengend. Deine Adern sind unendlich. Man verliert sich in Dir wie in einem Labyrinth. Dein unterirdisches Netz ist fantastisch engmaschig, aber es führt mich nie zum ruhenden Pol. Du lässt mich trotz Deinen vielen Gärten nicht zur Ruhe kommen. Ich fühle mich gedrängt, wie unter Strom. Ich fühle einen Drang, sofort in den nächsten Schacht zu steigen und irgendwohin zu fahren. Nur fort, irgendwo fort. Deine Quartiere sind verschieden und doch ähneln sie sich. Irgendwann habe ich das Gefühl immer wieder an den selben Punkt zurückzukehren. Immer trägst Du Leuchtreklame, immer sind die Häuser mittelhoch und mittelfarbig, immer riecht es nach gekochtem Fisch, immer sind Menschen in Deiner Nähe. Deine Bewohner tragen grau, blau, weiss und schwarz. Sie sind schön (weil sie westlich sind?) - aber wann werden sie bunt und wann flippen sie aus? So vieles an Dir ist gemässigt. Und überall Birkenstöcke, überall Kopfhörer, überall Klapphandies, überall Fahrräder, überall Fussgängerinnenstreifen, überall Bewohner, überall drückend schwüle Hitze. Umarme mich nicht mehr. Ich will alleine sein.
Trauere nicht meiner Liebe nach. Ich verlasse Dich in bester Erinnerung und währt Freundschaft nicht länger als die Heftigkeit der innigen Liebe? Du bist die letzte Station meiner kurzen Entdeckungsreise am anderen Ende meines, unseren Kontinents. Hüte Deine Einzigartigkeit und Deine Schönheit. Bewahre Dein Selbst und mach Dich nicht publik. Sonst werden Dir die Touristen schneller als Dir lieb ist, den Raum zum Atmen nehmen. Ich verabschiede mich, wohl wissend, dass mein Besuch keine Selbstverständlichkeit war. Ich werde kein Fazit zu meiner Reise ziehen. Das Leben ist selbst eine Reise. Eine Bewegung, die immer und immer weiter geht. Ich werde wieder kommen.