Kyoto, 2014

Black Is the Colour of My True Love’s Hair

Altes Volkslied

Es ist eine Hassliebe, die mich mit Kyoto verbindet. Schon als ich vor einigen Tagen bei meiner Ankunft aus dem Ubahn-Schacht zurück an das Licht trat, erinnerte ich mich an meine gemischten Gefühle bei meinem letzten Besuch. Die Strassenzüge zeigten sich in genau jener Hässlichkeit, die ich in Erinnerung hatte. Triste Schachbrette ziehen sich über die Ebene, zahlreiche Stromleitungen hängen in der Luft. Alles ist grau und bei den Orientierungstafeln weiss man nicht, ob Wasserleitungen, Stromnetze oder tatsächlich Strassen eingezeichnet sind. Melancholie zieht ein. “Black Is the Colour of My True Love’s Hair” erklingt in meinem Innern und begleitet mich durch diese Tage.

Die Stadt ist teilweise eine einzige Hässlichkeit, die allerdings verschwindet, sobald die Nacht die Farben entzieht. Es wäre aber unfair die Stadt als Hässlichkeit stehenzulassen. Auch das Gegenteil ist der Fall. Kyoto ist überall dort schön, wo man den Flüssen und Flüsschen entlang geht oder wenn man vor einem der zahlreichen gewaltigen Tempelbauten steht. Man trifft auch dort auf Schönheit, wen man das Innere der Stadt verlässt und sich in die entspannten Aussenquartiere begibt. Dort kann man das Tempo drosseln und muss man nicht mehr an jeder Kreuzung an einer Ampel warten. Endlich verstummt dort auch der Lärm der Zivilisation. Es stören keine Autos und es sprechen keine Roboter. Man hört nur noch den Wind, der angenehm durch den Dunst zieht.

Ich verlasse mich beim Entdecken von Kyoto ganz auf das Prinzip der Serendipity, auf die zufällige Entdeckung. Um auf diese zu treffen, wähle ich am Vorabend ein Quartier für meine Erkundungen aus. Einmal angekommen gehe ich den Strassen entlang, die mir besonders gefallen, bis ich auf ein gemütliches Kaffee, ein spannendes Gebäude, einen unerwarteten Tempel treffe. Das tolle an Japan ist, dass dieses Prinzip eigentlich immer funktioniert. Gerade in Kyoto gibt es so vieles zu entdecken. Weil die Stadt einst die Hauptstadt von Japan war und weil sie im zweiten Weltkrieg von Bomben verschont wurde (der damalige Kriegsminister verbrachte seine Hochzeitsreise in Kyoto…).

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Bei meinem Serendipity Poker gibt es zwei Probleme. Zum einen unterschätzte ich die Distanzen masslos (immerhin ist es eine 1.5 Millionen-Stadt). Eine Entfernung von zwei Zentimetern auf der Karte, wird schnell zu einer halbstündigen Wanderung. Gegen 17 Uhr beginnt mein Körper jeweils zu reklamieren und verlangt nach Nahrung und Ruhe. Das zweite Problem sind die Touristen. Es wimmelt hier nur so von Touristen, offenbar ist Kyoto während der Sakura eine besonders beliebte Destination. Mit dem Car werden die begeisterten Japanerinnen und Japaner scharenweise an die Attraktionen gefahren. In Mitten der Meute kann man sich dann nur noch so langsam bewegen wie an der Streetparade oder am Zwiebelmarkt.

Die Menschenmenge raubt der Geschichte ihren Zauber und ihre Würde. Hier in Kyoto kommt erschwerend dazu, dass man für jedes Tempelchen zur Kasse gebeten wird, allerdings ohne eine Vorschau auf das zu Sehende zu erhalten. Hinter einem gewaltigen Tor trifft man dann häufig auf enttäuschende morsche Hölzer. Es bleibt offen wohin das Geld der Besucher fliesst, offenbar nicht überall in die Restauration. Auch die Logik, mit der die Preise und Zutrittsregeln festgelegt werden, bleibt mir schleierhaft. Oft sind die schönsten Tempel gratis, die Schönheit der Tempel korrelieret auch nicht mit deren kulturellen Bedeutung. Meine Lieblingstempel sind die, wo es orange Torii und wachende Füchse gibt.

Umgekehrt besuchen die japanischen Touristen die Tempel streng nach ihrer Bedeutung. Dabei ist die Art und Weise wie die Attraktionen besucht werden, gleichzeitig tragisch und komisch. Man scheint sich nicht wirklich Zeit für einen Tempel zu nehmen, Hauptsache man war dort, verneigte sich vor einer Statue, fotografierte die Sakura samt Stativ und spendete einigen Statuen etwas Geld. Dann geht es per Car oder schlimmer per Taxi in der Fussgängerzone zur nächsten Attraktion. Für die Dokumentation der Besuche gibt es Sammelbücher, in die man bei jedem Tempel den richtigen Stempel machen kann. Wir haben es hier also mit einer Art Panini-System zu tun, von dem aber vor allem Erwachsene angetan scheinen.

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Für meine zukünftigen Streifzüge durch fremde Städte kann ich die Fortschritte der Augmented Reality kaum erwarten. Wie wunderbar wird es sein, wenn die Geschichte der Sehenswürdigkeiten und den Pfad zur nächsten Attraktionen direkt auf die Linse projiziert wird. Das lästige Blättern im Reiseführer, das nervige Studium des unpräzisen Kartenmaterials, das Verpassen interessanter Zeugnisse der Gesichts wird ein Ende finden. Es wird spannend sein, wenn man die Pfade von interessanten Menschen mit ähnlichen Interessen nachlaufen kann – so wie das gerade von Google Night Walk angedacht wird.

Für eine digitale Zukunft bräuchte es allerdings dringend die Einsicht, dass das Netz ein öffentliches Gut und die freie Zugänglichkeit zum Netz so selbstverständlich wie Toiletten, Steckdosen oder Trinkwasser sein muss. Im übrigen habe ich festen zum ersten Mal jemanden mit einer Google-Brille gesehen. Es gibt sie also tatsächlich, die Zukunft ist da. Und ja, man wird zunehmend selbst dafür verantwortlich sein, dass man nicht auch als Tourist in die Filterfalle tritt. Bereits heute wird das Buchen von Hotels und das Recherchieren von Sehenswürdigkeit von Algorithmen beeinflusst.

Was man noch so über Japan wissen sollte. Bei jeder Verabschiedung verbeugt man sich, je länger, je tiefer und je häufiger, desto wichtiger war die Begegnung. Bei jedem Restaurant oder Kaffe erhält man ein Glas Wasser mit Eiswürfeln und ein Tuch, um sich die Hände zu waschen. Zu vielen Speisen wird ein soft boiled Ei gereicht. Rauchen ist in Restaurants und Zügen noch erlaubt, auch wenn wenig Lokale tatsächlich davon Gebrauch machen. Dafür scheint es hier abwegig zu sein, bei einem Restaurant- oder Kaffeebesuch draussen zu sitzen. Für Hundebesitzer scheint es hier ein Standard-Modell zu geben. Akitas haben ein fuchsähnliches Gesicht und sehen immer glücklich aus. In einigen Toiletten sind Lavabos direkt oberhalb des Spühlkastens eingebaut, das Wasser fliesst dann direkt in den Spühlkasten.

Morgen fliegt mich LX 161 zurück nach Zürich, auch wenn die Swiss auch nicht mehr gerade mehr das ist, was sie einmal war. Meine Liebe zu Japan wird mich zurück führen. Das Land ist voller Märchen und voller Geschichte. Es gibt so vieles zu besichtigen, in den besuchten Städten, noch viel mehr aber in den nicht besuchten Städten, vor allem aber in entlegenen Regionen, für die man sich etwas mehr Zeit nehmen müsste. Ich glaube es geht nicht nur mir so, dass man sich kaum noch getraut, den Moment auszuhalten. Die Zeit, die Zeit.


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