Im Escape Room – Die Lust am Rätsel wiederfinden
Es waren einmal ein paar Freunde, die zusammen einen Escape Room besuchten. Munter wollten sie hirnen, knobeln, tüfteln. Doch der Ausflug ging gründlich schief. Statt sich zu vergnügen, statt zu fragen und zu entdecken, begannen sie sich gegenseitig fertig zu machen. Sie wollten nur noch raus. Diese Freunde sind wir. Wir, die wir nach Wegen in die Zukunft suchen – nach Covid-19, mitten in einer Klimakrise, am Anfang der zweiten Hälfte der digitalen Transformation.
Metaphorik Was uns die Gefangenschaft lehrt
Es war im Dezember 2019 als wir zum ersten Mal von einer “mysteriösen Lungenkrankheit” gelesen haben. Ein paar Monate später steckten wir alle fest. Und tun es noch immer. Wir sind gefangen in einem Escape Room, in dem wir mit dem Ende der Pandemie auch eine neue Normalität suchen. Können wir durch unsere unfreiwillige Gefangenschaft etwas für den Hindernislauf in die Zukunft lernen? Klar!
Erstens sind wir gerade dabei, viele spannende Rätsel zu lösen. Kurzfristig fordert uns der Escape Room auf, die Covid-19-Pandemie zu beenden. Langfristig ist die Pandemie aber in viel grössere Rätselräume eingebaut. Sie symbolisieren die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die alle Menschen, Tiere und Pflanzen des Planeten verbinden. Zu bearbeiten gibt es einiges. Wie können wir neue Pandemien verhindern, das Problem der Antibiotika-Resistenzen lindern, eine globale Gesellschaft der 10 Milliarden managen? Statt Wandel zu meiden, könnten wir uns für das Neue begeistern – und zusammen das Wohnen, das Essen, die Mobilität neu erfinden.
Zweitens befreien wir uns nur dann aus der Isolierung, wenn wir kooperieren. Die vielschichtigen Rätsel der kleinen und grossen Escape Rooms fordern uns auf, unsere Fähigkeiten, unsere Daten und unser Wissen schlau zu kombinieren. Wir werden dann am besten zum Ziel kommen, wenn wir uns gegenseitig helfen, die Perspektiven zu wechseln. Die fiesen Denkspiele zu lösen, verlangt eine Kultur des Fragens und der Neugierde. Zweifeln, Jammern, Anschwärzen bringt nichts – es vergiftet nur die Stimmung im Rätselraum. Auch Egoismus und Geheimnisse schaden uns. Denn entweder kommen alle raus, oder alle bleiben drin.
Drittens beginnt nach jedem Escape Room eine neue Normalität. Das Team und seine Mitglieder haben neue Fähigkeiten erworben. Durch die pandemische Extremsituation lernen wir uns neu kennen – durch Videokonferenzen, angepasste Rituale und Masken. Um uns aus den grossen Knobelzimmern zu befreien, brauchen wir ein verändertes Innovationsverständnis, eine neue Lösungslogik. Sonst bleiben wir in der Gegenwart gefangen, die Nebenwirkungen einstiger Innovationen behebend. Wer glaubt, wir hätten Covid-19 bereits gemeistert, übersieht das Mutieren, die Ursachen der Pandemien, die sichtbar und verstärkten gesellschaftlichen Trennlinien, die digitalen Rückstände unserer Bürokratien.
Retro Futures Inspiration aus der Vergangenheit
Zum Glück gibt es in jedem anständigen Escape-Room einen roten Knopf, um Hilfe zu rufen. Am anderen Ende der Gegensprechanlage wird man uns helfen, klarer zu sehen und unsere Blockaden abzuschütteln. Um die Wurzeln der 2019-Normalität zu erkunden und gegebenenfalls zu überwinden, könnten wir die Vergangenheit aufrufen. Diese Reise führt in den frühen Kalten Krieg und damit zu den Anfängen unserer Logik zu Innovieren. 1950 begannen die Konsumgesellschaft, die digitale Transformation, das ungeheure Wachstum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Schweiz sprach man schon in den 1990er-Jahren vom 1950er-Syndrom, international setzt sich gerade der Begriff der Great Acceleration durch.
Wer in die 50er reist, trifft auf zwei dominante Fortschrittsideen: Das Atom und die Raumfahrt. Beide begehrten das Unendliche, die Physik sollte sie erschliessen. Um die Ideen bildeten sich Technologiecluster, die zahlreiche Innovationen auslösten – für die Medizin, die Computertechnologie, die Erschliessung des Weltraums. Die von den Physikerinnen losgetretenen und durch den kalten Wettbewerb von Ost und West verstärkten Kräfte machten lineare Wachstumskurven zu exponentiellen. Diese Dynamik blieb nicht folgenlos. Fortschritt und Wohlstand stehen Umweltschäden gegenüber, aber auch Winner-Takes-It-All-Märkten. Manch einer lebt in einer Schwarz-Weiss-Welt, in der man sich bekämpft statt zu kooperieren.
Als Wendestelle laden die 50er zum kontrafaktischen Denken ein. Wie wäre die Welt geworden, wenn wir Innovation anders gedachten hätten? Die Futuristen hatten damals viele andere verrückte Ideen. Sie könnten die Lust zurück ins Spiel bringen. Die Erde wollten sie mit Algen ernähren, mit Hilfe von Ebbe und Flut Strom produzieren, Wüsten durch Geoengineering in Landwirtschaftszonen verwandeln, männliche Hühner mittels Hormonen weiblich machen. Nicht alles war durchdacht, aber man wagte zu träumen. Nicht weniger interessant für uns Escape-Roomers ist die Gegenkultur der Nachkriegszeit. In der Reformbewegung wollte man natürlich, nackt und gesund sein. Sollte Innovation künftig heissen, ein naturnahes Leben zu ermöglichen, die Kräfte, Baupläne und Funktionen der Pflanzen besser zu nutzen?
Illustration Karsten Petrat
Future Futures Inspiration aus der fernen Zukunft
Um Hinweise für die Denkaufgaben im Escape Room zu sammeln, könnten wir alternativ die Zukunft bereisen. Ein einfacher Trick, um sie zu entdecken, ist Leapfrogging. Frei wie Frösche überspringen die Rätselraterinnen das Heute. Die aktuellen Trends, die gängigen Standards, die heutigen Probleme. Statt am Morgen arbeitet man am Übermorgen. Dieser Innovationstrick beschleunigt das Neudenken. Man entflieht den Blockaden, den immerselben Argumenten, den ewigen Nörgeleien, dem ruinösen Preiskampf, der mit Mini-Verbesserungen verbunden ist. China hat direkt ein System für Hochgeschwindigkeitszüge errichtet und von Bargeld zu Mobile Payment gewechselt. Genauso werden entlegene Gemeinden Glasfaser überspringen und direkt auf 5G wechseln.
Wer leapfroggen will, definiert zuerst die für eine Fragestellung relevanten Trends. Etwa den veganen Lebensstil, das asiatische Zeitalter oder berührungslose Interfaces. Zweitens hält man fest, wie sich diese Trends bis zum Ende des nächsten Innovationszyklus konkret durchsetzen werden. Offensichtlich hängt die Dauer des Zyklus von Investitionen ab. Wer einen neuen Zugtypus lancieren will, muss weiter in die Zukunft hüpfen als eine Salatproduzentin. Von der neuen Realität aus, sucht man schliesslich die übernächste Zukunft. Dazu projiziert man die Trends inklusive Gegentrends nochmal weiter Zukunft. Das Vorgehen gleicht dem Brettspieler, der die Chance hat, zwei Spielzüge nacheinander zu ziehen. Gleichermassen knüpft die Rätselstrategie an die Weitsicht der Schachspielerin an, die schon den übernächsten Spielzug ausheckt.
In einer anderen, normativeren, Variante des Froschhüpfens überlegen sich die Escape-Roomer, in welcher Zukunft sie 2100 leben möchten. Von ihrer Idealzukunft springen sie zurück in die Gegenwart. Dort leiten sie Schritte ab, um ihre Idealwelt zu realisieren. Wer so Rätseln will, muss träumen können. Dazu braucht es Fragen, die Lust machen, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Wie haben wir die Innenstädte wiederbelebt? Wie ist es uns gelungen, die Reise von Zürich nach Peking ohne Flugzeuge auf unter sieben Stunden zu drücken? Wie haben wir die Suche nach ausserirdischem Leben intensiviert? Wie konnten wir mit kulturellen Angeboten gesellschaftliche Trennlinien überwinden? Weil wir uns alle für andere Dinge interessieren, ist einmal mehr Vielfalt unverzichtbar – hier die Vielfalt der bearbeiteten Rätsel.
Vorsätze Wieder Lust am Rätseln haben
Ein bisschen fühlt sich der Ausklang der Pandemie wie die Altjahreswoche an. Das Alte ist noch nicht weg, aber das Neue auch noch nicht da. Persönlich mag ich diese Übergangsperiode sehr. Es ist eine tolle Zeit, um wegzuwerfen und aufzuräumen, das Erlebte Revue passieren zu lassen und sich aufs Neue vorzubereiten. Die eine oder andere wird Vorsätze treffen. Sie helfen auch für das gegenwärtige Raten im Escape Room. Ohne Aussicht auf Veränderung werden wir uns zermürben, uns gegenseitig beschuldigen und unter schlechter Stimmung leiden. Wir werden unfähig, die gestellten Rätsel in nützlicher Frist zu lösen. Was also könnten wir tun, um die Zukunft lustvoll wieder zu entdecken?
Die Stimmung im Rätselraum wird sich rasch bessern, wenn wir uns erlauben unsere Fantasie anzuregen. In Zeiten des Aufbruchs sind Fragen wichtiger als Antworten. Um sie originell und präzise zu stellen, helfen inspirierende Leerläufe. Unternehmen, welche die Lust am Rätsel zurückbringen wollen, könnten die Pausen zum Erlebnis oder Energiebooster machen. Sie könnten ihren Mitarbeitenden Zeitreisen anbieten, ihre Unternehmensgeschichte als Baukasten für Innovation aufbereiten, mit intelligenten Fragen statt dummen Sprüchen werben, in ein Einhorn-Monitoring investieren und dadurch die verrücktesten Ideen aus China und dem Valley zu diskutieren.
Um uns aus der unangenehmen Verzahnung zu befreien, könnten wir auch unsere Betrachtungsweise des Digitalen ändern. Wir könnten das Analoge als das Besondere und das Digitale als das Normale verstehen. Die Umkehr der Perspektive nötigte uns in der nächsten Phase der Transformation, schnell und unkompliziert digitale Standards flächendeckend umzusetzen - Portale für alle Lebenslagen, QR-Codes statt Einzahlungsscheine und Broschüren, Datensammlungen und -analysen für das Kollektiv. Genauso würde die Umkehr unserer Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit auf die analogen Schlüsselmomente lenken. Wir müssten prüfen, was wahrlich inspirierende und wertvolle Begegnungen im Analogen auszeichnet.
Schliesslich könnten wir achtgeben, dass im Escape Room keine Mitspieler*innen verkümmern. Jeder Hinweis aus der Runde könnte der entscheidende sein. Die Fürsorge beginnt mit der Reflexion des eigenen Sitzungsverhalten. Schweigen wir genug? Halten wir uns kurz? Fragen wir nach, helfen wir Schüchternen und Stillen, sich einzubringen? Nach neuen Perspektiven zu streben, heisst die bisher im Zukunftsmanagement vernachlässigten Disziplinen zu stärken - die Geschichtswissenschaften, die Umweltwissenschaften, die Veterinärmedizin. Quoten in strategischen Gremien für Frauen, unter 50-Jährige, grüne und digitale Transformator*innen beschleunigten den Aufbruch der helvetischen Innovationsstrukturen.