mitte.jpg

Auf dem Hochplateau – HR für Menschen in der Lebensmitte

Mit ihrem neuen Buch «Mitte des Lebens – Eine Philosophie der besten Jahre» stürmt die Philosophin Barbara Bleisch zurzeit die Sachbuchcharts. Selbst in der Mitte des Lebens, zögerte ich nicht, ihren Text in den Sommerurlaub zu nehmen. Die Lektüre animierte mich zu einem Gedankenspiel. Was würde mir als Angestellter helfen, durch die Krisen des “Mittelalters” zu erkennen, an was mir wirklich etwas liegt? Aus diesen Bedürfnissen leite ich vier Rolle für HR ab.



Themen in der Lebensmitte

In der Lebensmitte sind wir gleichzeitig mit der Reflexion unserer Vergangenheit und unserer Zukunft beschäftigt. Wir betrachten, was war und überlegen, was noch sein könnte. Vor unserem geistigen Auge ziehen unsere alternativen Biografien auf: sämtliche Leben, die wir ebenfalls hätten leben können – wenn wir uns für eine andere Ausbildung, eine andere Wohnung, einen anderen Wohnort, einen anderen ersten Arbeitgeber entschieden hätten, wenn wir hier etwas mehr und dort etwas weniger Glück gehabt hätten.

Die Kernfrage beim biografischen Nachdenken in der Lebensmitte ist, ob wir so weiterfahren, wie bisher oder ob wir nochmals neu einspuren. Wir prüfen, ob es «weitere Orte des Begehrens» gibt, die uns «neu und anders erfüllen» (S. 16).

Was hat mich motiviert, meinen Weg zu gehen? Mache ich das, was ich am besten kann und sehen andere Menschen, wer ich wirklich bin? Stimmt mein Verhältnis von Beruf und Freizeit? Brauche ich soviel Lohn wie heute oder würde weniger Geld mit mehr Freiheiten einhergehen? Sollte ich nochmals studieren oder gar eine Lehre machen, um anderen Aspekten meines Selbst mehr Raum zu schenken?

Der bewusste Entscheid zwischen «Aufhören» und «Weiterfahren» hilft von der «Fülle» eines mittleren Alters zu profitieren. Allerdings können sich in der Reflexion zur Lebensmitte existenzielle Unsicherheiten einschleichen. Die einen langweilen sich und fühlen sich leer, weil sie alle Lebensziele bereits erreicht haben. Andere sind enttäuscht, weil sie erkennen, dass sich ihre Lebensträume niemals realisieren werden. Zwischen dem, was man sein wollte und was man geworden ist, klafft ein gefürchiges Loch. Wieder andere leiden an innerer Unruhe, die niemals abzuklingen scheint.

Stärker als in jungen Jahren wird uns bewusst: die Zeit, um unserer Biografie eine Geschichte zu geben, ist beschränkt. Dabei sind Krisen «Kipppunkte», «die wesentliche Dinge zur Klarheit bringen, im Guten wie im Schlechten» (S. 35). Im Interview mit der NZZ konkretisierte Barbara Bleisch diesen Punkt. «In Krisen wird uns aber oft bewusst, woran uns wirklich liegt. Und manchmal erwächst daraus die Schubkraft, etwas zu ändern».


HR für das «Hochplateau»

Auf dem «Hochplateau» angekommen, entscheidet sich, ob wir unsere Vitalität weitere Jahrzehnte erhalten oder diese von nun an kontinuierlich verlieren. Zukunftsorientierte Unternehmen wissen, wie wichtig Neugierde und Ideenreichtum für die Gesundheit und Innovationskraft ihrer Belegschaft sind. Sie investieren in deren Lebendigkeit und verhindern, dass sie «innerlich zerfasert» und langsam «abstirbt» (S. 203). Was aber könnten vorausschauende Arbeitgeber für ihre Mitarbeitenden auf dem Hochplateau konkret tun?

Atelier für Biografiedesign

Der wohl offensichtliche Ansatz eines vitalisierenden HRs für Mitarbeitende auf dem Hochplateau besteht in einem Angebot für biografisches Design. Genau wie Produkten und Prozessen können wir unserer Biografie Form geben. Bevor wir die Möglichkeiten zu einer Geschichte verbinden, gilt es zunächst alle Alternativen auf den Tisch zu bringen. Was würden wir gerne häufiger tun und was möchten wir stärker nach aussen tragen?

Standortbestimmungen, Laufbahncenter und Biografieautorinnen unterstützen die Mitarbeitenden, ihre zweite berufliche Hälfte selbstbewusst zu planen. Sie stellen Fragen, die kurzfristig verunsichern aber langfristig stabilisieren. Vielleicht brauchen Menschen auf dem Hochplateau Unterstützung, um neu anzufangen, neue Lebensziele zu formulieren oder Projekte zu definieren (S. 201). Wohlmöglich sehnen sie sich danach, ihr Leben in einem grösseren Kontext zu verankern und dadurch mit Sinn aufzuladen (S. 186) – in einer Idee für eine bessere Zukunft, in einer sozialen Gemeinschaft oder Bewegung.

Agentur für aufrüttelnde Erfahrungen

Nicht zu verstehen, nicht zu wissen, noch nicht vernetzt gedacht zu haben, regt zum Lernen an. Staunen können wir im Museum, bei Ausflügen in Grossstädte, beim Lesen, bei einem Film oder spannenden Gespräch. Barbara Bleisch schreibt, sich zu verlieren, sei die klügste Art, um im Leben fündig zu werden (S. 239). Folgt man ihrer Aufforderung zum Staunen (S. 214), sollten Arbeitgebende wie beim Switzerland Innovation Park Basel auf eine herausragende Architektur achten – samt Aussenflächen. Einen ähnlichen Effekt hat das Aufladen von Arbeitswelten durch die Kunst oder die Zukunftsvisionen von Künstler:innen.

HR für das Hochplateau könnte neue erste Male ermöglichen (S. 200) oder zufällige Ideen und Begegnungen wahrscheinlicher machen. Auch der Austausch mit anderen Unternehmen, Spiele oder «Personalities in Residence» (wie im HSG-Square) wecken unsere Neugierde. Wissenscoaches könnten unsere Erkenntnislücken transparent machen (S. 219). Natürlich geht es nicht darum, alles zu wissen – zum Beispiel werde ich niemals ein Nuklearspezialist sein. Aber sind wir nicht alle unsicher, was uns wirklich interessiert? Damit wir ehrlich über unsere Lücken sprechen, benötigen wir das Gefühl, uns fallenlassen zu können (S. 224).

Ladestation für Lebensenergie

Um uns vom verbissenen Festhalten an Zielen zu befreien, schlägt Barbara Bleisch vor, Dinge zu tun, die keinen monetären oder karrierenahen Zwecken dienen (S. 164 ff.). Wir sollten sie ihrer selbst wegen tun und nicht wegen irgendeiner Belohnung (S. 170). Das können Reisen sein, auf denen wir die Welt und unser Selbst besser kennenlernen oder Aktivitäten, die uns emotional berühren und mit denen wir vielleicht der Gesellschaft etwas zurückgeben (durch die Fürsorge für Tiere, für alte oder ganz junge Menschen). Und sehnen sich nicht die meisten danach, mit ihren Händen, Stimmen oder Ideen kreativ etwas zu erschaffen?

Auch wenn wir Putzen, Aufräumen oder Rasenmähen wirken wir unserer Rastlosigkeit entgegen (S. 168). Sollte HR für das Hochplateau deshalb das gute alte Ämtli-System wieder beleben? Etwas naiv könnte man weiter das “Fötzelen” oder Misten von Hühnerställen vorschlagen, um die nervösen Geister zu beruhigen; why not. Grundsätzlicher könnten Arbeitgeberinnen allen ihren 44-Jährigen ein Jahr lang die 4 Tage-Woche ermöglichen. Deren Batterien laden sie schliesslich auf, wenn sie mehrmonatige Sabbaticals zahlen, vermehrt auf asynchrone Arbeit setzen oder Jahresarbeitszeitmodelle mit vielen Ferienwochen anbieten.

Fachstelle für Entschlackung

Apropos Energie freilegen: Noch wichtiger als das Erschliessen neuer Möglichkeiten ist in der Lebensmitte – ganz im Sinne der Exnovation – die Frage, mit was wir aufhören sollten. Immer nur Neues aufzuladen funktioniert nicht. Sonst überlasten wir uns und enden als biografische Messies. Wie die Pokerspielerin Annie Duke ausführlich beschreibt, geniesst das Aufhören aber dummerweise einen schlechten Ruf. Wir verbinden es mit dem Scheitern und mit der Reue, Energie, Zeit und Geld in falsche Projekte investiert zu haben. HR in der Lebensmitte heisst deshalb das Selbstbewusstsein zu stärken, damit wir beenden, was sinnlos geworden ist.

HR als Anlaufstelle für Entschlackung ist uns behilflich loszulassen, was uns schadet, unsere Wege zum Glück verbaut, uns belästigt. Das Reduzieren destilliert unser Selbst zu seiner Essenz. Entschlackung könnte HR auch der Organisation als Ganzes anbieten. Dann ist sie mit Interviews und Befragungen zur Stelle, um eine «Exnovationsbibliothek» zu erstellen. In dieser Sammlung finden sich alle Produkte, (HR-)Prozesse, Kommunikationskanäle, Social Media Accounts, die man am besten abschafft, um Platz für Neues freizulegen.


Entwicklungsprogramme für 40+-Jährige?

Selbstverständlich können Unternehmen diese Ansätze kombinieren und zu einem Entwicklungsprogramm für 40+-Jährige verdichten. Neben Inputs, Deepdives in die potenziellen Lebenskrisen und den Austausch mit anderen 40+-Jährigen gilt es tage- und wochenweise Leerstellen der Ruhe, Erholung und der Entspannung zu schaffen, damit die entscheidenden Fragen überhaupt durchbrechen können. Vermutlich sind Programme für 40+ auch wichtiger als 60+-Programme, um in die «Leistungsfähigkeit» der Belegschaft zu investieren. Nicht im Alter, sondern in der Lebensmitte entscheidet sich, wer eine lebenslange Neugierde verinnerlicht.

Damit solche Vitalitätsprogramme funktionieren, sind vier Voraussetzungen zu beachten:


Hier für den Newsletter der Wissensfabrik anmelden

Bald hörst Du von mir.