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Die Sexualität des Narzissten

Die Steigerung der Erlebens, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, die Optionensteigerung ist der augenscheinlichste Vorgang der Moderne“

Peter Gross

Die Notwendigkeit der Identitätsarbeit in der Multioptionsgesellschaft

Die Multioptionsgesellschaft (vgl. Gross, 1994) schafft überall ein Arsenal an Wahlmöglichkeiten, aus denen das Individuum die zu sich passenden Optionen auszuwählen haben. Sie entstehen im materiellen Bereich, den man aus den Supermärkten bestens kennt. Sie formieren sich im Bereich der sym-bolischen Dienstleistungen, auf die der Mensch in einer materiell gesättigten Gesellschaft gerne zurückgreift. Schliesslich wurde mit der Verkündung des Tods Gottes auch am Himmelszelt die Optionierung ins Leben gerufen. Der Himmel zerfällt in Messiasse und Tausendsassa, in Hexen und Heiler, in heilige Geister und helfende Götter (vgl. Gross, 2007). Diese Explosion der Möglichkeiten zieht nicht spurlos am Individuum vorbei. Die Transformationskräfte Entobligationierung, Optionierung und Individualisierung (vgl. Gross, 2003), finden mitten im Individuum statt. Es ist sicher selber unsicher geworden und ist bemüht sich neu zu definieren.

Der Mensch, der früher einmal durch die ihn umgebenden Systeme Familie, Beruf und Kirche definiert wurde, ist auf die Ichjagd (Gross, 1999) geschickt worden. Mit der Multioptionsgesellschaft zerfallen die Selbstverständlichkeiten, die unserem Wesen Sicherheit und Stabilität verliehen haben. Die Reflexe, welche einmal die äusseren Strukturen abbildeten, haben sich in ichbezogene Reflexionen verwandelt (vgl. Kaufmann, 2005). In diesem endlosen Zustand der Selbstflexion gilt es sich selber zu finden. Die Psychologen nennen diesen Findungsprozess Identität, auch wenn sie sich in ihrer Konzeption unterscheiden (vgl. Marcia, 1993; du Gay, 2007; Abels, 2006). Um gleichzeitig das prozessuale und ergebnistechnische Element der Identität erfassen zu können wird auf die Definition von Keupp et al. (2006) rekurriert. Die Autoren bringen die Identität mit dem Prozess der Identitätsarbeit in Verbindung. „Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient.

In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äusseren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen“ (ebd.: 60). Die Teilidentitäten gilt es vom Individuum zu einem Ganzen zusammen zu schweissen. Dies gelingt nach Keupp et al. (ebd.) durch eine Metaidentität. Sie setzt sich aus dominierenden Teilidentitäten, dem Identitätsgefühl und der biographischen Kernnarrationen zusammen. „Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion. Das zentrale Medium der Identitätsarbeit ist die Selbsterzählung. Damit meinen wir die Art und Weise, wie das Subjekt selbstrelevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht und ‚sich‘ und anderen mitteilt“ (ebd.: 216). Die Selbstnarration ist ein verinnerlichtes Curriculum Vitae, welches die einzelnen Episoden des Lebens zusammengefügt. Es verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft. Sie wird zu einer „Ideologie des Selbst“ (ebd.: 232), welche die Assimilation und Akkommodation von neuen Erfahrungen ordnet (vgl. Hausser, 2007).

Als Ideologie des Selbst wirkt die Identität der Unordnung der Multioptionsgesellschaft entgegen. In einer Gesellschaft, in der die Menschen aus ihren Geborgenheit offerierenden Strukturen herausgehoben werden (vgl. Beck, 1996) zeigt sich das Individuum von der Fülle der Möglichkeiten verunsichert. Unsicher streicht es durch die Entscheidungen erzwingenden Optionen. Unsicher sieht es zu, wie sich die Obligationen in Optionen verwandeln. Es weiss nicht, welche Optionen es auswählen und welche Optionen es verwerfen soll. Es weiss nicht, wohin es gehört. Es weiss nicht, zu wem es gehört. Es weiss nicht, wer es ist. Es weiss nicht, was es will. Es weiss nicht, welche Zukunft es erwartet. Es weiss nicht, mit was es sich identifizieren soll. Mitten in diesem verunsichernden Wirrwarr bietet sich die Identität als Lösung an. Sie hält das Selbstmanagement, die Selbstgestaltung, die Selbstlenkung und die Selbstentwicklung zusammen (vgl. Ulrich & Krieg, 2001).

Die Identität schützt das Individuum vor Angriffen auf sein verunsichertes, zerbrechliches Ich. Es wird eine Ichgrenze gezogen, die zwischen dem Innen und dem Aussen unterscheidet. „Die Ichgrenze trennt das Ich vom Nicht-Ich. Die Ich-Grenze selbst ist dem Ich zugehörig und nicht als Element der Aussenwelt zu betrachten. Bei einem Gesunden ist sie leicht durchlässig und feinporös, ohne dass sie grosse Löcher aufweisen würde. Sie ist kompakt, konsistent, kohärent, permeabel und ein wenig flexibel“ (Rom, 2007: 21). Die Identität schafft Sicherheit und Orientierung. Sie weist in der Form eines Wegweisers den Weg in die goldene Zukunft, den Weg in erfüllende Beziehungen, den Weg zur vollständigen Selbstverwirklichung. Das Herstellen von Identität wird zur modernen Lebensaufgabe der Moderne. Wer sie vernachlässigt, droht in der Komplexität der Moderne unterzugehen und von den multiplen Optionen weggespült zu werden.

Die moderne Identität kann auf Individualität nicht verzichten. Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen. Wer nicht auffällt, nimmt nicht einmal sich selber wahr. „Da ist erstens der Anspruch des Menschen ein Individuum zu sein, zweitens der Anspruch, Individualität auszubilden und sie zu zeigen und drittens der Anspruch in seiner Identität anerkannt zu werden“ (Abels, 2006: 16). Das moderne Individuum gleicht einem Künstler. Es versteht sich als Rohstoff, aus dem es ein Kunstwerk zu schaffen hat. „Die Originalität des modernen Künstlers beinhaltet […] zweierlei: Er schafft erstens aus eigenem Antrieb etwas, was zweitens noch kein anderer geschaffen hat. Verallgemeinert man dieses Musterbeispiel, stösst man auf die zwei Komponenten modernen Individualität: Einzigartigkeit und Selbstbestimmung der Person. Als Kurzformel: Individualität ist selbstbestimmte Einzigartigkeit“ (Schimank, 2002: 165).

Individualität wird in einer intimen und selbständigen Bastelei gefestigt (vgl. Hitzler & Honer, 2004). Um das Vokabular der Multioptionsgesellschaft zur Hand zu nehmen, könnte man sagen, dass die individuelle Identität sich durch ein Ausprobieren der Optionen und ein anschliessendes Bekenntnis zu den gewählten Optionen auszeichnet (vgl. Marcia, 1993) „Wer sich weder um etwas kümmert noch Verpflichtungen aufbaut, der befindet sich in einem Stadium der Diffusion“ (ebd., 408). Erst „wer nach langem Bemühen zu einer Position gelangt, der hat das Studium der Identitätsreife erreicht“ (ebd., 408). Diese Sicherheit ist trügerisch, denn die Identitätsreife kann nur partiell und temporär sein. „Die Identitätsreife muss aber nicht in allen genannten Inhaltbereichen gleichzeitig zustande kommen. Sie ist auch kein unverlierbarer ‚Besitz‘, sondern Rückfälle und Explorationsphasen sind möglich“ (ebd., 408). Ichjagd ist ein Prozess ohne Ende.

Narziss als Herrscher der Multioptionsgesellschaft

Unterwegs auf seiner Ichjagd wird das Individuum auf sich zurück geworfen. Die äusseren Systeme haben an Orientierungskraft verloren. Identität und damit Sicherheit muss inwendig hergestellt werden. „Aus dem Reich der Notwendigkeit geht es ins Reich der Freiheit, in die eine Welt – das Individuum als letzter, sich selbst erlösender Gott. Neben der Utopie entsteht die Intopie, eine Verzeitlichung ins Innere des Menschen, wo es – ein verborgener innerer Schatz – auch gesucht werden will“ (Gross, 2007: 25; Hervorhebung im Original). Das Individuum verkriecht sich in seinem Schneckenhaus und versucht tief in seinem Innern die Antwort auf die unheimliche Komplexität seiner Aussenwelt zu finden. Der Alltag, das Wochenende, die Lebensphilosophie wird selbstreferentiell. Aber je mehr sich das Individuum mit sich selber beschäftigt, desto tiefer wird es hinunter in einen Ichsog gezogen. Dort wird es in der Tiefe immer unheimlicher. Unheimlich, weil man sich immer mehr mit den eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten, den eigenen Mängeln und Stigmata konfrontiert sieht (vgl. ebd.; Gofmann, 2005).

In diesem Ichsog wird das Ich zur einzigen Wahrheit erklärt. Man schaut in den Ichspiegel und empfindet einzig das Ich dazu berechtigt, auf die Fragen der Multioptionsgesellschaft eine Antwort zu geben. Nur mein ich, weiss woran ich leide. Nur mein Ich weiss, wer ich bin und was ich brauche. Nur mein ich kann mir in meinem Elend helfen. „Und während er trinkt, erblickt er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt eine körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist. […] Wie oft gab er dem trügerischen Quell vergebliche Küsse! Wie oft tauchte er, um den Hals, den er sah, zu erhaschen, die Arme mitten ins Wasser und konnte sich nicht darin ergreifen!“.

Und doch kennt der von Narziss geliebte Narziss keine Antworten. „Er gefällt mir, und ich sehe ihn; doch was ich sehe und was mir gefällt, kann ich nicht finden; so gewaltig ist der Trug, der den Liebenden gefangen hält! […] Du versprichst mir mit freundlichem Gesicht etwas Hoffnungsvolles; strecke ich die Arme nach dir aus, streckst auch du sie mir freiwillig entgegen. Lächle ich, lächelst du mir zu; auch Tränen habe ich oft bei dir beobachtet, während ich weinte. Durch Nicken erwiderst du meine Zeichen, und soweit ich aus der Bewegung deines schönen Mundes schliessen kann, antwortest du mir auch mit Worten, die nicht an mein Ohr dringen. – Ich bin es selbst! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun? Bitten oder mich erbitten lassen? Worum soll ich denn bitten? Was ich begehre, ist bei mir. Der Reichtum hat mich arm gemacht. Könnte ich mich doch von einem Körper lösen“ (Ovid, 2005: 51).

Narziss ist deshalb die passende Figur der Multioptionsgesellschaft, weil im Zuge der Ausdifferenzierungen der gesellschaftlichen Systeme letztlich das Individuum als einziges System übrig bleibt. Alle anderen Gemeinschaften und Gesellschaften zerfallen in ichjagende Individuen. Das Individuum löst sich von den Anderen, weil es sich spezialisieren will und weil es sich spezialisieren muss. Auch das Ich hat sich auf seine Kernkompetenzen zu konzentrieren, um den Anforderungen der Multioptionsgesellschaft etwas entgegensetzen zu können. Das Ich weiss nur allzu gut, dass es auf den Märkten der Optionen nur dann bestehen kann, wenn es sich als unternehmerisches Selbst versteht (vgl. Bröckling, 2007). „Das unternehmerische Selbst bezeichnet überhaupt keine empirisch beobachtbare Entität, sondern die Weise, in der Individuen als Personen adressiert werden, und zugleich die Rich-tung, in der sie verändert werden und sich verändern sollen. […] In der Figur des unternehmerischen Selbst verdichten sich sowohl normatives Menschenbild wie eine Vielzahl gegenwärtiger Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamen Fluchtpunkt die Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet“ (ebd.: 46f.).

Die Aufgaben des unternehmerischen Selbst sind klar umrissen. “Unternehmer sind erstens findige Nutzer von Gewinnchancen, zweitens Neuerer, sie übernehmen drittens die Unsicherheiten des ökonomischen Prozesses und koordinieren schliesslich viertens die Abläufe der Produktion und Vermarktung“ (ebd.: 110). Als erfolgreicher Unternehmer koordiniert und innoviert das Selbst, unter ständiger Nutzung von Gewinnchancen und gleichzeitiger Kontrolle der unvermeidlichen Risiken (vgl. ebd.: 108ff.). Dies gelingt nur dann, wenn es statt in Verträgen in Projekten arbeitet, wenn es empowert auftritt, wenn es durch Kreativität brilliert und sich selbstverständlich ständig verbessert (vgl. ebd.: 152ff.). Das unternehmerische Selbst kennt nur den Erfolg. Es lächelt von den Titelseiten, auf dem weihnächtlichen Familienfoto und auf dem in Internet veröffentlichten Sextape. Es ist stark. Es repräsentiert. Es glitzert und funkelt. Es zögert nicht. Es zweifelt nicht.

Das Gegenstück zum erfolgreichen Ichunternehmer wird von Bröckling gratis mitgeliefert. Der Glanz kennt eine spiegelbildliche Schattenseite. Der Gegenspieler des unternehmerischen Selbst ist das erschöpfte Selbst (vgl. Ehrenberg, 2004). Es ist das depressive, ironische, süchtige Selbst. „Gebremst wird die Kraft der unternehmerischen Aufforderung zunächst durch die von ihm ausgehende Überforderung: Das unternehmerische Selbst ist ein ‚erschöpftes Selbst‘. Weil die Aufforderungen unabschliessbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück, weil der kategorische Komparativ des Marktes einen permanenten Ausscheidungswettkampf in Gang setzt, läuft er fortwährend Gefahr, ausgesondert zu werden“ (ebd.: 289).

Durch die permanente Überforderung droht das erfolgreiche unternehmerische Selbst in sich zusammenzufallen. „Das Regime des unternehmerischen Selbst produziert deshalb mit dem Typus des smarten Selbstoptimieres zugleich sein Gegenüber: das unzulängliche Individuum. Wo Aktivität gefordert ist, ist es antriebslos, wo Kreativität verlangt wird, fällt ihm nichts ein; den Flexibilisierungszwängen begegnet es mit mentaler wie emotionaler Erstarrung; statt Projekte schmieden und sich zu vernetzen, zieht es sich zurück; die Strategien der Bemächtigung prallen an seinen Ohnmachtsgefühlen ab; sein Selbstbewusstsein besteht vor allem aus Selbstzweifeln; an Entscheidungskraft fehlt es ihm ebenso wie an Mut zum Risiko; statt notorisch gute Laune zu verbreiten, ist es unendlich traurig. – Es ist das klinische Bild der Depression, in dem das Anforderungsprofil des unternehmerischen Selbst als Negativfolie wiederkehrt; sie ist die ‚Pathologie eines Bewusstseins, das nur es selbst ist und nie genügend mit Identität angefüllt ist, nie genug in Aktion ist“ (ebd.: 289f.)

Narzisst vereint auf gerade zu perfekte Art und Weise die von Bröckling skizzierten Gegensätze der Moderne. Die soziologische Diagnose spiegelt sich in der psychologischen wieder. In den Räumen der Seelsorger, Psychologen und Psychiater wird der intime Widerspruch durch den Narzissmus zur Krankheit erklärt. Narziss findet sich wieder im Handbuch der internationalen Klassifikation der Krankheiten (Dimdi, 2008). Der Narzissmus fällt unter die Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. „Sie sind Ausdruck des charakteristischen, individuellen Lebensstils, des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen. Einige dieser Zustandsbilder und Verhaltensmuster entstehen als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen schon früh im Verlauf der individuellen Entwicklung, während andere erst später im Leben erworben werden.

Die Sexualität stellt nicht nur beim Narzissten eine Möglichkeit dar, um innere Festigkeit zu erzeugen und inneren Druck abzulassen

Die spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60.-), die kombinierten und anderen Persönlichkeitsstörungen (F61) und die Persönlichkeitsänderungen (F62.-) sind tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Sie verkörpern gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und der psychologischen Funktionen. Häufig gehen sie mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher“ (ebd.). Im DSM-IV, der vierten Ausgabe des diagnostischen und statistischen Handbuchs psychischer Störungen, wird die Figur des Narziss genauer charakterisiert.

Der Narzisst hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit. Er übertreibt die eigenen Leistungen und Talente. Er erwartet ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden. Er ist eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, von Phantasien von Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe. Er glaubt von sich, besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen Personen oder Institutionen verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können. Er verlangt nach übermäßiger Bewunderung. Er legt ein Anspruchsdenken an den Tag. Er hat übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen. Er verhält sich in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch. Er zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Er zeigt einen Mangel an Empathie. Er ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse der anderen zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Er ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn. Er zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen (vgl. Faust, 2008: 20). Dieser Narzisst ist der erfolgreiche Ichjäger. Er ist Herrscher der Optionen und Herr über die Unsicherheit.

Akhtar (1996) zeigt sich aufgrund seiner Literaturstudie mit den Beschreibungen des Narzissmus in den Handbüchern der psychischen Störungen nicht einverstanden. „Sowohl DSM-III als auch DSM-III.R zielen nicht auf die Koexistenz sich widersprechender Tendenzen in fast allen Bereichen psychi-schen Funktionierens als zentrales Merkmal der Störung ab“ (Akhtar, 1996: 16). Er vermisst Hinweise auf das gespaltene Innere, das einst Kernberg als zentrales Merkmal des Narzissten definiert hatte (vgl. Kernberg, 2005). Das gespaltene Innere präsentiert sich als Kampf zwischen einem starken repräsentierenden und einem schwachen leidenden Ich, das nur in heimlichen Momenten zu Tage treten darf. Zu diesem Kampf gehört „das Oberflächenbild, welches das grandiose Selbst des Patienten reflektiert“ (Volkan in Akhtar, 1996: 10). Die Oberfläche entspricht dem Volksbund bekanntem Narziss, der selbstverliebt in den Spiegel blickt.

Zum psychopathologischen Narziss gehört aber auch das „klinische Bild, das die andere Seite der Münze darstellt“ (ebd.: 10). Dazu gehören die konstanten Versuche des Patienten, die Kohäsion seines grandiosen Selbst zu schützen und zu erhalten“ (ebd., 1996: 10). Dies unterstreicht Kernberg (2005). „Für mich sind narzisstische Persönlichkeiten gekennzeichnet durch ein aussergewöhnliches Mass an Selbstbezogenheit, wobei sie zwar gewöhnlich eine oberflächlich glatte und sehr effektive soziale Anpassung zustande gebracht haben, aber in ihren inneren Beziehungen zu anderen Menschen schwer gestört sind. In wechselnder Zusammensetzung finden wir Anzeichen von starkem Ehrgeiz, Grössenphantasien, Minderwertigkeitsgefühlen und übermässigem Angewiesensein auf Bewunderung und Bestätigung durch andere. Neben Gefühlen von Leere und Langeweile und einer ständigen Suche nach Befriedigung ihres Strebens nach glänzenden Erfolgen, Geltung, Reichtum, Macht und Schönheit bestehen gleichzeitig schwere Mängel bezüglich der Fähigkeit zu lieben und zur mitfühlenden Rücksichtnahme auf andere“ (ebd.: 301f.).

Akhtar hat deshalb durch das Studium der entsprechenden Literatur den Versuch einer Synthese unternommen. Seiner Meinung nach ist der Narzisst in sechs Bereichen psychischen Funktionierens beeinträchtigt. Sie umfassen das Selbstkonzept, die interpersonalen Beziehungen, die soziale Anpas-sung, die ethische Auffassungen, Standards und Ideale, die Liebe und die Sexualität sowie den kognitiven Stil (ebd.: 17). „Die Widersprüche beschränken sich nicht auf das Selbstkonzept des Individuums, sondern durchdringen auch seine interpersonalen Beziehungen, seine soziale Anpassung, sein Liebesleben, seine Moralvorstellungen und seine kognitiven Einstellungen. Eine Person mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist nach aussen grandios, verächtlich gegenüber anderen, erfolgreich, enthusiastisch in Bezug auf Ideologien, verführen und auffällig artikuliert; innerlich allerdings ist sie von Zweifeln geplagt, neidisch, gelangweilt, unfähig zu echten Sublimierungen, unfähig zu lieben, korrumpierbar, vergesslich und in ihrer Lernfähigkeit beeinträchtigt“ (ebd.: 17).

Die Widersprüche sind für Aussenstehende nicht sichtbar. Trotzdem zerfressen sie das Innere des Narzissten. Sein schwaches Ich jammert um Rücksicht und Zuwendung. Aber sein starkes Ich überstimmt es und will immer mehr. Mehr Liebe. Mehr Aufmerksamkeit. Mehr Erfolg. Der Narzisst ist deshalb ein typischer Vertreter der Multioptionsgesellschaft, weil er unfähig ist, Wirklichkeit und Möglichkeit ineinander überzuführen. Er leidet unter der Diskrepanz zwischen dem, was er alles sein könnte und dem was er tatsächlich ist (vgl. Gross, 2007; 1999; 1994). Es ist die bestens bekannte Differenz zwischen Schein und Sein, die dem Narzissten das Leben innerlich unerträglich macht.

Sexualität als Teilidentität

Die Sexualität stellt nicht nur beim Narzissten eine Möglichkeit dar, um innere Festigkeit zu erzeugen und inneren Druck abzulassen. Die Identitätsarbeit kennt verschiedene Aspekte. „Identität meint also einen Prozess der Selbstreflexion, der sich auf die eigene Person in ihrer Gesamtheit, auf den wahrgenommenen Kern der Persönlichkeit bezieht. Dabei lassen sich eine kognitive (Selbstkonzept), eine emotionale (Selbstwertgefühl) und eine motivationale Komponente (Kontrollüberzeugungen) von Identität unterscheiden. Zudem muss eine körperliche Ebene von Identität angenommen werden, ein immer nur teilweise bewusstes Bild vom eigenen Körper, das sich als Körperkonzept oder Körperselbst bezeichnen lässt“ (Faltermaier et al, 2002: 65).

In der körperlichen Selbstgestaltung wird in Form und Farbe gebracht, was im Innern der Körperhülle geschieht. „Das Selbst ist bei der Kunst der Selbstgestaltung gleichzeitig Subjekt und Objekt dieser Kunst, gleichzeitig Gestalter und zu gestaltendes Material“ (Scherger, 2000: 238). Der Körper ist der Ort, wo sich das Selbst physisch inszeniert. Man frisiert und stählt. Man turnt und tanzt. Man schminkt und crèmt. Man kleidet und tarnt. Das Selbst „gestaltet sich vor allem über seinen Leib (d.h. seine Gestalt), seine Handlungen, seine Art sich zu bewegen oder still zu sitzen, seine Haltung, die Art seiner Verhüllung, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei ist der Leib mehr als Repräsentation: Das Selbst hat seinen Körper nicht als etwas Natürliches gegeben, sondern es ist sein Leib und gestaltet dieses Sein, das sich als eine Fülle von Möglichkeiten“ (ebd.: 246).

Zur Selbstgestaltung des Körpers gehört dessen sexuelle Verwendung. „Wenn aber Sexualität als eigener Erfahrungsbereich, in dem sich das Subjekt als Subjekt einer bestimmten Erfahrung erst konstituieren muss, konstruiert und nicht etwa als natürliche Konstante gegeben ist, so kann diese Konstituierung des Selbst als Subjekt der Sexualität auch Teil der kunstvollen Selbstgestaltung sein“ (ebd.: 248). Die Sexualität wird zum Erfahrungsbereich der Identität. Sie wird deshalb mehr und mehr in das Zentrum der Identitätsarbeit gerückt, weil sie im Zuge der Ausdifferenzierung der Systeme von anderen Sphären abgekoppelt wird (vgl. Matthiesen, 2007: 68ff.).

Zuerst wird die Sexualität durch die Verhütungsmittel von der reproduktiven Sphäre abgekoppelt. Es folgt die Trennung vom Geschlecht. Es gibt nicht mehr nur die männliche Sexualität, sondern auch die weibliche. Gleichzeitig mit dieser Entfesselung wird das eigene Geschlecht optioniert. Man spricht von Gender statt von Mann und Frau. „Es folgte die Trennung von sexuellem Erleben und körperliche Reaktion, massgeblich mitbestimmt von der zunehmenden Prothetisierung des Körpers und der Medikalisierung der Sexualität.“ (ebd.: 69). Diese Trennung wird durch eine vierte forciert: Der Trennung des Realen vom Virtuellen. Die Sexualität löst sich nicht nur vom eigenen Körper sondern auch von der Realität.

Es bleibt ein sexuelles Ichkino übrig, in welchem intime Perversionen gesponnen werden. Im Ichporno wird das Ich so verwöhnt, wie es sich immer vorgestellt hat, so wie es sich es verdient hat. Gemeinsam mit den Möglichkeiten des Cyber-Sex schliesst sich die Sexualtät immer mehr im Innern des Individuums ein. „Als massenkulturelles Phänomen zeigt sich die Tendenz zur Trennung von sexuellem Erleben und Sexualkörper beispielsweise am Cyber-Sex“ (ebd.: 69). Sexueller Körper und sexueller Geist werden voneinander getrennt, wobei in beiden Fällen Sexualität ohne die Hilfe andere Men-schen praktiziert werden kann. Die bislang letzte Stufe der Abkoppellung trennt die aggressive Seite der Sexualität ab. Das Erwünschte löst sich vom Unerwünschten. „Schliesslich bleibt die bereits angesprochene Trennung der libidosen von der destruktiven Sphäre: Die aggressive Seite der Sexualität wurde von der zärtlichen gelöst, um heute als wesentlicher Aspekt des Sexuellen zu erscheinen; sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt stehen dem neuen Paradigma der Lust gegenüber“ (ebd.: 69).

Die Abspaltungen führen gleichzeitig zu einer Optionierung des Sexuellen. „Der Prozess der Dissoziation hat, gemeinsam mit einer beeindruckenden Kommerzialisierung der auftauchenden Sphären, zu einer Zerstreuung der sexuellen Fragmente geführt“ (ebd.: 69). Auf Siguschs Neosexualitäten (vgl. Sigusch, 2005) Bezug nehmend, schreibt Matthiesen (ebd.): „Die frühere einheitliche sexuelle Sphäre ist mittlerweile unterteilt, ihre Inhalte sind pluralisiert, in die Warenförmigkeit gepresst und koexistieren in ihrer Widersprüchlichkeit. Neosexuelle Fragmente versprechen Lust, lassen nahezu jeden Wunsch erfüllbar erscheinen, mahnen gleichzeitig Gleichheit und Gewaltlosigkeit an“ (70). Das Individuum steht einem optionsbunten Buffet von sexuellen Spielpartnern, Spielzeugen, Spielarten und Spielwiesen gegenüber.

In mitten dieser Unübersichtlichkeit ist es das Individuum, das für Ordnung sorgen muss. Wenn sich die Umwelt des Individuums durch Komplexität auszeichnet, dann liegt es am Individuum, in seinem Innern Stabilität herzustellen und dadurch Komplexität zu reduzieren (vgl. Lewandowski, 2004). Dies gelingt durch die individuelle Kombination, durch die selbstbestimmte Auswahl der zur Verfügung stehenden sexuellen Optionen. „Mit dem oben beschriebenen Wegfall äusserer Verbote verliert die Sexualität nicht nur ihren Sonderstatus, sie verliert auch das triebhafte, drängende Element. Nicht mehr die Befriedigung des Erlebens, die vor allem gesteigert und optimiert, nicht aber befriedigt werden will […] Die Aufgabe des spätmodernen Menschen besteht nicht darin, sich Sexualität gegen äussere Verbote zu erkämpfen, sondern das lustbringende Potenzial des Körpers und der Sexualität möglichst umfassend auszuschöpfen. Dieses ist ein potenziell immer weiter steigerbarer und niemals abgeschlossener Prozess, der im Unterschied zum alten Triebmodell gerade nicht auf sexuelle Befriedigung abzielt“ (ebd.: 71; 72).

Sie zielt deshalb nicht auf die sexuelle Befriedigung, weil das Individuum erkannt hat, dass eine solche Befriedigung nicht erreichbar ist. Die Lust verweilt auch nach dem xten Orgasmus. Genau gleich wie das Individuum zwecks Identitätsarbeit auf die Ichjagd geschickt wird, wird es auch in der sexuellen Sphäre auf die Jagd nach sich selber, auf eine sexuelle Ichjagd geschickt. In einem solchen Szenario aber werden wir alle tendenziell zu sexuellen Narzissten. Wir jagen uns durch die Optionen, um durch unser sexuelles Leben einen kleinen Beitrag zu unserer Identität zu erhaschen. Wir suchen uns mit dem Hilfsmittel der Sexualität.

Wir begehren uns selber zu spüren, uns selber zu erleben, uns selber zu verwirklichen. Dabei geht das ichjagende Individuum selbstreferentiell und selbstoptimierend vor. Es geht um die eigene Lust, nicht um die Lust der Anderen. Wir verhalten uns als typische Narzissten. Wir erreichen niemals Befriedigung. Der kurze Kick endet im unerfüllten Nichts. Wir spalten uns in ein zufriedenes starkes Ich und ein zu tiefst betrübtes verängstigtes Individuum auf. Dabei erblickt das schwache verängstigte Ich erst bei der ersten grossen Lebenskrise auf der Coach des Psychiaters das Licht der Welt. Bis zu diesem Moment regiert das starke sexuelle zufriedene Ich mit eisernem Zepter. Unterdrückt Ängste. Unterdrückt Sehnsucht. Verheimlicht Unzufriedenheit. Lässt Risikoaversion entstehen.

Die Sexualität des Narzissten

Um den Durchschnitt besser zu verstehen, wendet sich der Text nun explizit der Sexualität des Narzissten zu. Oft lässt das Aussergewöhnliche das Gewöhnliche in neuem Licht erscheinen. Die Sexualität des Narzissten unterscheidet sich von derjenigen des Normalsterblichen, weil sie auf immer neue Abenteuer angewiesen ist. Der Narzisst oder besser gesagt seine starke repräsentierende Hälfte ist reizhungrig. Nicht überraschend zeichnet sich der Narzisst in den Augen vieler Autoren durch die Neigung zu Paraphilie aus (vgl. Akhtar, 1996). Er folgt der Steigerungswut der Multioptionsgesellschaft. Das Normale langweilt. Das Normale reizt nicht. Das Normale ist lächerlich. Das Normale ist nichts für den Narzissten. Abnormes Verhalten aber übersetzt die Gesellschaft in pervers.

Akhtar (ebd.) skizziert das offensichtlich sichtbare Liebes- und Sexleben des Narzissten durch Ehekrisen, kalte und gierige Verführung, aussereheliche Promiskuität und generell als ungehemmtes Sexualleben (19). Wirklich spannend wird es aber auf der verdeckten, der larvierten Ebene. Hier stösst man auf die Schattenseite der Lust. Unter der Oberfläche trifft man nach Akhtar (ebd.) auf die Unfähigkeit zur Liebe, auf eine eingeschränkte Fähigkeit, den Sexualpartner als getrenntes Individuum mit eigenen Interessen, Rechten und Werten zu sehen, auf die Unfähigkeit das Inzesttabu wirklich zu respektieren und auf gelegentliche sexuelle Perversionen“ (19). Dabei erscheint nicht unbedingt die Perversionen unter der Oberfläche das Problem zu sein. Problematisch ist vielmehr die Unfähigkeit des Narzissten seine beiden Sexualitäten in Einklang bringen zu können.

Zunächst ist aber unklar, was man sich uns unter Perversionen vorzustellen hat. Was als pervers zu gelten hat, bestimmt die Gesellschaft und nicht das Individuum. Früher waren es die Kirche und später die Psychiatrie oder die Psychoanalyse, welche sexuelles Denken oder Handeln ausserhalb der erlaubten Norm als pervers taxiert haben (vgl. Pschyrembel, 2002: 395). In Zeiten aber in denen die Macht der vorschreibenden Systeme schwindet, bleibt einzig das Individuum als Richter der Perversion übrig. Dieses Übrigbleiben verpflichtet. Die Sexualität hat zum Ort der Selbst-Inszenierung zu werden. Von allen Seiten werden wir in einer zu Ende befreiten Sexualität (Schulze, 2006: 39) dazu aufgerufen, unsere Sexualität auszuleben, uns im Sex auszutoben, uns im Sexuellen zu finden, uns sexuell zu verwirklichen, uns sexuell ins Szene zu setzen. „Als Sünde gilt das Versäumen erotischer Gelegenheiten“ (ebd.: 40) und nicht etwa der teuflisch angehauchte Geschlechtsakt, der seinerseits erst durch die Ablösung von der Fortpflanzung seine Unschuld verlieren konnte.

Man schickt uns köstliche Früchte im sexuellen Garten suchen zu gehen. „Wer experimentiert, auch mit anderen als den herkömmlichen heterosexuellen Aktivitäten, kann viel köstlichere sinnliche Fürchte der Sexualität ernten“ (Baumann, 2002: 42). Zu guter letzt, werden wir von den Sexualwissenschaftlern dazu verpfiffen, unseren Perversionen nachzugehen. Es wird salonfähig, pervers zu sein. „Jenen aber, die die Perversion denunzieren, ist offenbar nicht bewusst, dass sie das wünschen, was sie so laut verleugnen und verfolgen. Sie reagieren so abwertend, weil sie dunkel ahnen, dass sie all das, was die Perversen erleben oder krankhaft tun müssen, vom sexuellen Rausch bis hin zum lebensbedrohlichen Ich-Zerfall, selbst erlebten oder täten, wenn in ihrem bisherigen Leben nur eine Weiche anders gestellt worden wäre“ (Sigusch, 2005: 80).

Wenn es ausser dem Individuum gibt keine urteilende Instanz, dann taxiert das Individuum zwangsläufig sein gesamtes sexuelles Denken und Handeln als pervers bzw. nicht pervers. „Im Kern ist das normale Sexualleben pervers und das perverse normal. Die partiellen Lüste gehören zum normalen Liebesleben wie dieses zu jenen. Alle Sphären des Sexuellen, von der hohen Liebe bis zum niederen Sexualdelikt, bilden eine Einheit, die der Separation. Psychogenetisch, das heisst entwicklungspsychologisch gesehen, ist der Verliebungsprozess nicht unnatürlicher als die suchtartige Perversion. Soziogenetisch, das heisst normierungssoziologisch gesehen, ist das sexuelle Abweichende oder moralisch Verpönte ohne das sexuell Übliche oder moralisch Akzeptierte weder zu denken noch zu verfolgen“ (Sigusch, 2005).

Und der Narzisst? Er ist sich keiner Schuld bewusst. Er konzentriert sich voll und ganz auf sein intrapsychisches sexuelles Skript (Pschyrembel, 2002: 507). Der narzisstische Rausch der Perversität orientiert sich einzig an sich selber. Der Narzisst findet sich pervers und will sich pervers finden. Die anderen, sie gehen ihn nichts an. Der Narzisst flüchtet sich in Selfsex-Praktiken (vgl. Sigusch, 2005). Selfsex ist vollständig selbstdiszipliniert und selbstbezogen. Selfsex ist abstrakt, denn es gibt keine Anderen. In seinen Träumen und Perversionen steht die Befriedigung der ganz intimen Bedürfnisse im Vordergrund. Dazu braucht man keine Gesichter. Man will nur sich selbst befriedigt sehen. Man geilt sich an sich selber auf. Man lebt in Autoerotismen. Der Narzisst masturbiert endlos. Er ejakuliert vor dem Spiegel. Er träumt davon, mit sich selbst in Bett zu gehen. Er wechselt den Sexpartner. Er hinterlässt seine Fotos und Videos den Anderen als Lustvorlage.

Die Selfsex-Praktiken sind typisch für den Aufruf der Multioptionsgesellschaft, welcher das Individuum zur intimen SWOT-Analyse schickt. Man hat das Eigene durch das Akzeptieren und Ablehnen von Optionen herauszukristallisieren. Man hat das Eigene den Anderen vorzuführen. Man hat das Eigene auf dem Regiestuhl seines Lebenslaufes zu installieren. Auch im sexuellen Lebenslauf. Besonders deutlich wird dies in den virtuellen Welten des Internets, in denen zahlreiche verloren gegangen Individuen auf der Suche nach sexueller Selbstverwirklichung und damit auf der Suche nach sich selber sind. Als anschauliches Lehrbuchbeispiel dieser Argumentation sei auf RECON verwiesen, wo die User ihre sexuellen Aktivität bzw. Passivität in Prozentzahlen ausdrücken. Sie werden vom Portal dazu aufgefordert, die Frage „What are you into?“ möglichst genau zu beantworten. (RECON, 2008). Genauso in Szene zu setzen hat sich der Schwule auf gayromeo (2008). Er hat sich dazu zu äussern, ob er sexuelle Praktiken unter der Chiffre dirty praktiziert, welcher Kategorie sein Penis zuzuordnen ist und welche Fetische in seinem Ichporno die Hauptrolle übernehmen.

SM ist auch deshalb asynchron, weil das Einsame und nicht das Gemeinsame im Vordergrund steht. Es geht um das Sichselbstvergessen. Um das Sichselbstbestärken.

Wer seine Bedürfnisse kennt, dem fällt es einfacher einen Partner zu finden, mit dem es gelingt, seine sexuelle Lust zu maximieren. Es gelingt dem Ichkenner sich auf den Sexmärkten in Szene zu setzen. Als Anschauungsbeispiel dient erneut das Internet. Der Ichkenner beziehungsweise der Ichbekenner erstellt ein Profil, das ihn und seine Lüste ganz genau portraitiert. Er kartiert sein sexuelles Ich, um mit einer sexuellen Identitätskarte hausieren gehen zu können. Sein sexuelles Profil gibt ihm vor, welche Videos er in den frei zugänglichen Pornobibliotheken wie xtube zu suchen hat. Es schreibt ihm vor, wie es seinen Weg zum Höhepunkt zu gestalten hat. Vor lauter Lust, vor lauter sexuellem Selbstbezug folgt der Narzisst einem Skript, das losgelöst vom übrigen Menschen erscheint.

Denn das Skript folgt anstatt den eigenen – durch die Pornographie abgetöteten – sexuellen Phantasien den vorgegebenen Links im Internet. Es zählt nur noch die Sexreferenz. Aber die Transformation vom Skriptentwurf zur Skriptinszenierung, die Transformation der eigenen Phantasien in konkrete Handlungen geschieht nicht in der Virtualität. Sie passiert in der Realität, an der mehrere Menschen beteiligt sind. Hier eröffnet sich die Möglichkeit das Skript umzusetzen und damit je nach Blickwinkel die Gelegenheit zum Abschluss oder zum Beginn eines Lernprozesses. „Das Erlernen persönlicher sexueller Skripte ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer stabilen sexuellen Identität“ (Pschyrembel, 2002: 507).

Wenn die Sexualität zum Ziel der Erlangung einer (sexuellen) Identität skizziert wird, dann wird die Sexualität von anderen Menschen, insbesondere vom monogamen Partner abgetrennt. Sexualität ist dann nicht mehr Teil der Liebe, in welcher zwei Menschen gemeinsam ihre Sexualität leben, gemein-sam und gleichzeitig den Höhepunkt erreichen, gemeinsam entdecken und lernen. Es wird getrennt, was in der Liebe eigentlich zusammengehört. „In der Liebe geht es […] um die Komplettberücksichtigung des Anderen oder um die Komplettzugänglichkeit des Anderen“ (Fuchs, 2003: 24). Im Modell der Liebe ist die Sexualität Teil des Systems der Liebenden. Löst man diese Verbindung auf, wird Sexualität definitiv zum System mit eigener Logik und eigener Referenz. Es geht nicht mehr um das Gegenüber, sondern nur noch um die Befriedigung des eigenen Ichs.

Insofern sind alle sexuell emanzipierten Individuen sexuelle Narzissten. Der sexuelle Akt wird in diesem Kontext zum gegenseitigen Dienstleisten, zur „Leistung, die an einem Menschen oder am Objekt ohne Transformation von Sachgütern erbracht wird“ (Bieger, 2002: 7). Das Gegenüber ist kein Mensch mehr, sondern ein Lustobjekt. Aus der Dienstleistung muss weiter ökonomisch argumentiert, ein Nutzen für den Dienstleistungsempfänger resultieren. „Dieser Nutzen besteht meist in einem individuellen Wohlbefinden auf der Basis einer Problemlösung, eines Erlebnisses, einer physischen oder psychischen Weiterentwicklung etc.“ (ebd.:7). Man trifft sich um gemeinsam seinen Triebe zu befriedigen. Man räumt die Märkte als Angebot und Nachfrage. Man leistet für die Dauer eines sexuellen Aktes Dienst an der Identitätsarbeit des Anderen. Man lässt sich benutzen und benutzt den Anderen. Und stellt sich keine Lust ein, setzt man dem Dienst ein Ende.

Die konsequenten Sadomasochisten

Am konsequentesten wird das gegenseitige Dienstleisten von den Sadomasochisten praktiziert. Die Beteiligten treffen sich zur Session, für welche die Spielregeln bereits vor dem Spiel gemeinsam vereinbart und expliziert wurden. Es ist klar, welche Praktiken im Dungeon erlaubt sind, welche Spielzeuge auf dem Weg zum Orgasmus zum Einsatz kommen dürfen und welches Safeword das gemeinsame Spiel sofort beendet. Anders betrachtet kommt das Spiel überhaupt erst in Gange, wenn die individuellen Bedürfnisse der Spielpartner genau artikuliert wurden. Diese orientieren sich einzig an den eigenen Bedürfnissen. Sadomasochisten praktizieren deshalb eine asynchrone Sexualität (vgl. Elb, 2006).

Sie spielt sich vollständig im Ichkino ab. „SM ist ein asynchrones sexuelles Verhalten – die Asynchronität wird durch Hierarchie, Gewalt oder Fetische hergestellt“ (Elb, 2006: 36). SM ist auch deshalb asynchron, weil das Einsame und nicht das Gemeinsame im Vordergrund steht. Es geht um das Sichselbstvergessen. Um das Sichselbstbestärken. „Vielleicht ist es das heimliche Ziel des Selbst, die Spuren des Wilden überall auszulöschen, auch an sich selber, bis das abgetrennte, reine und erhabene Selbst in einer reinen, toten und völlig vorhersehbaren Welt regiert. Ein absolutes Ich versucht, das andere entweder zu vereinnahmen, zu unterwerfen und zu erniedrigen oder beiseite zu schieben und zu vernichten, auch in sich selbst. Selbstalchemie“ (Gross, 1999: 210f.).

Die Literatur bezeugt den sadomasochistischen Praktiken Unterstützung der Identitätsarbeit. Der Beitrag der Ausübung von sadomasochistischen Praktiken wird deutlich, wenn man die Vorlieben hetero- und homosexueller Sadomasochisten vergleicht. Stereotypen werden verdrängt oder umgekehrt geradezu zementiert. Während heterosexuelle Männer mehr auf Knebelungen, Crossdressing und Auspeitschungen stehen, praktizieren die homosexuellen Wrestling und Analsex in Lederoutfits (vgl. Nordling et al, 2006: 49). In den heterosexuellen Szenarien geht es um Demütigungen, in den homosexuellen Szenarien um Hypermännlichkeit (vgl. ebd.: 52).

„However, the gay male participants in our sample accentuate their masculinity, acting in direct opposition of the stereotype. This does not mean that the gay males in the sample are necessarily more masculine than other gay men – accentuating masculinity can be interpreted as a reaction still prevailing stereotypes. […] In light of these findings, the hyper-masculinity of gay men within the sadomasochistic subculture could be understood as a reaction against these stereotypes and a coping strategy to handle the conflict between internalized aspects of such a stereotype and anti-effeminacy attitudes held at the same time. At the same time, some gay men adopt an exaggerated feminine pose probably in an attempt to handle the same conflict by internalizing the stereotype completely and denying any anti-effeminacy attitudes. […] Likewise, the straight men who have sadomasochistic sexual interests may be escaping from the pressure of their narrow gender role demanding that they be strong, masculine, active, dominant and successful” (ebd.: 55).

Im Sadomasochismus finden die Narzissten eine Möglichkeit, um ihre inneren Gegensätze überwinden zu können. Der Bottom ist deshalb Narzisst, weil er sein starkes Ich abgibt und in der Session sein schwaches Ich kultiviert. Sein schwaches Ich soll durch die Session vergessen und abgetötet werden. Die im Alltag ertragene Unsicherheit soll durch das Erdulden von Schmerz vertrieben werden. Das Gegenüber wird zum tonangebenden, richtungsweisenden, strafenden Vater. Umgekehrt ist der Top deshalb Narzisst, weil er sein schwaches Ich abgibt und in der Session sein starkes Ich kultiviert. Sein schwaches Ich soll durch die Session vergessen und abgetötet werden. Die im Alltag empfundene Unsicherheit soll durch das Austeilen von Schmerz vertrieben werden. Das Gegenüber wird zum zu erziehenden, zum entwickelnden, zu betreuenden Kind. Beide hoffen sie in der Session durch das Kultivieren oder Abtöten ihres schwachen Ichs ihr starkes Ich stärken zu können.

Beide stehen sie nach der Session alleine da. Die Vereinigung dauert nur bis zum Orgasmus. Liebe aber gibt es nach der Session keine mehr. Da ist niemand, mit dem man gemeinsam einschlafen kann. Da ist niemand, der alltäglich zuhört. Da ist niemand, mit dem man seine Sorgen und Ängste teilen könnte. Da ist niemand, der die Tränen trocknet. Da ist niemand, der den Arm um die Schulter legt oder einen Witz erzählt.

Die Unendlichkeit des narzisstischen Sex

Man muss nicht mit dem Sadomasochismus argumentieren, um zu zeigen, dass Selfsex ohne ein konkretes, ohne ein liebendes Ich in die Leere führt. Der narzisstische Sex bleibt ausschliesslich Sex und bezieht sich immer nur auf das eigene sexuelle Skript, auf die Befriedigung des sexuellen Triebs. Dieser ist aber nicht befriedigbar. Er ist endlos. Er ist ohne Grenzen. Er ist masslos gierig. Es ist wie in allen Aspekten der Ichjagd, das Ich lässt sich ein Leben lang jagen. Das Ich hat ein Leben lang die Unterschiede zwischen den möglichen und den realisierten Optionen zu ertragen. Erlegt wird es erst auf dem Totenbett, im Moment des Ausscheidens aus dieser Welt. So lange hat sich das Ich zu jagen, so lange hat der Mensch Identitätsarbeit zu leisten. Identitätsarbeit verläuft im Endlosprozess. Sie führt nirgendswo hin.

Das Ich ist nicht endgültig greifbar, nicht endgültig fassbar. „Entscheidender und gleichzeitig geheimnisvoller ist etwas anderes: Die Entfesselung stösst auf etwas Hartes. Ihr enthüllt sich ein geheimnisvoller Stumpf, ein Rest, etwas Unverfügbares“ (Gross, 2007: 36). Die Zuwendung zum eigenen Inneren führt in immer neue Ichkammern. Die Ichmatrioschka ist ohne Ende. Stetig beginnt sie von vorne, die Jagd nach dem Ich. „Aber auch die Innenwendung erlahmt. Das ist das Entscheidende. Je mehr man sich selbst begegnet, umso mehr verliert man sich auch. Die Möglichkeiten der Selbstvervollkommnung, Selbstverbesserung und Selbstverwirklichung sind zwar ingeniös. Aber in der zunehmenden Selbstvergegenwärtigung erhebt sich das unkorrigierbare Selbst und zeigt dieses Etwas, was nicht zu beherrschen ist“ (Gross, 2007: 41).

Wirklich Erlösung findet das Individuum erst durch die Erlösung von der Erlösungsvorstellung. Die Ichjagd wird freiwillig beendet, das Gewehr in die Ecke gestellt. Das Ich lässt das Ich davonziehen. „Sowohl Selbstverzehr als auch Selbstverwirklichung, sowohl Selbstantrieb als auch Identität setzen diese Spaltung des Ichs voraus. Aber die Spaltung oder der Riss wird als Unordnung, als Krankheit und mithin als etwas zu Behebendes gesehen. Ichverwirklichung will eine (alte) Ordnung in der Zukunft wieder – und sicherstellen. Das Ich und all seine Umschreibungen und semantischen Ausprägungen spiegeln die verlorene kosmische Heilsgeschichte. Das gegebene Ich wird als wandelbar an-gesehen, der Wandel braucht Zeit, die Zeit wird Biographie, die wiederum einer individualisierten Heilsgeschichte folgen soll und im Rückblick, wie immer das Leben verlaufen ist, auch in eine solche, in eine Hagiographie, umgedeutet wird.

Aber liesse sich diese Spannung nicht anders bearbeiten?“ (Gross, 1999: 252). Sie lässt sich anders deuten. Sie lässt sich deuten als niemals überwindbare Differenz zwischen dem Möglichen und Wirklichen. Sie lässt sich deuten als Mangel, als Differenz, als Delta, dass das Leben erst lebenswert macht. Dann aber müsste das Ich sich mit sich selbst versöhnen (vgl. ebd: 261). Es müsste sich vom Möglichen als einen gar nicht wünschenswerten Zustand verabschieden. „Damit gerät man in die Nähe dessen, was man umständlich als Bewältigung von sich selbst bezeichnen könnte, eine Selbstbezüglichkeit, die sich achtet und im Zaune hält“ (ebd.: 261). Gross (1994) nennt diese Selbstbefreiung Differenzakzeptanz. „Differenzakzeptanz hiesse das Sich-Lösen von der Vorstellung, alles müsse neu, anders, besser hergestellt oder vervollkommnet werden“ (ebd.: 404). Differenzakzeptanz ersetzt den Selbststeigerungsimperativ. „An seine Stelle tritt ein Wille […], der will, ohne immer zu wollen. Um der Anerkennung seines Wollen nicht zu erliegen, könnte es sein, dass das, was man heute Glück, Zufriedenheit, vielleicht sogar Luxus nennen könnte, das ist, was man nicht muss, und gleichzeitig das, was man nicht will. Was einem zufällt, ohne Müssen und ohne Begehren“ (Gross, 1999: 262).

Der Text schliesst mit der Feststellung, dass den Narzissten trotz kurzfristigen sexuellen Räuschen kein Glück beschert ist. Sie verweilen als perverse Lüstlinge masturbierend an den sich spiegelnden Teichen. Sie ejakulieren in dem Moment in den Teich, in dem sie als Spiegelbild ihr weinendes Ebenbild erkennen. Neidisch blickt der tränengenässte Narziss in die Richtung der glücklich verliebten. Aber so viele unglückliche Narzissten gibt es offenbar nicht zu trösten. Denn der sexuelle Narzisst tritt trotz Medienberichten und knackigen Gesellschaftsdiagnosen nur selten auf. In einer sexualisierten Welt wird die zu Ende befreite Sexualität bald langweilig. „Die Kehrseite der bunten Inszenierungen ist die Banalisierung und Relativierung der Sexualität: Sex ist Event unter vielen anderen, wird verhandelbar, konsumierbar und im Zweifelfalls ersetzbar durch andere Erlebnismöglichkeiten“ (Matthiesen, 2007: 70).

Das verunsicherte Individuum ist in der Unendlichkeit der Optionen auf der Suche nach Sicherheit. Es will nicht auch noch sexuell zerfallen. Es kehrt in den sicheren Hafen der Heterosexualität zurück. „Unter der Vielfalt der neosexuellen Möglichkeiten scheint die Heterosexualität nicht zu zersplittern, sondern geradezu eine neue Funktion als letzte Bastion in einer Gesellschaft zunehmender Individualisierung einzunehmen“ (Matthiesen, 2007: 73) Der perverse Narzisst empfindet die Rückkehr zum Gewohnten und Normalen langweilig. Er weiss aber auch, dass die weniger Sexorientierten etwas besitzen, das ihm immer fehlen wird. Sie haben Schutz für ihr schwaches Ich gefunden. Sie überwinden ihre Einsamkeit durch Selbstverzicht. Sie geniessen Liebe und Geborgenheit. Sie haben durch die Liebe des Anderen gelernt sich selber zu lieben. All dies wiegt irgendwie mehr als die kurzfristige Befriedigung einer unendlichen Geilheit.  

Literaturverzeichnis


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