Leerstellen – Nichtwissen in Zukunft und Vergangenheit
Gefilmt von Joël Luc Cachelin & Hannes Oppermann
Gesprochen von Heidi Maria Glössner & Joshua Seelenbinder
Geschnitten von Milan Friedlos
Schön, dass Du mich wieder einmal besuchst, meine geliebte Zeitreisende. Du hast verstanden: Zukunft gibt es nicht. Sie ist Nichtwissen, sie existiert nur als Idee, als Wunsch, als Anspruch. Zukunft zerfällt in Varianten, sie bleiben stets gleich weit entfernt.
Bei Deinem letzten Besuch erzählte ich Dir, wie wir Chrononauten von der linearen Zeit liessen. Stattdessen glauben wir an Gleichzeitigkeit. Je älter eine Zivilisation, desto mehr dehnen sich ihre Vergangenheiten und Zukünfte, desto offensichtlicher wird ihre Gleichzeitigkeit. Mit einer Drohne überfliegst Du eine greise, mit den Händen arbeitende Teebäuerin. Sie blickt in die Zukunft, Du in die Vergangenheit.
Hast Du gesehen, wie sie anderswo schon viel weiter sind – in Asien, im Valley, in Coworking Büros und Startups, in den Forschungszentren von SwissRe, UBS und Novartis, in den agilen Zellen Deines Arbeitgebers. Hörst Du sie sprechen, erkennst Du ihre Neugierde? Spürst Du ihre Kraft, ihre Dynamik, ihren Willen? Ihnen genügt die Gegenwart nicht. Was sehen Sie was Du nicht siehst?
Dreh Dich um und Du bist umgeben von Geschichte. Als Touristen huldigt Ihr Inszenierungen der Vergangenheit. Errungenschaften wie das Auto, das Plastik und die Hierarchie stehen Euch im Weg. Doch wollt ihr nicht totalitär sein, seid ihr zur Gleichzeitigkeit zur verdammt. Nie wird es Euch gelingen, alle mitzunehmen. Sie wollen nicht, können nicht, fürchten sich vor Veränderung, meiden sich selbst.
Doch orientiert Ihr Euch zu sehr an der Geschichte, werden andere Eure Zukunft schreiben. Geschwindigkeiten ändern sich. Regelmässig erlebten wir, wie Zurückgebliebene uns überholten. Sie waren frei von alten Technologien und veralteten Denkmodellen. Wie Frösche übersprangen sie ganze Epochen – China zu Beginn des 21 Jahrhunderts, Afrika an seinem Ende.
Ich weiss, Du musst weiterziehen. In Erinnerungen suchen wir Identität, in Zukünften Sehnsüchte. Versprich mir, Dir Deine Zeit selbst auszusuchen – und grüss mir die Zeugen aus Vergangenheit und Zukunft, die Du auf Deinem Weg treffen wirst.
Mein lieber Chrononaut, wie toll, Dir einmal in der Vergangenheit zu begegnen! Wir wissen soviel über sie und doch bleibt sie uneindeutig, wandelbar, flüchtig.
Neue Technologien schenken uns neues Wissen über das Vergangene: Algorithmen werten Satellitenbilder aus, um im Dschungel bisher verborgene Ruinenstädte aufzuspüren. DNA Analysen zeigen, von wem wir abstammen. «Egal!» sagst Du. Doch Du bist eine Geschichte, die auf eine Geschichte, die auf eine Geschichte verweist.
Endlich habt ihr die Technologien, um dazu mit den Zeitzeugen aus Vergangenheit und Zukunft zu sprechen. Statt der Zeitachse stur zu folgen, streuen wir Besuche in fernen Zeiten ein. Im Rückwärtsgang findest Du Ursprünge, weiter vorne Prognosen. Gestern hast Du den Autoboom in Detroit besucht, heute die hundertjährigen Wolkenkratzer in New York. Morgen rauchst Du am Wienerkongress eine Zigarre, übermorgen hast Du Sex mit Robotern, nächstes Jahr frierst du deine Gene für ein neues Ich ein.
Liebst Du Deine Zeitreisen, um der heutigen Gereiztheit zu entfliehen, die Gegenwart besser zu verstehen, Dich inspirieren zu lassen, Deine Fantasie zu schulen?
Die Orte in Vergangenheit und Zukunft unterscheiden sich in ihrer Dichte – in den Möglichkeiten, die Dir in einem Moment zur Verfügung stehen. Besonders dicht ist es in den Megastädten. Hier ist alles voller Menschen, Informationen, Angeboten, Gelegenheiten. Stell Dir das Treiben auf den Strassen Jakartas, Manilas, Moskaus, Teherans, Lagos und Kinshasas vor. Wie mehrdeutig, schnell, aufregend und verlinkt es hier ist. Hier kannst du sein, wer immer du sein möchtest.
Um zur Ruhe zu kommen, streuen wir Touren durch Zeiträume mit geringen Dichten ein. In Deinem Schlafzimmer, in der Natur, in den Städten der ersten Jahrtausendwende, ist es ruhig und leer, voller Unschärfen und ungeschriebener Geschichten. Diese Leerstellen sind weniger bunt, weniger schrill. Sie zwingen uns genauer hinzusehen, das Fehlende zu imaginieren, lassen unseren Fragen Raum. Wer kann schon seine Gedankenflüsse stoppen?
Ich muss meine Sachen packen, mein Lieber. Wir werden uns wiedersehen, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.