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Hiroshima, 2014

Und plötzlich gingen sie auf. Die vielen Knospen öffneten sich und präsentieren sich nun in allen Abstufungen zwischen weiss und rosa. Die Farbe verleiht dem unspektakulären, eigentlich hässlichen Hiroshima etwas Leichtigkeit. Die Geschichte der Stadt ist unsichtbar. Ein einziges Gebäude wurde als Zeuge an die Schrecken der Vergangenheit übrig gelassen. Ansonsten wurde alles mit einem Schachbrett des Konsums überzogen, fast so, als müsste man demonstrieren, dass alles im Sinne des Wachstums irgendwie weitergeht.

Am ersten Tag in Hiroshima musste ich einer dieser heiklen Reisemoment überstehen. Innerhalb weniger Minute riss meine Reisetasche auf und ich verlor meine RFID-Karte für die Metro. Ich freue mich auf den Moment, in dem das Smartphone zum ultimativen Lebensbegleiter wird und sämtliche Schlüssel und Zutrittskarten ersetzen wird. Dann werde ich die Angst los sein etwas zu verlieren und tatsächlich auch weniger verlieren. Jedenfalls lernte ich in solchen Momenten durchzuatmen, mich daran zu erinnern, dass letztlich nur Geld verloren geht und es mehr Sinn macht, sich auf das Kommende zu freuen als zu trauern.

Viel zu tun gibt es nicht in dieser Stadt. Ausser der Erinnerungsstädte gibt es geschichtsbedingt keine Sehenswürdigkeiten. Stattdessen läuft man das Schachbrett auf und ab. Einige Strassen wurden überdacht, um das Shoppingerlebnis vom Wetter und der Tageszeit unabhängig zu machen. Spannender wird es jenseits der Hauptachsen, wo zahlreiche Boutiquen auf Kunden warten. Allerdings frage ich mich, wer sich die häufig horrenden Preise leisten kann, zumal der Yen in den letzten Jahren abgestürzt ist. Führt also eine Währungskrise automatisch zur einem Auseinanderdriften der Klassen, weil die Elite ihre Preise im Sinne des globalen Vergleichs künstlich anheben muss?

Das tolle an Hiroshima sind die vielen Kaffees. Man muss sein Auge zuerst dafür schulen, dass sich die besten Kaffees in höheren Etagen befinden. Will man die Stadt erkunden, muss man also nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach oben schauen. Von dort hat man einen schönen Ausblick auf das Treiben. Es sind Oasen der Ruhe und der Gelassenheit, kleine Meisterwerke des Stils, die noch mehr berlin als Berlin sind. Wenn man die Treppen hochsteigt, weiss man nie, was einem oben erwartet. Doch meist ist man voller Glück, weil man wieder eine tolle Entdeckung gemacht hat. Gerade sitze in der Stube eines Tattergreis, der mir Anzug gekleidet, den Tee serviert hat. Nun gehen wir beide an unseren Computern unseren Dingen nach.

Man muss sein Auge zuerst dafür schulen, dass sich die besten Kaffees in höheren Etagen befinden. Will man die Stadt erkunden, muss man also nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach oben schauen.

Ein tolles Erlebnis hat man auch, wenn man nachts durch die Seitenstrassen streunt. In den Hauptstrassen fühlt man sich wie in einer der Videoclips, die in den letzten Jahren von Weeknd und anderen in asiatischen Grossstädten gedreht wurden. In den Nebengassen glaubt man sich dagegen in einer gleichzeitig aufregenden und leicht beängstigenden Filmkulisse. Das Herz schlägt höher vor Freude und Staunen ob all dem Unbekannten. Es riecht nach bratendem Soja, die Leuchtreklamen, vertikalen Wegweiser und Lampions zaubern Farbe in das Schwarz. Tatsächlich befindet man sich nun in einer anderen Welt, die man nicht mehr beurteilen kann. Man weiss nicht, ob diese kleinen Lokale Spelunken, Puffs, Treffpunkte von Agenten oder Feinschmeckerlokale sind.

Um der Stadt zu entfliehen, besuchte ich die Insel Miyajima. Bereits während der Zugfahrt musste ich feststellen, dass ich nicht der einzige war, der auf diese Idee gekommen war. Auf dem Schiff bestätigte sich die Vermutung, dass ich Teil einer Massenbewegung geworden war. Tausende waren angereist, um das eindrückliche Torii zu besichtigen und sich in den Tempelanlagen zu tummeln. In diesen bezahlt man, um die Glocke zu schwingen oder Räucherstäbe zu entfachen, während zahme Rehs dabei zuschauen. Sie tun ganz scheinheilig, folgen einem aber auf Schritt und Tritt, wenn man mit ihnen spricht. Richtiggehend verrückt nach Nähe werden sie, wenn sie bemerken, dass man Essensreste mit sich führt. Das ist Japan nicht ganz selten, denn trotz hervorragender Organisation fehlen die Abfalleimer. Ich gehe davon aus, dass diese wie das Putzen der Nase etwas Intimes ist, das man hier aus der Öffentlichkeit verbannt haben will.

Weniger amüsant sind die Folgen meines Besuchs auf der Insel. Mit tollem Schuhwerk (eben nicht) und leichtem Gepäck (eben nicht), mutete ich mir den Aufstieg zu den Tempelanlagen auf dem Gipfel zu – und weil die Seilbahn a. vollgestopft und b. masslos überteuert war, aus Trotz auch noch den Rückweg. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hab Rücken. Morgen fahre ich weiter südlich nach Fukuoka. Das subtropische Klima wird sich akzentuieren, wer weiss vielleicht wird die Meeresluft meinem Rücken gut tun. Bereits hier schafft der warme Frühlingsanfang eine angenehme Differenz zum Schnee, der in der Schweiz noch einmal gefallen sein soll. Es ist nun Zeit für die Rückkehr ins kleine Zimmer, um die Koffer zu packen und mir vor dem Schlafen eine weitere Folge der politischen Spielchen in Borgen zu Gemüte zu führen.


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