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Von Tinder bis Startrek – Neue Organisationen für eine Wirtschaft der Netzwerke

Mit Illustrationen von Karsten Petrat

Grenzen heutiger Organisationsformen

Dass die Netzwerkwirtschaft neue Organisationsformen braucht, darüber ist man sich schon seit einiger Zeit im Klaren. Seit längerem verharren die Diskussionen rund um die Zukunft der Arbeit jedoch auf der Ebene des Raums. Veränderungen fallen hier sofort ins Auge und markierten sichtbar den Willen, neu zu denken. Zudem halten sich die Anforderungen an ein neues Verhalten in Grenzen. Nun aber wird es ernster. Die Organisation der Arbeit rückt in den Vordergrund, den klassischen Organisationsformen wird mehr oder weniger deutlich das Ende nachgesagt. Erstens gelten sie als teuer – führt doch das Schachbrett von Hierarchien und Abteilungen zu einem horrendem Abstimmungsbedarf. Im Arbeitsalltag spiegelt sich dieser in Sitzungs- und E-Mail-Marathons. Neben Zeit (und damit Geld) kosten uns veraltete Organisationsformen viel Energie. Die heutigen Strukturen und die daraus folgenden Abläufe ersticken Freiräume und Kreativität, lassen uns kaum noch Zeit, um inhaltlich zu arbeiten. Hierarchien drosseln zudem die Veränderungsgeschwindigkeit – wenn alles abgesegnet und synchronisiert werden muss, wenn letztendlich alle Entscheidungen von der Geschäftsleitung getroffen werden müssen.

Neben dem Kosten spielt auch das Menschenbild eine Rolle für die Konzeption neuer Organisationsformen. Bisher wird der Mensch als Rad, als Element einer grossen Maschinerie verstanden. Er gilt als führungsbedürftig, erhält als einfacher Mitarbeitender kaum Möglichkeiten, um sich einzubringen und zu entfalten. Im Zweifelsfall wird er seine Freiheiten missbrauchen, man kann ihn aber auch problemlos ersetzen. Dieses Menschenbild orientiert sich an (mechanisch industriellen) Arbeit. Wie am Fliessband, sollen klar definierte Arbeitsschritte zu klar definierten Ergebnissen führen. Doch je mehr die Maschinen Teil der Wirtschaft werden und repetitive Arbeitsschritte eliminieren, desto weniger taugt die Fliessband-Metapher. Im Gegenteil, komplexe Problemstellungen verlangen flexibles Arbeiten, Experimentieren, ständige Veränderung. Iteratives Vorgehen steigert die Qualität, Feedbacks erlauben es, aus Fehlern zu lernen, zugezogene Externe schaffen Perspektivenwechsel. Kreativität und Beziehungen, die wichtigsten Ressourcen heutiger Unternehmen, halten sich nicht an Grenzen.

Neue Organisationsformen

In der Folge werden zwölf Ideen für neue Organisationsformen vorgestellt. Der Zugang ist verspielt, karikierend. Um den Überblick in der Vielfalt zu behalten, werden die Entwürfe vier Gruppen zugeteilt. Die vorgestellten Typen sind Skizzen, Fantasien, Prototypen. Sie lassen sich dadurch unterscheiden, dass sie jeweils ein anderes Verhältnis zur Zukunft in den Blick nehmen:

Die Gedankenspiele docken an die Realität an, wollen aber Entwicklung anregen. In vielen Unternehmen scheint die Lage gegenwärtig angespannt. Es fehlt an Befreiungsschlägen und visionären Ansätzen, um Organisation neu zu denken. Die vorgestellten Typen möchten unsere Organisationen von administrativem und politischem Ballast befreien – und dadurch innovativer, veränderungsfähiger, antifragiler machen. Gleichzeitig sind sie der Versuch, Unternehmen zu denken, die kreativere, sinnvollere und weniger administrative Arbeit ermöglichen. Sie zeigen, wie letztlich Arbeit neu gedacht wird. Sie soll uns weniger belasten, glücklicher machen. Neben ökonomischen Zwängen sollen unsere Leidenschaften und Potenziale Platz haben.

Retro-Organisationen

Um Komplexität und Beschleunigung der Gegenwart zu meistern, greifen sie auf etablierte Strukturen der Vergangenheit zurück

1 Die Burg

In Zeiten der Komplexität, Verunsicherung, Sorge und Statusangst steht die Burg stellvertretend für eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen. Hier gibt es klare Hierarchien, Abteilungen, Informationswege, Verantwortungsbereiche und Meilensteine auf dem Weg in die Zukunft. Die Geschlechterbilder, die Kleiderordnung und die Verwendung der Sprache sind eindeutig definiert. Das gesamte Personal der Burg richtet sich am Führungsgremium und seinen Anordnungen aus. Dieses kennt den Zustand der Burg ebenso genau wie deren Zukunft. Basierend auf diesem Wissen erlässt das Management klare Anweisungen, wie diese zu erreichen ist. Ziele werden zerlegt und nach unten gereicht. Die Burg setzt räumlich und zeitlich auf klare Verhältnisse. Alle Mitarbeitenden haben ihre Zellen, in denen sie ungestört arbeiten können. Je höher jemand in der Hierarchie steigt, desto weiter oben im Gebäude befindet sich das Büro, desto geräumiger ist die Zelle, desto weniger muss der Raum, die Kaffeemaschine oder die Assistenz mit jemandem geteilt werden. So sehr es innerhalb der Mauer zur Sache geht, Arbeit am Feierabend und am Wochenende ist nicht erwünscht. Je näher man am König ist, desto mehr vertrauliche Informationen erhält man, desto mehr sieht man das grosse Ganze. Der König, in seltensten Fällen die Königin, ist selbstverständlich die informierteste Person der Burg. Es versteht sich von selbst, dass jede Entscheidung über ihren Tisch gehen muss. Nur professionellen Hofnarren ist es gestattet, den König ins Lächerliche zu ziehen. Aber wehe, die Kritik ist zu scharf…

Die Burg eignet sich für Unternehmen, die keine Veränderung anstreben, die Macht ihrer Könige schützen wollen und ein klares Feindbild haben; die Retro-Chic betreiben – und Vernetzung, digitale Transformation und neue Bilder der Mitarbeitenden, der Arbeit und der Führungskräfte für einen Hype halten.

2 Das Kloster

Das Kloster verschreibt sich ganz dem Deep Work. Ins Kloster wird geschickt, wer in den Fesseln des Alltags zu wenig Zeit hat, um ein Problem zu lösen, Innovation voranzutreiben oder gar eine Vision zu entwickeln. Das können Managerinnen ebenso sein wie Wissensarbeiter, Forscher oder Querdenkerinnen, die in einem Think Tank zusammenfinden. Das Kloster erlaubt, Fragestellungen in Ruhe zu reflektieren und gründlicher zu durchdringen – ohne Druck, Lärm, soziale Medien, Sitzungen. Das erlaubt, sich vom Alltag zu distanzieren und in einer Parallelwelt zu entfalten. Dort sind alle Gedanken erlaubt. Abgeschottet haben die Klosterbewohner endlich Zeit, das Denken wird nicht mehr gleichgeschaltet. Sie unternehmen Spaziergänge, üben sich in Meditation und den Arbeiten, die nötig sind, um sich selbst zu versorgen. Stille fördert kreative Einfälle, unterstützt die Arbeit am Selbst und dessen Beziehungen. Das Spirituelle verschmilzt mit den Denkaufträgen und der Selbstreflexion. Im Kloster stossen die Insassen immer wieder an ihre Grenzen. Das Fehlen von Reizen ist ebenso ungewohnt wie die konstante Auseinandersetzung mit dem Selbst. Die gewohnten sozialen Rollen funktionieren hier nicht mehr, alle sind gleichwertig, haben die gleichen Rechte und Pflichten. Es liegt in der Verantwortung der Klosterbewohnerinnen, die entwickelten Gedanken durch Schriften und Gespräche in die Welt zu tragen. Was aber in den Mauern des Klosters stattgefunden hat, werden stets nur dessen Insassen wissen. Ausschweifende Partys mit selbstgebrautem Bier befinden sich ebenso im Bereich des Möglichen wie Wochen der Stille.

Das Kloster eignet sich für Unternehmen, die Klarheit über ihren Sinn und Zweck gewinnen wollen beziehungsweise vor grossen Veränderungen stehen; deren Mitarbeitenden es im Tagesgeschäft nicht gelingt, Probleme wirklich zu lösen, aus neuen Perspektiven zu denken und sich von Konventionen zu verabschieden.

3 Die Manufaktur

In der Manufaktur stehen der Mensch, seine Bedürfnisse und handwerklichen Fähigkeiten im Vordergrund. Auf Skalierbarkeit, Effizienz und Wachstum der Digitalwirtschaft wird gepfiffen. Alles ist von Menschenhand gemacht, das Menschliche wird zelebriert und multipliziert. Man verschreibt sich der Gegenkultur des effizienz- und wachstumsgetriebenen Kapitalismus. Langsam, natürlich und algorithmenfrei geht es zu. Unikate, Gefühle und Zufälliges sind gefragt. Statt Daten wünscht man sich das Nicht-Vermessbare. Maschinen werden nur selten und dann ganz bewusst eingesetzt. An das Internet werden sie nicht angeschlossen. Damit setzt die Manufaktur auf den Offline-Trend, die gegenwärtig spürbare Skepsis gegenüber künstlichen Intelligenzen, Beschleunigung, Datensammlern und Plattformkapitalisten. In diesem Gegenentwurf der Maschinenwirtschaft rückt Postdigitales in den Vordergrund. Die Manufaktur weiss, dass es jenseits der Digitalisierung noch andere Trends gibt. In der Nicht-Perfektion des menschlichen Handwerks sieht die Manufaktur die wahre Qualität angebotener Güter. Man folgt damit auch dem Bedürfnis der Menschen nach sinnstiftender, sichtbarer und nicht-entgrenzter Arbeit. Am Ende eines Arbeitstags soll man das Produzierte sehen, fühlen, spüren, wenn möglich gar in den Händen halten können. Die Manufaktur verschreibt sich der lokalen Zusammenarbeit ebenso wie dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Rohstoffe werden regional bezogen, Abfälle als Ausgangspunkt von etwas Neuem verstanden. Kunden sind mehr als Geldgeber, Mitarbeitende mehr als Ideengeber.

Die Manufaktur eignet sich für Unternehmen, die etwas Sinnliches, Handfestes produzieren; die sich mit dem Lokalen, Nicht-perfekten, Nachhaltigen profilieren wollen.

Multi-Tempi-Organisationen

lassen mehrere Arbeitsformen und Typen von Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Kulturen zu

4 Das Starlabor

Das Starlabor folgt der These, dass der Erfolg einer Organisation von wenigen Mitarbeitenden abhängt. Ihre Stars performen übermässig besser als alle anderen Mitarbeitenden und bewirken dadurch mehr Innovation, mehr Vernetzung, mehr Einfluss, mehr Klicks, mehr Gewinne. Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, sind kreativer, besser vernetzt. Potenziale zur übermässigen Differenzierung bestehen vor allem bei nicht-repetitiver Arbeit und offenen Aufgaben – bei Filmemacherinnen, Fussballspielern, Wissenschaftlerinnen. Mit dem Starstatus geht eine Abwertung der Teamarbeit einher. Nicht das Team erbringt die entscheidenden Beiträge, sondern ideenreiche Einzelspieler. Besonders wichtig sind sie, um Innovation zu erarbeiten und verbreiten. Starlabors setzen ihre Stars nicht zwingend an ihre Spitze und auch nicht immer in den Vordergrund. Sie wissen, dass Fachexperten, Influencer, repräsentierende Persönlichkeiten und Coaches mit anderen Fähigkeiten brillieren und dass Exponieren zum Abwerben führt. Das Labor optimiert die Bedingungen für Einzelspieler – steht dabei aber vor der Herausforderung, weder dem Geniuskult zu erliegen noch den Anderen zu signalisieren, dass sie unwichtig sind. Im Idealfall gelingt es, die Stars so einzusetzen, dass die Mitspieler von deren Leidenschaft und Leistungsfähigkeit profitieren. Konkurrierende Starlabore wissen, wie heikel ein Transfer von Stars in andere Teams, Projekte oder Organisationen ist, beruht doch deren Wirksamkeit wesentlich auf dem Umfeld – also der Art der Aufgaben, den Bewertungskriterien, Räumen, Hilfsmitteln, Zulieferern, Coaches und Stimmungen. Es geht also doch nicht nur um wenige Einzelne.

Das Starlabor eignet sich für Unternehmen, die einen hohen Anteil an Arbeiten haben, für die Kunden bereit sind, überdurchschnittlich viel zu bezahlen; bei denen die Leistung einzelner Mitarbeiter direkt für die Kunden sichtbar ist.

5 Lonely Wolves

Auch die Organisationsform der Lonely Wolves bricht mit den gängigen Vorstellungen von Teamarbeit. Statt Zusammenarbeit und Partizipation zu verherrlichen, legt sie den Fokus auf die Verzahnung von Einzel- und Teamarbeit. Das Szenario folgt der These, dass das erfolgreiche Problemlösen einerseits von fokussierter Einzelarbeit und anderseits von der Art der Vernetzung der richtigen Menschen im richtigen Moment abhängt. Die einzigartigen Fähigkeiten aller Beteiligten sollen möglichst gut erkannt und eingebracht werden können. Die Mitarbeitenden arbeiten weitgehend selbstständig. Für ihre Einzelarbeit finden sie ideale Bedingungen vor, die Kreativität und Deep Work fördern – ähnlich wie im Kloster. Genauso wichtig wie die Einzelarbeit sind Feedbacks. Diese können inner- und transdisziplinär im Unternehmen stattfinden, aber auch über dieses hinaus gehen und Organisationsgrenzen überwinden. Für wirksame Feedback-Schlaufen müssen die richtigen Menschen aufeinandertreffen und Gespräche mit hoher Qualität stattfinden – sonst finden keine Lerneffekte statt. Dazu führt die Lonely-Wolves-Organisation vordefinierte Gefässe (zum Beispiel Workshops, Austausch, Inszenierungen, Brainstormings) ein. Taskmanagerinnen definieren, welche Aufgaben anstehen. Profilerinnen erkennen die spezifischen Fähigkeiten der Mitarbeitenden. Matcherinnen setzen Arbeitsgruppen gemäss ergänzenden Fähigkeiten und Persönlichkeiten zusammen. Moderatoren organisieren Meetings in geeigneten Räumlichkeiten und gesalten diese. Coaches lösen durch Feedbacks Lern- und Entwicklungsprozesse aus. Wertschätzer fragen nach, verwöhnen, stellen auf. Supervisoren bewerten und vernetzen Projekte.

Die Lonely-Wolves-Organisation eignet sich für Unternehmen, die einen hohen Anteil an Forschung und reflexiver Wissensarbeit haben; die sehr unterschiedliche Berufsbilder beziehungsweise Kompetenzen vereinen.

6 Die bimodale Organisation

Die bimodale Organisation ist eine zurzeit häufig gewählte Struktur, um rasch auf Veränderungen zu reagieren. Man unterscheidet zwischen dem Run- und Change-Modus mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während man im hierarchischen Run das Tagesgeschäft abarbeitet, zielt der Change-Modus auf Innovation. In Projekten werden neue Produkte erfunden, Prozesse re-definiert und das Selbstverständnis umgekrempelt. Mit frischem Geist und in unkomplizierten Strukturen will man sich auf neue Technologien und Konkurrenten vorbereiten. Doch so einfach die Idee klingt, ein paar Mitarbeitende für die Innovationsarbeit zu delegieren (wahlweise ganz oder tageweise), so delikat ist die Umsetzung. Zunächst ist das Auswählen der richtigen Fragestellungen in den Change-Modus heikel. In klassischen Hierarchien wird die Spitze darüber befinden, welche Projekte im agilen Teil der Organisation abgearbeitet werden. Doch stimmt diese Auswahl und wann ist sie wie zu überprüfen? Noch schwieriger ist die Übertragung gewonnener Erkenntnisse ins Tagesgeschäft. Die Bimodalität offenbart sich schliesslich vielerorts als eine Scheinlösung,* durch die darüber hinaus Brüche in der Kultur drohen. Die Mitarbeitenden im Run-Modus fühlen sich nicht wertgeschätzt. Im Change ist man frustriert, weil die erarbeiteten Ideen nicht umgesetzt werden. Die Mitarbeitenden sind häufig so leidenschaftlich bei der Arbeit, dass sie auszubrennen drohen. Es entstehen rivalisierende Subkulturen. Die Problematik verschärft sich, wenn die Mitarbeitenden des agilen Organisationsteils verstärkt durch altmodisch ausgeübte Macht nicht mehr glauben, die Stammorganisation verändern zu können. Dann drohen neben Burnouts Abwanderungen – weil Karrieremöglichkeiten und Entwicklungspfade für diesen Typus von Mitarbeitenden fehlen. Aus diesen Abwanderungen kann sich neue Konkurrenz formieren, nehmen die Verheizten doch sehr viel Wissen über Defizite und Innovationspotenziale mit.

Die bimodale Organisation eignet sich für Unternehmen, die vielen Veränderungen ausgesetzt sind und nach innen rasch den Willen zur Veränderung sichtbar machen wollen; die zwischen einem Fabrik- und einem Kreativteil der Organisation unterscheiden können.

*Die bi-modale Organisation ist deshalb eine Scheinlösung, weil man unbequeme Entscheidungen (insbesondere im Hinblick auf Personalabbau und Ressourcenallokation) aufschiebt und die entstandenen Doppelspurigkeiten durch einen schnellen und langsamen Organisationsteil (für zwei Marketing-, zwei HR-Verantwortliche etc.) irgendwann abbauen muss. Die Karikatur der bimodalen Unternehmung ist die Matrioschka-Organisation, bei der in jede Einheit eine Innovationsabteilung oder eben ein Change-Modus hineingebaut wird. Ein weiteres Problem sind die Unklarheiten in der Strategiearbeit. Ist der agile Teil der Organisation eigentlich eine Ausführungsorganisation oder hat er Befugnisse, um die Strategie Bottom-up mitzugestalten? Um die Defizite bimodaler Organisationen aufzulösen, sind Rotationen zwischen Run- und Change-Modus, das Zelebrieren der gemeinsamen Kultur oder HR-Partnerschaften mit anderen Organisationen, zum Beispiel bei Entwicklungspfaden und unternehmensübergreifenden Projektbörsen, denkbar.

Emergenzorientierte Organisationen

lösen sich vom Prinzip der deduktiven Steuerung und vertrauen auf Selbstorganisation, die Zukunft ergibt sich zufällig aus der Gegenwart

7 Die Tinder-Organisation

Um die Tücken der bimodalen Organisation zu umgehen und trotzdem Veränderung zu ermöglichen, sind radikalere Ansätze gefragt. In der Tinder-Organisation existieren keine Strukturen im herkömmlichen Sinn mehr. Vielmehr ergeben sich diese ständig neu, je nachdem, wer in welchen Projekten zusammenarbeitet. Um ihre Strukturen hervorzubringen, steht eine Plattform mit Projekten und Kompetenzprofilen zur Verfügung. Statt um attraktive Frauen und Männer, tindern deren Nutzerinnen und Nutzer um spannende Projekte. Dafür muss sämtliche repetitive Arbeit an Maschinen delegiert und das mittlere Management eliminiert werden. Die Arbeit, die dann übrigbleibt, erfordert Kreativität. Mitarbeitende wählen ihre Projekte gemäss dem Lustprinzip und ihren Fähigkeiten. Die Strukturbildung beziehungsweise die Verteilung der Arbeit wird von Algorithmen unterstützt, welche die Expertisen, Fähigkeiten und Netzwerke der User erkennen und zur Selbstreflexion anregen. Sie empfehlen, wer im Sinne eines «Perfect Match» zusammenarbeiten könnte. In einer Tinder-Organisation werden Teams oder Fähigkeiten folglich ständig neu zusammengestellt. Das Tindern etabliert dynamische Preise. So kann eine unbeliebte Tätigkeit plötzlich sehr gut bezahlt sein. Unter dem Strich führt dies zu induktiver (statt wie bisher üblich) deduktiver Organisationsentwicklung. Im Voraus ist völlig unklar, wer mit wem zusammenarbeiten und was daraus hervorgehen wird. Je mehr sich die Organisation dem Prinzip der Selbstorganisation verschreibt, desto mehr werden die Mitarbeitenden die Projekte definieren und nach und nach das Management verdrängen.

Die Tinder-Organisation eignet sich für Unternehmen, die viel repetitive Arbeit an Maschinen delegiert haben und voll auf die kreativen Potenziale ihrer Mitarbeitenden setzen; die nicht mehr daran glauben, dass Managerinnen Inhalte und Strukturen der Zukunft voraussehen können.

8 Die Star-Trek-Organisation

Die Star-Trek-Organisation setzt auf fixe Teams, die gemeinsam in unbekannte Welten vorstossen. Man verbringt viel Zeit auf engem Raum, was die Gruppen entsprechend zusammenschweisst. Alle bringen ihre Persönlichkeit ein, trauen sich, authentisch zu sein, und respektieren die Expertise der anderen Teammitglieder. Solchen Gruppen fehlt zwar die Stimulierung von aussen. Dafür verlieren sie keine Zeit, um sich warm zu laufen und ein hohes Performance-Niveau zu erreichen. Man kennt sich von früheren Expeditionen, ist mit den Stärken und Schwächen der anderen vertraut, hat sich auf Kommunikationsformen, -gewohnheiten und -plattformen geeinigt. Es gibt keine Rangelei um Einfluss und Status. In der Star-Trek-Organisation bewerben sich statt Einzelpersonen ganze Teams. Das setzt Algorithmen (oder altmodischer eine Booking-Agentur) voraus, um Teams und Projekte zu vernetzen. Zunächst muss die Star-Trek-Organisation aber rekrutieren und erkennen, wer ideal zusammenarbeitet. Beim anfänglichen Zusammenstellen der Expeditionsteams kann die Flotte wieder auf Algorithmen oder Menschen setzen, um die richtigen Fähigkeiten und Persönlichkeiten zu vernetzen. Neben dem Mut zur Diversität braucht es Instrumente, welche die Teams und ihre Mitglieder in der Selbstreflexion anregen. Offen bleibt die Frage, wer die Projekte der Sternenflotte vorgibt.

Die Stark-Trek-Organisation eignet sich für Unternehmen, die stark projektorientiert oder in Mandaten arbeiten; die als Expertenorganisationen eine hohe Interdisziplinarität aufweisen.

9 Das Ökosystem

Im Ökosystem verliert das einzelne Unternehmen gegenüber dem Verbund an Bedeutung. In diesem teilen sich mehrere Unternehmen den Zugang zu Kunden, Maschinen, Daten. Auch die Fähigkeiten der Mitarbeitenden und künstlichen Intelligenzen teilt man sich. Das Zusammenwachsen erfolgt vor dem Hintergrund steigender IT-Kosten, aber auch um sich gegen die Macht der Megaplattformen aus China und dem Silicon Valley abzusichern. Gemeinsam ist man stärker, agiert man kostengünstiger, ist man innovativer. In der Zusammenarbeit sind ganze neue Kombinationen von Fähigkeiten, Daten, Materialien und Perspektiven möglich. Geht es um Effizienz, teilen sich die Unternehmen nicht nur strategische Ressourcen, sondern auch Service-Bereiche wie das Controlling und Recruiting. Ein unternehmensübergreifendes HR hat den Vorteil, den Mitarbeitenden Projektbörsen, Trainee-Programme und Entwicklungspfade bei mehreren Arbeitgebern (und damit Kontexten und Branchen) anbieten zu können. Der Verlust der Organisationsgrenzen löst neben Governance-Fragen einen zusätzlichen Mindshift aus. Im neuen Paradigma ist Teilen wichtiger als Besitzen, Zugang wichtiger als Geheimnis.

Das Ökosystem eignet sich für Unternehmen, die sich gemeinsam Kosten für IT oder Dienstleistungsbereiche teilen wollen; die ihre Daten, Fähigkeiten, Maschinen und künstlichen Intelligenzen zusammenlegen wollen.

Beschleunigende Organisationen

wollen die Gegenwart rasch hinter sich lassen, in kurzer Zeit Szenarien der Zukunft erarbeiten

10 Die Roboterfarm

In der Roboterfarm gibt es weder mittleres Management noch Langeweile. So viel Arbeit wie möglich wird an Maschinen delegiert, an Roboter, Drohnen, Automaten und künstliche Intelligenzen. Sie arbeiten schneller und präziser, leiden nicht an Konzentrationsschwächen, Stimmungsschwankungen und Burnouts. Die Roboterfarm strebt Netzwerkeffekte und eine möglichst hohe Skalierbarkeit der Leistungen an. Auch deshalb wird möglichst viel Technologie eingesetzt. Nur die Arbeit der Maschinen kann man beliebig kopieren und beschleunigen, Konflikte im Team gibt es auch nicht. Zwecks Steigerung der Effizienz wird gleichzeitig möglichst viel Arbeit an die Kunden verlagert. Das spart Kosten und schafft neue Potenziale der Individualisierung. Schon jetzt sind wir als Ticketkäufer, eBankerinnen, Influencer und Datenlieferantinnen tätig. Bald packen wir als arbeitende Patienten und Bürgerinnen an. Die übriggebliebenen Menschen im Roboterpark kontrollieren die Maschinen und entwickeln diese weiter – zumindest solange, wie diese noch nicht selbst innovieren können. Die Maschinen arbeiten selbstorganisiert, sind gleichberechtigt und teilen ihre Erkenntnisse in Sekundenbruchteilen. Gesteuert werden sie von den Daten der Kunden, der Lebenszweck der Maschinen ist es, diese glücklich (und deren Besitzer reich) zu machen. Roboter sind anspruchslos. Deshalb stehen die Farmen dort, wo deren Haltung günstig und sicher ist – weit unter der Erde, in einem sicheren Bunker. Schon bald organisieren sie sich mit Kryptowährungen selbst, tauschen Kurierdienste gegen Sonnenenergie.

Die Roboterfarm eignet sich für Unternehmen, wo der menschliche Kontakt für die Wertschöpfung nicht zwingend oder gar irrelevant ist; wo die Arbeit der Menschen keinen Mehrwert gegenüber der Arbeit einer Maschine erbringt.

11 Die Hochfrequenz-Organisation

In der Hochfrequenz-Organisation werden in hoher Geschwindigkeit neue Produkte auf den Markt gebracht. Um in der verlangten Menge zu produzieren, laufen stets mehrere Entwicklungsprozesse gleichzeitig. Wenn nicht alles ein Hit wird, ist dies kein Drama. Sowohl die Belegschaft der entwickelnden Teams als auch der konzeptualisierenden, orchestrierenden, vermarktenden Verwaltung wird regelmässig ausgetauscht. Die Organisation erhofft sich durch die Rotation innerhalb der Branche einen regelmässigen Neuanfang, die Chance zur Neupositionierung sowie eine Auffrischung mit neuen Ideen. Um das Kartenhaus nicht zum Einsturz zu bringen, braucht es einen Teil der Belegschaft, der für Identität und Konstanz sorgt. Es sind in der Regel Mitarbeitende, die unsichtbar bleiben. Sie stellen gewissermassen das Gerüst dar, während der von der Öffentlichkeit wahrgenommene sichtbare Staff permanent wechselt. Wir kennen diese Organisationsform von Technologiekonzernen, die alle paar Wochen mit Updates und alle paar Monate mit neuen Geräten aufwarten. Noch etablierter ist das Konzept im Theater, wo im vordefinierten Rhythmus neue Produktionen uraufgeführt werden. Auch Fussballvereine könnten durch die Rotation von Spielern und Trainern dem Typus der Hochfrequenz-Organisation zugeordnet werden. Vielleicht gehören Kliniken und Hotels ebenfalls diesem Organisationstypus an, werden doch auch hier in rotierenden Konstellationen Erlebnisse produziert. Typisch für solche Organisationen ist ein pragmatischer Umgang mit Fehlern. Denn kaum ist eine Produktion aufgeführt, ein Match verloren, steht schon die nächste Herausforderung vor der Tür. Man hat wenig Zeit, sich den Kopf über das Scheitern zu verbrechen. Man kann nur versuchen, die Fehler in Verbesserungen zu übersetzen. So sehr Rotationen innerhalb des Systems üblich sind, so wenig wird quer rotiert. Ein Eishockeytrainer trainiert nicht plötzlich Fussballer, die Leiterin eines Kunstbetriebs wird nicht Leiterin einer psychiatrischen Klinik. Hier verbirgt sich künftiges Innovationspotenzial.

Die Hochfrequenz-Organisation eignet sich für Unternehmen, die wiederkehrend in mehr oder weniger definierten Formaten und Abständen etwas lancieren; die in regelmässigen Abständen einen Neuanfang sichtbar machen wollen.

12 Das Pop-up

Im Pop-up wird die Zukunft ausprobiert. Am Werk sind Idealisten, die voller Hoffnung ihre Ideen durch einen Realitätscheck in die Tat umsetzen wollen. Wir kennen das Prinzip vom Vertrieb hipper Produkte, von Werbeaktionen an Bahnhöfen, von Start-ups in der Geburts- und Experimentierphase sowie der temporären Nutzung von Räumlichkeiten, insbesondere durch Gastrobetriebe und Bürogemeinschaften. Durch das unerwartete Auftauchen an hochfrequentierten Orten versuchen Pop-ups ihre Ideen und Angebote rasch bekannt zu machen. Vorbeilaufende Passanten und (soziale) Medien sollen für einen viralen Effekt sorgen. Diese beeinflussen wesentlich, ob und wie es mit dem Pop-up weitergeht. Das Vorhaben existiert nur kurz, sein Ende ist von Anfang an klar definiert. Der Moment, in dem die Organisation wieder von der Bildfläche verschwindet bzw. weiterzieht, ist klar datiert. Gerade diese Sterblichkeit verleiht dem Pop-up seine Lebendigkeit. Das erleichtert das Bilanzziehen wie auch den Abschied von Dingen, die nicht wunschgemäss gelaufen sind. Ähnlich wie in der Hochfrequenz-Organisation kann das Team regelmässig neu beginnen. Im Pop-up arbeitet nur, wer wirklich für die Erreichung des Zwecks nötig ist. Administration und Controlling werden auf ein Minimum heruntergefahren, wichtig sind die Reaktionen der Kundinnen, ehrliche Gespräche und gegenseitige Feedbacks. Das Pop-up hat keinen Wasserkopf. Möglicherweise führt gerade der Mangel an Ressourcen, Zeit und Fähigkeiten zu einer hohen Innovationskraft. Im Pop-up sind alle gleichberechtigt, verdienen gleich viel und haben dieselbe Entscheidungs- und Budgetkompetenz.

Das Pop-up eignet sich für Unternehmen, die nicht vorhaben, lange zu existieren, und keine hohen Fixkosten produzieren wollen; bei denen ein Vorhaben in Entwicklung ist und die fertigen Konturen noch unklar sind.


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