
Dr Pimple Popper – oder die Kunst sich zu verlieren
ENTWURF VOM 20. MAI 23
Auch ich habe die schlechte Angewohnheiten vor dem Schlafen dämliche Videos zu schauen. Dabei nahm meine multimediale Staffel vor ein Wochen eine bizarre Wende. Plötzlich wurden überall Pickel ausgedrückt, sogar bei Kühen. Bin ich digital unachtsam geworden?

In den Fängen von Dr. Lee
Die Pickelarbeiter:innen haben viel zu tun. Ihr kleinsten Abbaugebiete, die Blackheads, sind schwarz, milimetergross und in die Nase eingelassen. Doch es geht auch rüder zu und her. Die grössten Pickel sind dutzende von Zentimetern gross und man sollte wohl eher von Zysten sprechen. Um sie zu entfernen, muss meine bevorzugte und stets gut gelaunte Ärztin Sandra Lee aka Dr. Pimple Popper Spritze und Skalpell zur Hilfe nehmen.
Da ich zurzeit über die digitale achtsame Organisation arbeite, begann ich mich selbst zu beobachten. Ich befragte mich, warum ich Sandra Lee so begeistert beim Arbeiten zuschaue. Die Angelegenheit ist umso interessanter, als dass sich viele andere von den Wellen des Netzes in die Praxis von Sandra Lee treiben lassen. Ihre Videos auf Youtube erreichen ein Megapublikum. Der Kanal hat 7,35 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, das meist geschaute Video verzeichnet sagenhafte 76 Millionen Klicks (Stand April 2023).
Weil das Phänomen der “Popaholic”, bekannt ist, dachten bereits viele darüber nach, warum das Ausdrücken von Pickeln so begeistert. Sandra Lee inklusive: “Ich denke, dass es sich für viele Leute befreiend oder befriedigend anfühlt, mit anzusehen”. Patienten und Fans hätten ihr erzählt, dass die Videos das Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) auslösen, einen halb emotionalen, halb mentalen Zustand, der mit einem Kribbeln und unterschwelliger Euphorie einhergeht – was viele Leute als sehr angenehm empfinden würden.
Digitale Unachtsamkeit?
Um das Geheimnis meiner Verehrung von Dr. Pimple Popper zu lösen, lohnt es sich vermutlich etwas grösser zu denken und andere Loops mitzudenken, in die wir kurz vor dem Einschlafen geraten können.
Wir schliessen uns sehr gerne in Gefängnisse der Selbstbestätigung ein. Was Dr. Lee in ihren Überlegungen zu den Popaholics nicht anspricht, sind Dark Patterns, die unser Verhalten verstärken. Sobald wir ein Video zu Ende schauen, übernehmen die Algorithmen die Kontrolle. Ich spreche hier nicht von bösen Algorithmen, die ein Bewusstsein entwickelt haben und an unserer Verdummung interessiert sind. Vielmehr spreche ich von einem Gefängnis der Selbstbestätigung, das wir uns selbst bauen. Die Algorithmen sehen, was uns gefällt und füttern uns noch mehr von dem was uns gefällt.
Wir sind spät abends zu müde, um etwas komplexes zu denken. Unsere digitalen Gefängnisse sind umso einfacher abzuschliessen, je weniger in ihnen von uns verlangt wird. Eine Sprechstunde bei Dr Lee, ist weniger anstrengend als eine Sternstunde Philosophie. Im Vergleich zur Systemtheorie von Niklas Luhmann fällt der Vergleich noch krasser aus. Ich befürchte Sandra Lee ist auch deshalb so beliebt, weil viele andere Wissensarbeiter:innen abends zu müde sind, um noch mehr Informationen zu scannen und in unsere Gedankennetz einzuweben. Das aber heisst wir arbeiten so hart, dass keine Energie mehr übrig bleibt.
Wir mögen es zu sehen, wenn ein Problem gelöst wird. Bei Wissensarbeiter:innen stellt sich dieses Gefühle kaum jemals ein. Ihre Arbeit ist in der Regel unsichtbar, unendlich und dazu stark fragmentiert. Im Normalfalls strukturiert sich unser Tagesablauf - ob wir das wollen oder nicht - in 15 Minuten-Einheiten. Diese Sprints werden von stündigen Sitzungen unterbrochen. Aber weder in unseren Sprints und noch viel weniger in den Sitzungen gelingt es ein Problem abschliessend zu lösen. Die Folien müssen nochmals überarbeitet werden, das nächste schwierige Gespräch zeichnet sich ab. Sandra Lee aber drückt die Beule aus, Problem erledigt.
Wir wollen im Moment versinken statt uns wieder einmal zu verändern. Die Changemanagement Wellen reissen nicht ab. Jedes Jahr wird eine neue Sau durchs Dorf gejagt. Vor Covid-19 sprachen die Berater:innen und Change-Engel von Agilität und digitaler Transformation. Nun predigen sie das Metaverse und huldigen sie Chat GPT. Sandra Lee aber lässt uns in Ruhe. Wir müssen nichts und dürfen nur. Während wir ihr bei der Arbeit zu schauen stellt sich eine fast meditative Ruhe ein. Die Fragen, die uns den ganzen Tag gequält haben verschwinden. Das ist keine Welt mehr und kein Ich mehr, da ist nur noch das Nichts des unspektakulären Moments.
Plädoyer für das sich verlieren dürfen
Sandra Lee und ihre Pickel sind nur ein Symbol. Wir alle haben einen anderen “Guilty Pleasure”, der uns ablenkt und uns wegführt – von der Arbeit, unseren Sorgen, unseren Beziehungen. Andere stehen auf Videos mit Katzen. Auf Menschen, die sich erschrecken. Auf lustige Unfällen. Auf Verfolgungsjagden. In diesen unangestrengten Surfen verlieren wir uns. Ist dieses dümmliche endlose Scrollen also das zentrale Rauschmittel unserer Zeit? Oder könnte man die wiederkehrende Besuche bei Dr. Lee auch positiver betrachten?
Der Rohstoff von Wissensarbeiter:innen sind Ideen. Aus Erfahrung weiss ich, dass diese Arbeiten mit Ideen verlangt, sich im Analogen (bei einem Stadtrundgang) wie im Digitalen (beim nächtlichen Surfen) treiben zu lassen. Aus dieser Optik macht es durchaus Sinn, nicht jedes Surfen kontrollieren zu wollen und den Rausch darüber bestimmen zu lassen, wohin er uns führen wird. Der Rausch ist nur dann gefährlich, wenn die Algorithmen den Ausgang alleine bestimmen und wir ihre Kraft nicht bemerken – zumal jeder Rausch uns gestärkt zurück zu uns selbst führen kann – sofern wir die Kunst des Rausches beherrschen.
Die Kunst des Rausches hat deshalb, wer den Rausch geniessen kann, diesen aber auch stoppen und reflektieren kann. So sehr man Dr. Lee auch mag, man muss ihr auch den Rücken kehren können.