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In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?

Zukunftsforschung für das 21. Jahrhundert, Teil 1


Die Zukunft erscheint düster und bald wird sich die Wissensfabrik seit 15 Jahren mit der Zukunft beschäftigt haben. Es ist ein guter Moment, um innezuhalten und in einer Blogpost-Serie über einen sinnvollen Futurismus für das 21. Jahrhundert nachzudenken.

Spätestens im Geschichtsstudium wurde mir klar: Die Zukunft ist von der Vergangenheit abhängig, Zukunftsforschung bedingt Geschichtswissenschaften. Erstens wurzelt jede Veränderung der Gegenwart in längst losgetretenen Veränderungen. Was Zukunftsforscher:innen sehen und besprechen, sind immer nur Fortsetzungen. Zweitens definieren Pfadabhängigkeiten, welche Zukünfte heute möglich sind.

Die Zukünfte der Vergangenheit ebneten zwar die Pfade in die Gegenwart. Aber sie hindern uns heute auf der grünen Wiese neu zu denken: die gebauten Bahnhöfe und Flughäfen, das Bildungs- und Gesundheitssystem. Drittens wurden zahlreiche Zukünfte schon einmal gedacht. Das macht die Vergangenheit zur Art Schatzkammer nicht realisierter Zukünfte. Besonders ergiebige Zeiträume waren das Ende des 19. Jahrhunderts und die 1950er-Jahre, als es eine grosse Begeisterung für die Zukunft gab.

Um sich nicht von selbstverliebten Zukunftsschreier:innen täuschen zu lassen, sollte Zukunftsforschung im 21. Jahrhundert zurückblicken und in Zeiträumen von mehrere Jahrzehnten denken.

Illustration: Eija Vehviläinen


Innovation oder Innovationsinflation?

Veränderungen, die sich über einen Zeitraum von Jahrzehnten erstrecken, passieren häufig unbemerkt. Wer sie entdecken will, muss sich fragen, wann etwas begonnen und geendet hat. Welche Anfänge und Enden erleben wir gegenwärtig, und wie innovativ ist die menschliche Zivilisation zurzeit wirklich? Ist unsere Zeit wirklich so disruptiv, wie Medien, Beobachter:innen und Start-up-isten behaupten? Erleben wir tatsächlich eine Zeitenwende? Wandelt sich so schnell so viel wie nie zuvor? Oder nochmals anders gefragt: Ist das Smartphone die radikalere Innovation als der Telegraf? Haben das Internet oder die Eisenbahn mehr verändert? Antibiotika oder MrNA-Impfungen? Nationalstaaten oder Kryptowährungen?

Ich traue der aktuellen Innovationsinflation nicht – und werde das Gefühl nicht los: Wir stecken im Wartesaal der Zukunft fest. Abgelenkt von Noize und News übersehen wir, was sich für künftigen Frieden, Wohlstand und Freiheit tatsächlich verändern sollte. Das Problem unserer Zeit ist nicht, dass sich zu viel, sondern seit Jahrzehnten zu wenig verändert. Um diese These zu untersuchen, könnte man die Frage stellen, in welchem Jahrhundert wir eigentlich leben. Im ersten Moment ist die Antwort klar. Natürlich leben wir im 21. Jahrhundert. Die Kalender zeigen es eindeutig. Weniger klar werden die Dinge, wenn man mit den Methoden der Historiker:innen nach Epochengrenzen sucht.

Suche nach Epochengrenzen

Wer historische Übergänge untersucht, könnte prüfen, inwiefern sich die Vorstellungen der Zukunft wandeln. Für das gegenwärtige Europa ist der Vergleich mit dem 19. Jahrhundert aufschlussreich. Hier beginnt unsere Zukunft. Es war eine Epoche, in der Europa der ganzen Welt seine Zukunft vorschrieb. Durch den Kolonialismus und die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur passierte das alles andere als friedlich. Umgekehrt ist um 1890 ein grosser Zukunftsoptimismus auszumachen, der sich aus den Errungenschaften der Industrialisierung und dem Fiebern auf den Jahrhundertwechsel spies.1 Die technologischen Möglichkeiten schienen ebenso endlos wie die Vergnügungen in den entstehenden europäischen und amerikanischen Grossstädten.

In dieser Dynamik bildeten sich die Wurzeln von drei Zukünften, die nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend Realität wurden und drei zentrale Lebensbereiche repräsentieren: wie wir essen, wie wir uns bewegen und wie wir bauen.

Die Fleischzukunft
Das 19. Jahrhundert revolutionierte, wie wir uns ernähren. Die damals führenden Wissenschaftler erklärten das tierische Eiweiss zum Superfood, zur entscheidenden Kraftquelle für Soldaten und Fabrikarbeiter. Das war nicht ohne die gleichzeitige landwirtschaftliche Revolution möglich, die das notwendige Getreide bereitstellte. Statt zu hungern, konnte man nun Nutztiere im Überfluss halten. Zusammen mit den Fliessbändern der Zentralschlachthöfe, neuen Kühltechnologien und der industriellen Produktion von Kunstdünger etablierten die Eisenbahnen die Lebensadern des Fleisch- oder Rinderkomplexes.2 Selbst die sozial Schwachen sollten Zugang zum täglichen Fleisch haben. Doch über die Zeit wurde die Fleischzukunft zum lästigen Problem: der hohe CO2-Ausstoss, der Wasserbedarf, die Düngerknappheit, die zunehmende Flächenkonkurrenz, der Irrglaube, eine vegane Ernährung sei ungesund.

Die Autozukunft
Unendliche Mobilität verspricht dagegen die Autoindustrie. Sie hat ihre Ursprünge in der Fleischindustrie. Henry Ford, der für die Produktion von Autos das Fliessband etablierte, sah das Prinzip der mechanisch unterstützten Arbeitsteilung in den Fleischfabriken von Chicago. Dort wurden die Schweine an einem Hacken an der Decke befestigt und von einem zum nächsten Arbeitsschritt durch die Fabrik gereicht. Das Auto ging in Massenproduktion, in der Nachkriegszeit wurden die Städte für sie optimiert. Wohnen konnte man nun auch ausserhalb. Im Grünen, im Familienhaus und mit fleischfressenden Hunden und Katzen, ist es schön. Den Garten muss man auch nicht teilen. Doch die Autos und mit ihnen die notwendigen Parkplätze und asphaltierten Strassen heizen das Klima auf. Die Infrastruktur raubt Platz, die Versiegelung des Bodens heizt die Städte auf und mindert die Biodiversität.

Die Zementzukunft
Damit sind wir bei einer weiteren alten Innovation angelangt, die uns heute hindert, die Zukunft neu zu denken. Um die Einfamilienhäuser zu bauen, brauchte man Beton und damit ganz viel Zement. Er barg das Versprechen, die ganze Welt neu und zukunftssicher zu bauen – in die Breite, über die Flüsse und Täler, immer tiefer in den Boden, immer höher in den Himmel. Doch wie die Mobilität und die Ernährung hat auch der Zement ein CO2-Problem. Global betrachtet, macht man ihn heute für 8 Prozent der Treibhausgasausstösse verantwortlich. Um den Fussabdruck zu verringern, wird in der Produktion wo möglich nicht mit fossilen Brennstoffen geheizt, zum Beispiel mit Schlachtabfällen. Trotzdem verblasst die Zementzukunft – auch weil der Sand knapp wird. Doch wie wären die Städte zu bauen, wenn nicht mit Beton? Und wer wird sich mit der Maxime anfreunden, dass innovatives Bauen im 21. Jahrhundert heissen könnte, nicht zu bauen?

Wir stecken im 19. Jahrhundert fest

Die Autos, das Fleisch und den Zement vor Augen, komme ich zum Schluss: Wir leben immer noch im 19. Jahrhundert. Nicht nur sind dessen Zukünfte aus unserem Alltag kaum wegzudenken. Sie prägen auch hartnäckig die Symbole des Wohlstands: die Fleischgerichte mit Gault Millau Sternen, das Einfamilienhaus mit Ausblick auf die weidenden Kühe, der Tesla. Wenn aber nach wie vor die alten Zukünfte des 19. Jahrhunderts unseren Zeitgeist prägen, dann sind neben Science Fiction Erzählungen auch Forschung, Entwicklung, Innovation, Bildung und Staatsdesign in der Vergangenheit steckengeblieben.

Die Mechanismen der alten Zukünfte mögen mittlerweile hinterfragt werden – die Überlegenheit Europas oder die Annahme billiger und quasi unendlicher Ressourcen. Doch ohne Auto, Fleisch und Zement kommt dann doch keine Zukunft aus. Um tatsächlich einen Epochenwechsel zu vollziehen und ein neues Jahrhundert zu beginnen, bräuchte es den Willen, alternative Zukünfte zu entwerfen und diese nicht als Welt der Dreamer zu verachten. Diese Zukunft ohne Bauplan des 19. Jahrhunderts müsste als Chance wahrgenommen werden für ein besseres Zusammenleben, eine Vitalisierung der Märkte, eine Erholung der Natur. Doch statt Lust spüre ich Angst und Widerstand. Nicht nur weil wir alle unsere Visionen und unser Verhalten überprüfen müssen. Sondern, weil die Gewinner:innen der Vergangenheit das Feld nicht einfach räumen.

Je länger die Menschen des 21. Jahrhunderts warten, Mobilität, Ernährung, das Bauen und damit die Stadtentwicklung neu zu erfinden, desto grösser werden die notwendigen Sprünge in eine rettende Zukunft. Diese Sprünge werden kaum ohne politische Regulierung auskommen. Menschen werden sich bevormundet fühlen, die gesellschaftlichen Spannungen werden grösser. Doch ohne neue Zukünfte wird der Platz zu knapp, die natürlichen Ökosysteme geraten zu sehr aus der Balance. Es drohen autoritäre Top-down-Systeme, die kaum noch Spielraum für ein individuelles Entscheiden lassen.

Für die nächsten Jahrzehnte ist deshalb Trennungskompetenz gefragt. Sie steht im Zentrum einer der folgenden Beiträge über Zukunftsforschung im 21. Jahrhundert.



  1. Lucien Hölscher (2016): Die Entdeckung der Zukunft ↩︎

  2. Jeremy Rifkin (1994): Das Imperium der Rinder ↩︎


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