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Hygiene – Der unterschätzte Innovationsbooster

Das Impfen, Wegräumen von Abfall und sauberes Trinkwasser haben eine Gemeinsamkeit. Alles sind Innovationen, die sich als Reaktion auf Seuchen durchsetzen konnten – die Pest, das Fleckfieber, die Cholera. Dieselbe verstärkende Wirkung für Innovationen hat #Covid19.

Die letzten zehn Jahre waren von einer ambivalenten Wahrnehmung des Innovativen geprägt. Innerhalb unserer Filterbubbles zelebrierten wir sie ohne Ende – mit Design-Thinking-Workshops, Hackatons, Sprints, Konferenzen und Sonderbeilagen zu sämtlichen Aspekten des Digitalen. Trotzdem passierte vielerorts wenig. Die Transformation stockte. Doch seit dem Ausbruch von Corona wird möglich, was vorher undenkbar war. Die SBB gestatten es plötzlich, das Generalabo online zu deponieren. Universitäten digitalisierten innerhalb einer Woche ihren Unterricht. Dass man Corona-Fälle beim BAG per Fax melden mussten, spricht für sich.

Ebenfalls nur zögerlich wandelte sich die Arbeitswelt. Stellvertretend für unsere Versäumnisse stehen Chefs, die sich vor #Covid19 weigerten, ihren Mitarbeitenden Homeoffice zu erlauben (und nun, Ironie der Geschichte, vom Staat dazu gezwungen wurden). Wenig Fortschritte gab es auch in der Diversität der Führungsgremien oder in der Umsetzung von neuen Organisationsformen. Die alten Strukturen schufen Sicherheit und speicherten die Vorteile der Mächtigen. Politisch ging es ebenfalls nur langsam vorwärts. Updates für die digitale Gesellschaft blieben weitgehend aus. Kein Grundeinkommen. Kein Datentresor. Kein digitales Abstimmen. Kein Vertrauen in Kryptowährungen. Kein digitales Patientendossier. Kein Fonds für Start-Ups. Keine europäische Zusammenarbeit, um Einhörner zu fördern.

Offenbar fehlte vielen Mitmenschen und Entscheidungsträgerinnen einleuchtende Gründe, warum sie innovieren sollten. Wir waren in argumentativen Wiederholungsschlaufen der Zukunft gefangen. Naiven Visionärinnen standen Kritiker, Verschwörungstheoretiker und notorische Pessimisten gegenüber. Nun aber gibt es mit #Covid19 einen externen Innovationsvektor, der vielen Erneuerungsprozessen eine Richtung verschafft. Viele erkennen erst jetzt die Vorzüge oder gar die Notwendigkeit des Digitalen. Sie wurden ins Wasser geschubst – und lernen im Rekordtempo zu schwimmen. Zukunftsguru Horx spricht von einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.

Dass Innovation durch Viren verstärkt werden, ist nichts Neues. Bereits in der Vergangenheit funktionierten Pandemien regelmässig als Innovationsbooster. Das ist wenig erstaunlich, geht es doch ums Überleben. In der Sorge um unsere Gesundheit sind wir willig unser Verhalten zu verändern, was wiederum Lernprozesse des Kollektivs auslöst. Am Ursprung dieser Innovationsketten steht stets die Hygiene. Durch sie verhindern wir, dass Krankheiten ausbrechen und sich verbreiten. Infolge des technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts denken wir Hygiene immer wieder neu. Innovationen, die unsere Hygiene verbessern, sind besonders mächtig, weil sie erstens dringend sind, zweitens Sinn machen und drittens Lernprozesse auf der Systemebene anstossen.

Mit Hygiene-Innovationen, die durch die Covid19-Erfahrung angestossen werden, ist nicht das extensive Händewaschen oder Horten von Desinfektionsmittel gemeint. Vielmehr geht es um sechs Booster, die es einer Gesellschaft ermöglichen, smarter mit den medizinischen, ökonomischen und sozialen Gefahren einer Pandemie umzugehen:

In ihrem Zusammenspiel legen die Booster die Grundlage für eine hyperdigitale Gesellschaft. Diese erkennt in ihrer ersten Datenkrise den gesellschaftlichen Wert von Metadaten, Expertise und Netzwerkwissen – um intelligenter mit ihren Ressourcen umzugehen, sich auf Bedrohungen einzustellen, sich rasch verändern zu können und die Wahrscheinlichkeit neuer Pandemien zu verringern. Je länger und intensiver wir dem Virus ausgesetzt sind, desto mächtiger wird Corona als Innovationsbooster. Entscheidend sind die Dauer des Ausnahmezustands, die Einschränkungen unseres Alltags sowie die Medienpräsenz. Ebenso Spuren hinterlassen werden die Suche nach neuen Märkten sowie neuen staatlichen Interventionsformen in Folge der absehbaren Rezession.

Illustration von Karsten Petrat


Booster 1

Don’t Touch – Der Aufstieg unserer Stimmen

Der Covid19-Hygienebooster führt uns in eine No-Touch-Welt. Weil sich die Viren auf Oberflächen einnisten, möchten wir Mitmenschen, Maschinen, Dokumente und Schalter nicht mehr unnötig berühren. Es ist eine Welt der smarten Dinge. Türen öffnen sich automatisch, Wasserhähne reagieren auf Sensoren. Die Waage im Supermarkt bedienen wir mit einer Geste. Wir unterschreiben digital, kaufen von Zuhause aus. Unsere Smartphones und Tablets sind vom Virenbefall nicht ausgenommen. Neue Interfaces sind gefragt. Auf der Poleposition für die Ablösung steht das Voice Computing. In einer No-Touch-Welt bedienen wir die Maschinen statt mit unseren Fingern mit unserer Stimme. Wir gewöhnen uns sogar daran, uns mit künstlicher Intelligenz zu unterhalten. Sie bestellt den Lift, hört uns aber auch zu, wenn wir einen schlechten Tag hatten.

Der Innovationsschub wir durch zwei andere Faktoren beeinflusst. Der Wandel der digitalen Schnittstellen hat einerseits einen ökologischen Hintergrund. Im Vergleich zu Bildschirmen dürften Audio-Interfaces weniger Rohstoffe und Energie verbrauchen. Anderseits verstecken sich in unserer Stimme zahlreiche persönliche Informationen. Das reizt die Datensammler, neue Gadgets in den Markt zu drücken. Im Audio-Zeitalter blühen Podcasts und Hörspiele auf – zumal sich Bildung und Kultur in Pandemiezeiten in die Virtualität verlagern. Entstehen neue (soziale) Medien, in denen wir nur sprechen, aber nichts mehr sehen? Werden wir endlich die Passwörter los, werden wir vorsingen, damit man uns identifizieren kann? In einer Welt ohne Berührungen kommt das Bargeld weiter unter Druck – nicht ohne Befürchtungen und Verschwörungstheorien. Offensichtlich verstärkt die hyperdigitale No-Touch-Welt sämtliche Fragen rund um Datenschutz, -sicherheit, -ethik und -besitz.

Selbst alte soziale Gewohnheiten könnten sich verändern – wenn wir uns zum Beispiel zur Begrüssung die Hand nicht mehr reichen. Stattdessen verbeugen wir uns. In Bahnhöfen, Supermärkten und Parks halten wir Distanz. Wie in Japan könnten Schutzmasken Teil unseres Alltags werden. Viele chinesische Service-Angestellte mussten bereits vor Corona einen Spuckschutz montieren. Supermärkte installierten Plexiglasscheiben, um ihre Kassiererinnen zu schützen. Werden wir Handschuhe tragen, wenn wir das Haus verlassen? Durch diese Formen des Selbstschutzes entmenschlichen und anonymisieren wir uns, nähern uns weiter den sterilen gleichgeschalteten Maschinen an. Selbst unser Sexualverhalten könnte sich in der Sorge um unsere Gesundheit wandeln. Selfsex nimmt ebenso zu wie alle erdenklichen Formen von Cyber- und Maschinensex. Die fehlenden Berührungen bleiben nicht folgenlos. Verkümmern wir? Leidet unser Immunsystem unter der fehlenden Wärme? Kompensieren wir die fehlenden Nähe mit Tieren und Pflanzen?


Booster 2

Netzwerkintelligenz – Mit Hilfe von Daten sehen

Pandemien sind Duelle zwischen Netzwerken – jenem der Erreger und jenem der befallenen Lebewesen. Um zu überleben, muss das Virus von einem zum nächsten Menschen springen. In einer globalmobilen Gesellschaft erstreckt sich seine potenzielle Verbreitungszone über den gesamten Planeten. #Covid19 geht besonders raffiniert vor, merken die Infizierten doch zunächst gar nicht, dass sie befallen sind. Der Netzwerkcharakter einer Pandemie führt zum Stresstest für das Gesundheitswesen. Fangen sich gleichzeitig sehr viele das Virus ein, gibt es nicht genügend Tests, nicht genügend Personal, nicht genügend Betten auf der Intensivstation. Deshalb sind Selbst-Isolierung, Händewaschen und Social Distancing wichtig, um die Übertragungsketten zu stoppen. Je besser wir diese Netzwerke erkennen und unsere Abwehrstrategie an ihnen ausrichten, desto geringer sind die Schäden.

Unsere wichtigste Waffe im Duell gegen die Krankheit ist unser Wissen. Epidemiologinnen und Statistikerinnen steigen zu den Superstars der Medien und des Arbeitsmarkts auf. Zu ihrem Wissen gehören erstens Kenntnisse über das Netzwerkdesign des Virus. Es setzt sich aus Symptomen, Übertragungswegen, Inkubationszeit und Verbreitungsgeschwindigkeit zusammen. Zweitens braucht es im Duell ein Verständnis über uns als Virenträger. Besonders wichtig sind Superspreader sowie die Orte, an denen sie verkehren. In Südkorea nutzte #Covid19 die Shincheonji Sekte, in Indien einen Guru, um effektiv zu wachsen. Drittens ist die Art und Weise der menschlichen Vernetzung entscheidend. Krankheiten verbreiten sich durch Flugzeuge, Züge, Busse und Metros. In unseren Kommunikationsnetzwerken fliessen die Informationen über eine Krankheit. Sie beeinflussen, wie wir uns verhalten. Unser Wissen kann nur wachsen, wenn wir es teilen. Das wissen auch Trolle und Faker. Sie missbrauchen die Unsicherheit, um Falschinformationen zu streuen.

Netzwerkintelligenz heisst, dieses Wissen für die Hygiene zu nutzen, heisst zur richtigen Zeit die richtigen Personen am richtigen Ort zu isolieren, zu testen und zu behandeln. Diese Herangehensweise ist natürlich nicht neu – und prägt, wie wir in Zukunft die Pandemien Übergewicht oder Einsamkeit behandeln. Doch unsere Smartphones schaffen neue Wege, um die Verbreitung des Virus zu beobachten, minimalinvasiv zu intervenieren und den Erfolg der Massnahmen zu evaluieren. In Israel fordert man Bürgerinnen, die einer infizierten Person zu nahe kamen, per SMS auf, sich zu isolieren. China soll warnende Drohnen eingesetzt haben. Hygiene der Zukunft heisst Social Engineering. Daraus ergeben sich zahlreiche ethische Fragen. Die Politik muss zwischen digitaler Überwachung, Mortalitätsraten, Überlastung des Gesundheitssystem, psychischen und ökonomischen Folgekosten der Isolierung abwägen. Open Data könnte durch freiwillige Transparenz und Zugänglichkeit positive Szenarien stärken und düstere schwächen.


Booster 3

Peter und der Wolf – Tieren und Pflanzen mehr Bedeutung schenken

Die Sorge um unsere Hygiene fordert uns auf, unser Verhältnis zu Tieren und Pflanzen zu überdenken. Wie im Kindermärchen Peter und der Wolf kennen wir alle die Gefahren eines nicht nachhaltigen Lebensstils. Trotzdem hören wir nicht auf, unsere natürlichen Ökosysteme zu schädigen. Wenn wir hinschauen, erzählt uns Corona einiges über unser Verhältnis zu Tieren. Während wir uns einsperren, erobern sich die Tiere ihren natürlichen Lebensraum zurück. In Venedig tauchten im sauberen Wasser Delphine auf, in Japan verlassen die Hirsche die touristischen Parks und sehen sich in den Städten um. Bereits diese kleinen Geschichten sollten ein Hinweis sein, der Natur in der Bewältigung und Aufarbeitung der Krise genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Weil #Covid19 seinen Ursprung bei Tieren beziehungsweise unserem Umgang mit Tieren beginnt, müsste in Zukunft mehr Geld in die Erforschung von Tieren, Pflanzen und ihren Ökosysteme fliessen – in die Biologie, Geographie, Veterinärmedizin und Umweltwissenschaften.

#Covid19 darf nicht nur Innovationen stärken, um mit dem Ausbruch einer Krankheit fertig zu werden und eine Pandemie einzudämmen. Viel wichtiger sind Innovationen, die das künftige Ausbrechen von Krankheiten verhindern. Konzentrieren wir uns kurzsichtig auf die Symptome statt die Ursachen des Virus, werden sich die Ausbrüche wiederholen und aggressivere, tödlichere Viren auftauchen. Covid19 begann möglicherweise bei Fledermäusen. Eine andere Variante des Narrativs setzt das Pangolin an den Ursprung der Pandemie. Das niedliche Schuppentier ist das am häufigsten illegal gehandelte Tier der Welt. In Asien gilt das Pangolin als Delikatesse, seine Schuppen werden als Arzneimittel verwendet. Diese Eigenschaften begründen einen lukrativen Markt, gerade in ärmeren eher ländlichen Regionen. Im Februar erliess die chinesische Zentralregierung Gesetze, um den Verzehr von Wildtieren zu verbieten. Allerdings gab es bereits bei der Sars-Epidemie vor siebzehn Jahren ähnliche Vorstösse. Sie verpufften.

Unbequemer sind die Vermutungen, das Abholzen von Wäldern, die industrielle Landwirtschaft oder die Massentierhaltung könnten für die gefährlichen Viren verantwortlich sein. Durch das Abholzen fehlt Tieren der natürliche Lebensraum, weshalb es häufiger zu Kontakten zwischen Menschen und wilden Tieren kommt. Monokulturen schwächen die Immunsysteme der Tiere. Folglich beginnt die Bedrohung der Viren bei unserem Konsumverhalten und insbesondere unserer Ernährung. Wir alle tragen die Verantwortung für #Covid19. Es wäre angezeigt, unser Konsum- und Ernährungsverhalten zu reflektieren. Der Booster müsste Land-, Forstwirtschafts- und Ernährungsreformen nach sich ziehen, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Epidemien zu reduzieren. Sonst wird der Wolf wieder kommen…

Booster 4

YoYo-Wirtschaft – Wirtschaftsförderung in beschleunigten Zyklen

Pandemien bauen die ökonomischen Zyklen um. Ihr Takt wird höher, die Ausschläge grösser. Auf ausgeprägte Wachstumsphasen folgen schnelle, starke Rezessionen. In diesen steht das öffentliche Leben still. Für ein solches Szenario einer YoYo-Wirtschaft spricht unter anderem die Vernetzung des Planeten. Kaum ein Land bleibt verschont, wenn irgendwo ein Erreger wirksam wird. Die gerade erwähnte Abholzung sowie die geschädigten Ökosysteme deuten ebenfalls auf wiederkehrende Pandemien hin. Auch innerhalb einer Pandemie-Episode deutet sich ein YoYo-Muster an. Experten rechnen mit einer zweiten #Covid19-Welle im Herbst. Dazwischen wird man uns voraussichtlich rauslassen, um dann gegen Spätsommer erneut Social Distancing auszurufen. Weil die YoYo-Phasen in den einzelnen Ländern versetzt verlaufen, machen nationale Lösungen wenig Sinn. Trotzdem wachsen die Versuchungen des Nationalismus samt Grenzen und Mauern auf. Zahlreiche Corona-Kommentatoren reden den starken, den Superstaat herbei.

In einer YoYo-Wirtschaft könnten die wärmeren Sommer zu den Boomphasen und die Winter zu den reflexiven Pausen des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens werden. Begeben wir uns dann von November bis März in eine Art Winterschlaf? Spielt sich das Leben im Winter mehrheitlich online und medial vermittelt statt, während wir im Sommer das Leben draussen in der Gemeinschaft geniessen? Werden die Städte im Winter zu Ghosttowns? Formiert sich in den kalten Monaten ein Polizeistaat, der das Ausgehen unterbindet? Entsteht dazugehörig eine rebellische Untergrund-Kultur, die sich im Unsichtbaren, ohne trackbare digitale Gadgets trifft? Um mit der YoYo-Wirtschaft zurechtzukommen – ihren ausgeprägten Zyklen, ihren Schliessungen und Leerläufen – braucht es neue Lösungen, um Menschen, Unternehmen und unsere Innovationskultur gegen die gestiegene Volatilität abzusichern. Offenbar ist unser ökonomisches Immunsystem einer mehrmonatigen Krise nicht gewachsen. Besonders ausgesetzt sind den Wellen die Cloud-Mitarbeitenden, Selbständigen und Kulturschaffenden. Auch Start-Ups sind exponiert, hatten diese doch noch keine Zeit, um Reserven zu bilden.

Lohnsysteme, Sozialversicherungen, Fiskalpolitik und die Wirtschaftsförderung kommen unter gehörigen Innovationsdruck. Neu ist dieser nicht. Zum Grundeinkommen gab es eine Volksabstimmung, die Nationalbanken stossen mit ihrem billigen Geld längst an Grenzen. Neue Absicherungssysteme überbrücken Monate mit schlechter Auslastung. Aber fliessen diese Entschädigungen an die Menschen oder die Unternehmen? Werden die Staaten, die Konzerne oder die Crowds diese Grundeinkommen ähnlichen Entschädigungen bezahlen? Begründet die YoYo-Wirtschaft Verstaatlichungen, Staatsfonds, die sich an Unternehmen, Einhörnern und Zebras beteiligen? Und was ist zu retten? Die unterdigitalisierten Banken, die zu billig herumfliegenden Airlines? Eine Wiederholung des Covid-Szenarios in den nächsten zehn Jahren reicht, um die staatliche Infrastruktur modular neu zu denken. In Pandemiezeiten könnten Schulen zu Spitälern werden, Kinos zu Lagerhallen für Hygieneprodukte. Auch die YoYo-Wirtschaft verstärkt die Re-Organisation der Wirtschaft durch Ökosysteme. Neben Kundenvorteilen, dem Streben nach Innovation sowie dem Teilen von Ressourcen kommt nun das Kriterium einer sich ergänzenden Infrastruktur und Belegschaft in Krisenzeiten ins Spiel. Bei Aldi arbeiten McDonalds-Mitarbeitende, deren Restaurants zurzeit geschlossen sind.


Booster 5

Rennovation der Wissensgesellschaft – Comeback der Expertinnen

#Covid19 beschleunigt die digitale Reform von wissensbasierten Expertenorganisationen sowie der Infrastruktur und den Institutionen der Wissensgesellschaft. Die Erneuerungen gewinnen an Dringlichkeit, weil Wissen der wichtigste Wirkstoff ist, um Pandemien frühzeitig zu erkennen und smart zu behandeln. Kein Wunder feiern Expertinnen, die Lust am Wissen und harte wissenschaftliche Fakten durch die Krise ein Comeback. Am schnellsten wächst und verbreitet sich Wissen durch Kooperationen – zwischen und von Staaten, Unternehmen und Universitäten. Interdisziplinarität ist wichtiger denn je. Ohne die Zusammenarbeit von Medizin, Statistik, Volkswirtschaft, Biologie und Ökologie resultieren zu kurzsichtige Lösungen. Ebenso entscheidet die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Wirtschaft, wie schnell und nachhaltig eine Gesellschaft auf ein Virus oder Technologiesprünge reagieren kann. Dieses Wissen der Zukunft versteckt sich häufig in Daten. Aber Wissen ist nicht Erkenntnis, ist nicht Innovation. Diese setzt Dialog voraus – insbesondere, wenn sie nicht totalitär sein will. Keine Expertin weiss alles.

Die Angst vor dem Virus und die Massnahmen, um dieses zu stoppen, prägen, wie wir arbeiten, lernen und Kultur geniessen. Wir arbeiten zu Hause, schauen Fussball im Fernsehen statt im Stadion. Filmstudios lancieren Filme gleichzeitig im Kino und auf Streamingportalen. Theater erfinden sich digital neu. Lodern die Infektionsherde, finden Bildung und Weiterbildung im Wohnzimmer, Wald oder Schlafzimmer statt. Durch die Covid-Erfahrung erhalten die Arbeits- und Organisationsformen, Führungsansätze und Karrieren der digitalen Transformation neuen Aufwind. Facility-Manager drängen auf neue Bürokonzepte, um die Auslastung ihrer Gebäude zu verbessern. Das C-Level meldet sich in den sozialen Netzwerken per Videobotschaft an die Mitarbeitenden. Je mehr wir im Home Office arbeiten, desto mehr gewöhnen wir uns an Videokonferenzen, erkennen aber auch deren Grenzen. Zu telefonieren wird wieder salonfähig. Ein kurzes Telefonat schafft mehr Nähe als eine e-Mail, viele Fragen lassen sich im Gespräch schneller klären. Gewonnene Freiheiten werden die Mitarbeitenden nicht zurückgeben.

Der Corona-Booster verstärkt die digitale Transformation sämtlicher Institutionen einer Wissensgesellschaft – der Schulen, Bibliotheken, Spitäler, Verwaltung, der Parlamente. Es wird offensichtlich, wie wichtig der digitale Zugang zu Quellen, Literatur und Datenbanken ist. Die neue Digitalisierungswelle setzt neben einer neuen Arbeitskultur, entsprechende Hard- und Software, Datenschutz sowie ein schnelles stabiles Internet voraus. Um die Netze nicht zu überlasten, drosselte Netflix seine Streamingqualität. In der Schweiz haben nur 20% der Bevölkerung Zugang zu Glasfaser, im Vergleich zu 82% in Südkorea. Je länger der Glasfaserausbau auf sich warten lässt, desto mehr nutzen wir 5G Hotspots. Was #Covid19 auch zeigt: Pflegefachkräfte, Briefträgerinnen, Verkäuferinnen, Lehrpersonen, Bauern und ihre Erntehelfer sind systemrelevant. Solidarität nach Corona heisst, diese dienstleistende Infrastruktur der Wissensgesellschaft finanziell und in ihrer Reputation aufzuwerten.


Booster 6

Home Alone – Ausharren in meiner kleinen Welt

Covid19 reduziert uns auf unsere kleine Welt, unsere Kernfamilie, unsere Beziehung, unser Zuhause. Der Virus zeigt uns eindrücklich, wie wichtig die Beziehung zu uns selbst ist. Unser Bewegungsradius wird kleiner, nicht digitale Unterhaltungsangebote schrumpfen. Während die Nähe zum Ich grösser wird, rücken die Mitmenschen in die Ferne. Social Distancing! Plätze, Veranstaltungen, Parks und öffentliche Verkehrsmittel werden zu Sperrzonen. Sicher vor den Viren sind wir einzig in den eigenen vier Wänden. Die Nachfrage nach Gütern, die wir ausserhalb des Hauses brauchen, nimmt ab (Kleider, Parfums, Handtaschen). Dafür konsumieren wir mehr Produkte, die aus unserem Heim einen kleinen Palast machen (Möbel, Gartenartikel, Küchenartikel). Wir reduzieren das Pendeln und Feiern. Ferien machen wir zuhause im Garten, wo wir gleich noch das eigene Gemüse ziehen. Prepper machen sich autark. Sie bereiten sich auf das Schlimmste vor, sind unglaublich misstrauisch. Durch Hamsterkäufe produzieren sie, im Sinne von selbsterfüllenden Prophezeiungen, tatsächliche Versorgungsengpässe. Unseren Nachbarn schenken wir mehr Aufmerksamkeit. Immobilienbesitzer und -verwalter werden zu Communitymanagern. Das kann Gated Communities ebenso stärken wie die Nachbarschaftshilfe und die gegenseitige Solidarität. Siedlungen blühen auf, mit gemeinsamen Yoga-Sessions in der Morgensonne oder selbst betriebenen Bäckereien im Innenhof.

In den digitalen Kanälen, die aus unseren Miniwelten hinausführen, geniessen die Verschwörungstheorien Hochkultur. Wer weiss schon, welche unreinen Hände was berührt haben, wer was im Schilde führt. Wer kann beweisen, woher das Virus kommt? Wer vertraut noch den Regierungen, dem Krisenstab? Sündenböcke werden gesucht. Trump sprach vom China-Virus, in der Geschichte wurden immer wieder Randgruppen für Pandemien verantwortlich gemacht. Auf Facebook rufen Posts dazu auf, nach der Krise nationale Produkte und Dienstleistungen zu kaufen. Das ist gut gemeint, stärkt jedoch ungewollt die Abschottung, die Missgunst, das Missvertrauen. De-Globalisierung könnte ebenso eine Folge der Krise sein wie ein übertriebener Nationalismus. Die aus #Covid19 folgenden Innovationen für unsere kleine Welt sind deshalb einerseits Retro-Innovationen. Sie zelebrieren das Mikro-Unternehmen, das Lokale. Anderseits stärken sie Lieferdienste, die uns Zuhause mit Gütern jeglicher Art versorgen. Davon profitieren Dienstleister, die uns Zuhause massieren, unsere Haustiere medizinisch versorgen und Haare schneiden oder in unserer Küche ein Sternemenü kochen. Ohne digitale Präsenz und dazugehörige Reservationsplattform können sich diese Dienstleister kaum in Szene setzen.

Im Schneckenhaus eingesperrt, müssen wir uns mit uns selbst beschäftigen. Die kleine Welt ist voller iTime. Es entwickeln sich neue Kultur- und Medienformen. Onlineserien spielen in den Wohnzimmer der Schauspielenden, Musikerinnen geben Konzerte in ihren Wohnzimmern. Sie entführen uns in fremde Welten, an fantastische Orte, die jetzt unerreichbar sind. Der Fokus der neu entstehenden Medien liegt auf Daten, Fakten und der Zusammenstellung von Literatur-, Serien- und Filmlisten. Sie überprüfen Wahrheiten, beleuchten ungewohnte Perspektiven, lassen unsere Filterbubble platzen, fassen in Realtime die neuesten Erkenntnisse von Forschenden zusammen. Für die einen wirkt diese Pause beruhigend, der Stress nimmt ab. Man erkennt, wer und was einem wirklich wichtig ist. Andere leiden unter den Fragen, mit denen sie sich plötzlich konfrontiert sehen. Sie können es kaum erwarten, ihr Schneckenhaus in ein Floss umzuwandeln und in die Zukunft zu padeln.


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