Dr Pimple Popper und die Schatten der vernetzten Arbeitswelt
Auch ich habe die schlechte Gewohnheit, mich spätabends dämlichen Videos hinzugeben. Vor den Sommerferien erhielten sie einen bizarren Twist. Plötzlich wurden überall Pickel ausgedrückt. Bin ich digital unachtsam geworden? Wie bin ich Dr. Lee in die Fänge gegangen? Und was haben die Pickel mit der Zukunft der Arbeit zu tun?
In den Fängen von Dr. Lee
Pickelarbeiter:innen haben viel zu tun. Ihre kleinsten Abbaugebiete, die Blackheads, sind millimetergross, schwarz und in die Nase eingelassen. Nicht immer sind die Hautprobleme der Patientinnen von Dr. Lee aber so harmlos. Die grössten Pickel sind dutzende Zentimeter gross. Man sollte wohl eher von Zysten sprechen. Um sie zu entfernen, muss die stets gut gelaunte Dr. Pimple Popper Spritze und Skalpell ansetzen.
Da ich zurzeit über die digital achtsame Organisation arbeite, frage ich mich, warum ich spätabends Dr. Sandra Lee ebenso begeistert wie kopflos beim Arbeiten zuschaute. Die Angelegenheit ist umso interessanter, als dass sich viele andere Voyeure in ihrer Praxis einfinden. Auf Youtube erreichen die Videos ein Megapublikum. Der Kanal hat 7,35 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, das meistgestreamte Video verzeichnet sagenhafte 76 Millionen Klicks (Stand August 2023).
Weil das Phänomen der «Popaholic» weitum bekannt ist, dachten viele andere darüber nach, warum das Ausdrücken von Pickeln so begeistert, Sandra Lee inklusive. «Ich denke, dass es sich für viele Leute befreiend oder befriedigend anfühlt, mit anzusehen». Patienten und Fans hätten ihr erzählt, die Videos würden das Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) auslösen – einen halb emotionalen, halb mentalen Zustand, der mit einem Kribbeln und unterschwelliger Euphorie einhergeht.

Warum wir endlos scrollen
Das rauschartige Ausschütten von Glückshormonen als Grund für meine gehäuften Besuche bei Dr. Lee leuchtet mir völlig ein. Aber die Erkenntnis genügt mir nicht, sie greift zu kurz. Mir fehlt das grosse Bild, mich interessiert die Ursache, die mich in die Wiederholungsschleifen getrieben hat. 4 Thesen:
Wir akzeptieren Dark Patterns, weil sie uns vom Entscheiden befreien.
Dark Patterns verstärken unser Verhalten. Sobald wir ein Video zu Ende schauen, übernehmen die Algorithmen die Kontrolle. Ich spreche nicht von böser KI, die ein Bewusstsein entwickelt. Vielmehr denke ich an selbstgebaute Gefängnisse der Selbstbestätigung. Die Algorithmen sehen, was uns gefällt und füttern uns noch mehr davon. Sie nehmen uns das Entscheiden ab.
Wir sehen gerne zu, wenn ein Problem gelöst wird.
Sandra Lee zieht die Handschuhe an, drückt die Pickel aus, Problem erledigt. Diese Erleichterung überträgt sich angenehm auf uns. Wissensarbeiter:innen erfahren sie kaum einmal. Unsere Arbeit ist häufig unsichtbar, unendlich, stark fragmentiert. Aufgaben wechseln im 15 Minuten-Takt. Konzepte sind nie fertig durchdacht, Texte nie fertig geschrieben.
Wir wollen im Moment versinken, statt uns dauernd zu verändern.
Die Change Management Wellen reissen nicht ab, jedes Jahr treiben die Zukunftsforschenden eine neue Sau durchs Dorf. Gerade predigen sie das Metaverse und huldigen Chat GPT. Sandra Lee aber lässt uns in Ruhe. Wir dürfen einfach nur gaffen, eine meditative Ruhe stellt sich ein. Die Fragen, die uns quälten, verschwinden. Da ist keine Welt und kein Ich mehr.
Wir sind abends zu müde, um etwas Komplexes zu denken.
Eine Sprechstunde bei Dr. Lee ist weniger anstrengend als eine Sternstunde Philosophie und noch weniger zermürbend als ein Suhrkamp von Michel Foucault. Sandra Lee ist auch deshalb so beliebt, weil viele abends zu müde sind, um weitere Informationen in ihre Gedankennetze einzuweben. Sie arbeiten so intensiv, dass kaum Energie übrigbleibt.
Schattenseiten der Vernetzung
Natürlich sind Sandra Lee und ihre Pickel nur ein Symbol. Wir alle lassen uns von anderen «Guilty Pleasures» ablenken – von der Arbeit, unseren Sorgen und Beziehungen, vom Einschlafen. Andere fahren auf Videos mit Katzen oder Paaren ab, die sich erschrecken. Die Zeit verfliegt, wobei unser Widerstand gegen die digitalen Endlosschleifen umso einfacher gebrochen wird, je müder wir sind. Und da sind wir beim eigentlichen Problem.
Wir leben in und mit einer Arbeitswelt, in der sich die Vorteile der digitalen Vernetzung in ihr Gegenteil kehren - sofern wir nicht den Widerstand aufbringen und uns digital achtsam gegen ihre destruktiven Verführungen auflehnen.
- Durch die Arbeit der Algorithmen sehen wir immer mehr vom selben (denselben Ideen, denselben Influencerinnen, denselben Autoren, denselben Denkschulen) – und kaum mehr etwas wirklich Neues (Probleme des vernetzten Wissens)
- Durch das digital vernetzte Arbeiten erhöht sich die Interdisziplinarität, wobei kaum noch jemand als Expertin in die «Tiefenschichten» von Wissen hinunter sieht, durch die Digitalisierung entgrenzt sich Arbeit örtlich und zeitlich (Probleme der vernetzten Arbeit)
- Durch die Arbeit in Netzwerkorganisationen vervielfältigen sich die Touchpoints, um zu koordinieren und zu kommunizieren; niemand übernimmt von A bis Z die Verantwortung, was die Identifikation mit der Arbeit schwächt (Probleme der vernetzten Organisation)
- Durch die Abhängigkeiten von Problemen, Akteuren und Organisationen sind radikale Lösungen kaum noch möglich, zumal in einer vernetzten Welt immer auch alle Lösungen voneinander abhängig sind (Probleme der vernetzten Innovation)
Probleme der Oberflächlichkeit
Die umfassende Vernetzung von Wissen, Arbeitsschritten, Organisationseinheiten und Problemen, nennen wir es ruhig New Work, macht Menschen und ihre Unternehmen müde: weil wir uns ständig im Kreis drehen. So wie mir spätabends täglich Dr. Lee begegnete, treffen wir beim Arbeiten – und insbesondere in der Diskussion der Zukunft – ständig auf dieselben Gesichter, Ideen, Argumente Gedanken, Menschen, Probleme. Täglich grüsst das zermürbende Murmeltier.
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- New Work heisst vernetztes Wissen
- Schattenseite: Weniger zufällige Ideen, Gedanken und Begegnungen
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- New Work heisst vernetzte Arbeit(sschritte)
- Schattenseite: Weniger Vordringen in tiefe Wissensschichten
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- New Work heisst vernetzte Organisation
- Schattenseite: Weniger Identifikation mit Arbeit(geber:in)
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- New Work heisst vernetzte Probleme
- Schattenseite: Weniger radikale Innovationen
Abb 1. Schattenseiten von New Work
In dieser Diagnose gilt es zu präzisieren und zwei Arten des Müdeseins zu unterscheiden. Positive Müdigkeit erleben wir nach einem gelungenen Workshop oder nachdem uns die Lektüre eines Textes mit überraschenden Gedanken bereichert hat. Wir sind zwar müde aber gleichzeitig erfüllt: voller Neugierde, Zuversicht und guten Gefühlen. Negative Müdigkeit stellt sich dagegen ein, wenn wir uns in «Abstimmeritis», weichspülendem Designthinking und ziellosem Surfen verirren.
Eben diese negative Müdigkeit schwächt unsere Widerstandsfähigkeit gegen Dr. Lee & Co. Sie schadet unserer Konzentrationsfähigkeit. Das ist aus drei Gründen problematisch. Zum einen leben wir in einer Zeit, die vom Kollektiv Menschheit das Beste abverlangt, was es zu bieten hat. Der Klimawandel. Die Ernährung der 10 Milliarden. Die Antibiotika-Resistenzen. Diese Herausforderungen stellen für Unternehmen gleichzeitig die Märkte der Zukunft dar. Selbstredend werden müde Organisationen ihre Potenziale nicht nutzen können.
Schliesslich führt uns unsere Müdigkeit weg von uns selbst. Je geschwächter wir sind und je weniger wir lesen, fragen und nachdenken, desto oberflächlicher werden wir – in unseren Lösungen aber auch in unserer Selbstreflexion. Wir werden zu Zombies, die in der Welt irren, aber nicht wissen, was uns wirklich interessiert, wirklich wichtig ist, uns wirklich gut tut, für welche Zukunft wir einen Beitrag leisten wollen.


Entnetzt Euch!
Nur allzu gut ahnen wir, was gegen die Dämonen der Hypervernetzung hilft: Stille, Alleinsein, Offline gehen, Nein sagen. Mit anderen Worten, New Work müsste neben der Vernetzung, die Entnetzung der Arbeit fördern. Doch statt mich mit grossen Theorien von Dr. Lee zu verabschieden möchte ich hier fünf Ideen festhalten, mit denen ich ganz persönlich an meiner Entnetzung arbeiten möchte:
- mich regelmässig mit einem Buch und einem Notizheft ohne digitale Geräte auf die Terrasse setzen, lesen und das wichtigste von Hand notieren
- mindestens einmal pro Monat in eine Buchhandlung gehen und prüfen, welche Bücher auf dem Neuigkeitstisch liegen
- am Montag und Freitag keine Termine ausser Haus mehr annehmen und mich im Home Office verschanzen
- alle zwei Monate zwei Tage alleine wegfahren und mich in einer fremden Stadt an zufällige Orte treiben lassen
- jeden Monat einen «One-Question-Day» durchführen, an dem ich mich mit einer einzigen Frage beschäftige