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Kultur 2040 – Trends, Potenziale, Szenarien der Förderung


Text: Joël Luc Cachelin
Design: Leander Herzog
Lektorat: Eva Berié
Verlag: Christoph Merian


2020 feiert das Forum • Kultur und Ökonomie sein zwanzigstes Jubiläum. Aus diesem Anlass richtet es seinen Blick nach vorne. Anvisiert wird das Jahr 2040. Das ist 20 Jahre weit weg. Ebenfalls zwei Jahrzehnte entfernt befindet sich das Jahr 2000. Als Referenzgrösse zeigt es, wie viel sich verändern könnte. Damals hatte man Angst, die Computer würden den Jahrtausendwechsel nicht meistern. Die Expo 2000 in Hannover machte den Pinkelprinz bekannt. Putin wird zum ersten Mal russischer, Bush amerikanischer Präsident. Big Brother feiert im deutschen TV seine Premiere. Das unverwüstliche Nokia 3310 kommt auf den Markt. Statt Facebook ist Snake angesagt. Seit 2000 ist unsere Welt multimedialer, schneller, flacher und widersprüchlicher geworden.

Die Zukunft ist eine Art virtuelle Realität, ein Werkzeug, mit dem wir die Gegenwart erkennen und weiterdenken können. Wer über die Zukunft spricht, meint deshalb häufig die Gegenwart. Solche Gedankenspiele werden hier zur Kultur(förderung) vorgeführt. Kultur ist, was die Maschine nicht kann. Kultur ist, was die Natur nicht ist. Kultur: Das sind Geschichten. Sie erzählen was war, was ist und was sein könnte. Wie wir sie fördern, gewinnt aus zwei Gründen noch einmal an Bedeutung. Zum einen bewirken Automatisierungen in Folge der digitalen Transformation, dass immer mehr Menschen in Berufen der kulturellen Wertschöpfung arbeiten. Gleichzeitig verlagert sich Konsum in das Emotionale, in Erlebnisse, in Gespräche, in Beziehungen. Wir werden in Gedankenpalästen leben.

Diese Studie hat nicht vor, darüber zu spekulieren, was genau im Jahr 2040 sein könnte. Solche Prognosen künftiger Zustände leisten wenig, um die Gegenwart zu verändern – zumal sie mit Sicherheit nicht ins Schwarze treffen. Prognosen sind zu glatt, Geschichte dagegen ist unberechenbar. Statt die Zukunft im Detail zu beschreiben, werden hier deshalb bereits sichtbare Entwicklungen gesammelt und punktuell weitergedacht. Dazu wurden sechs Trends ausgewählt. Man könnte von parallelen Universen sprechen. Wollen Kulturinstitutionen wirksam sein, schaffen sie Bezüge zu diesen Universen – bestärkende, reflektierende, verneinende, transformierende. Kulturförderung verstärkt diese Bezüge.

Die Digitalisierung füllt keines dieser sechs Universen. Ihre Diskurse sollen hier nicht ein weiteres mal wiederggeeben werden – zumal sie seit zehn Jahren in denselben Argumenten gefangen sind. Nach anfänglicher Euphorie dominieren nun Schattenseiten und Negativszenarien. Deshalb wird hier eine postdigitale Zeit antizipiert, in der das Digitale nicht seine Kraft, jedoch seinen Mythos verloren hat. Die Digitalisierung in den Hintergrund zu rücken, heisst, anderen Entwicklungen mehr Platz einzuräumen, die gleichzeitig wie sie stattfinden. In allen Überlegungen dominiert die Suche nach dem Positiven. Düster wird momentan genug gemalt.

Die hier dokumentierte Reise durch die Parallelwelten der Zukunft verläuft in drei Schritten:

Gedacht wird hier aus einer westlichen Perspektive mit Blick auf die Handlungsräume, die sich für Schweizer Kulturschaffende und ihre Förderer auftun. Die drei Kapitel stehen stellvertretend für drei Perspektiven, die man auf die Zukunft nehmen kann. Sie sind nur bedingt miteinander verknüpft. Aktuelle Diskurse in Büchern und Feuilletons bilden die Grundlage für diese Studie. Sie stellt eher zusammen, als dass sie ganze neue Deutungsangebote liefern würde. In diesem Sinne ist der Text als kleine Zukunftsenzyklopädie zu verstehen. Sie trägt als kleines Nachschlagewerk zusammen, was andere momentan über die Zukunft denken. Die Prüfung der Thesen erfolgte in zwei Workshops sowie durch Feedbackgespräche mit Kulturexpertinnen und Experten. Im Quellenverzeichnis findet man ein Verzeichnis dieser Sidekicks.

Eine solch umfangreiche Arbeit entsteht immer im Teamwork. In diesem Sinne geht der Dank an das Team der Vertrauen schenkenden Auftraggebenden, den herausgebenden Verlag, an die Expertinnen und Experten, das Lektorat. Leander Herzog hat die Studie digital umgesetzt, Büro Sequenz ist für die analoge Umsetzung verantwortlich. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Sowohl das Buch als auch die Webseite sind Unikate – sie sehen bei jedem von uns anders aus. Kultur, das ist das Suchen nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen dem Beispiel und den Mustern.


UNIVERSEN Welche Kräfte die Zukunft formen

Wunderländer sind Reisen, Events, Spiele, Simulationen, kulturelle Veranstaltungen aller Art. Gemeinsam ist ihnen, dass wir dort unsere Fantasie ausleben und aufladen. Je mehr unsere materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, desto mehr Zeit verbringen wir in ihnen. Unser Leben wird märchenhafter. Viele von uns werden durch ihre Arbeit diese Wunderländer kreieren, unterhalten und reflektieren.

Universum 1 – Wunderländer

Der Tourismus wächst weiter und weiter. Er ist die wichtigsten Branche der Gegenwart – mit einem jährlichen Umsatz von 7600 Milliarden. Unsere Epoche ist ein Zeitalter des Tourismus, Overtourism inklusive.
Der Tourismus wächst weiter und weiter. Er ist die wichtigsten Branche der Gegenwart – mit einem jährlichen Umsatz von 7600 Milliarden. Unsere Epoche ist ein Zeitalter des Tourismus, Overtourism inklusive.

De-materialisierte Menschen

Unglaublich sind sie, die Fähigkeiten der Maschinenangestellten! Sie berechnen und produzieren Zahnspangen, werten Röntgenbilder aus, suchen nach unbekannten Planeten, forschen an neuen Medikamenten. Als Cyber-Archäologen erkennen sie, was unseren Augen verborgen bleibt – zum Beispiel bisher unbekannte Nasca-Linien in der peruanischen Wüste. Das Ende der Arbeit bewirken sie trotzdem nicht. Ganz im Gegenteil: Neue Jobs entstehen gemäss den aktuellen Bilanzen der digitalen Transformation gerade dort, wo Unternehmen auf neue Technologien setzen. Sie tüfteln an Robotern, Datenspeichern, neuen Materien, 3-D-Druckern oder Wegen, um das Leben zu verlängern. Allerdings steigt mit jeder zusätzlich eingesetzten Maschine der Lernbedarf aller Beteiligten. Jobs, in denen kein kontinuierliches Lernen stattfindet, fallen weg.

Die Märkte sind umstritten, Margen eng, Konkurrenten flink. Unternehmen, die sich nicht erneuern, werden aus dem Markt gedrängt. Überall ruft man nach Innovation, wenn nicht Disruption. Kreativ muss man sein, kreativ will man sein. Slasher-Karrieren verbreiten sich. In diesem Lebensmodell geht man zwei ganz verschiedenen Berufen nach – dem einen, um zu überleben, dem anderen, um sich zu entfalten. Die Yogalehrerin jobbt tagsüber als Buchhalterin, die Managerin arbeitet nachts an Theaterstücken. Wunderländer sind der perfekte Ort, um unsere Kreativität auszuleben und zu erneuern. Man könnte sie als Räume deuten, in die wir flüchten, wenn uns der Alltag nicht mehr genügt, uns bedrängt, anstrengt, enttäuscht. Kaum erstaunlich wächst der physische Tourismus mit seinen zahlreichen Wunderländern weiter und weiter. Er ist die wichtigste Branche der Gegenwart – mit einem jährlichen Umsatz von 7600 Milliarden US- Dollar.

Wird es Wunderländer geben, die keinen ökonomischen Hintergrund haben – in denen uns niemand etwas verkaufen will?

Unsere Epoche ist ein Zeitalter des Tourismus, Overtourism inklusive. Nicht alle sind ob der Besucher erfreut – die Nationalisten nicht, die Nachhaltigen nicht, die Extremisten nicht, die sich mit Terror zur Wehr setzen. Auch deshalb gewinnen die Destinationen des geistigen Tourismus an Bedeutung: Spiele, Simulationen, virtuelle Realitäten. Wunderländer bilden die Arbeitsinhalte der Zukunft. Mit jeder Maschine, die in die Arbeitswelt einzieht, wirken mehr von uns am Bau und Unterhalt der Wunderländer mit. Werden die Wunderländer neben der unternehmerischen die soziale Innovation unterstützen - Erneuerungen der Demokratie, des öffentlichen Verkehrs, der Sozialversicherungen, der Formen des Zusammenwohnens, des öffentlichen Raums. Wird es Wunderländer geben, die keinen ökonomischen Hintergrund haben – in denen uns niemand zuschaut, uns etwas verkaufen will? Wird es die wichtigste Aufgabe der Kultur sein, solche Räume des Nichtökonomischen zu verteidigen?

Zeitreisen

Wer in Wunderländern lebt, darf durch die Zeiten reisen. Die Fortschritte der digitalen Technologien vereinfachen es, Vergangenheit und Zukunft zu simulieren. Zum Einsatz kommen virtuelle und digital erweiterte Realitäten, Videospiele und Chatbots. Das Erkunden von Vergangenheit und Zukunft wird ebenso plastisch wie interaktiv. Auf den Zeitreisen werden Tote zum Leben erweckt, die Städte der Zukunft erlebbar. In den Ruinen von Pompeji, Machu Picchu und Bagan kehrt das Leben zurück. Grundlage der Projektionen und Simulationen sind unsere Daten. Mit jedem zusätzlich digitalisierten Textfragment, Foto und Video fühlen sich Zeitreisen realer an. Das Internet der Dinge produziert weitere digitale Fragmente. Allein in Westeuropa soll es bis 2022 vier Milliarden vernetzte Geräte geben. Unsere Hotels und Wohnzimmer werden zu Märchen, in denen virtuelle Figuren auftreten, die uns erkennen und in fantastische Geschichten verstricken.

Stündlich fügen wir Gegenwärtigen unserem digitalen Abdruck etwas hinzu. Eine Mail hier, ein WhatsApp dort, ab und zu ein Selfie, mehrere Kinderfotos täglich. Im Vergleich zu jedem beliebigen Menschen des 21. Jahrhunderts gibt es so wenig Multimedia über die Bewohner der Vergangenheit, über Wolfgang Amadeus Mozart oder Meret Oppenheim. Unser gesamtes digitales Erbe wird 2040 zur Verfügung stehen, wenn jemand in unsere Gegenwart reist. Zeitreisende werden vergangene Zeiten viel unmittelbarer erfahren als wir. Um diese für die Zukunft zu speichern, digitalisieren wir Reste der Vergangenheit. Wir scannen Pyramiden, rekonstruieren zerstörte Kulturdenkmäler. Da Vinci und Co. treten in Computerspielen auf. Die Digitalisierung verändert, wie wir das Vergangene speichern und erleben, wie wir uns erinnern. Foto- und Videoarchive werden – wie heute Text – durchsuchbar sein. Der Hashtag strukturiert die Archive neu, was wir in ihnen finden, wird von Algorithmen beeinflusst. Wer wird noch Bücher lesen?

Die Vergangenheit nochmals zu erleben, ist nur ein Grund, um eine Zeitreise anzutreten. Manche suchen nach sich selbst, oder wollen durch Begegnungen mit dem Anderen empathischer werden. Auf ihren Trips lernen sie fremde Lebenswelten, Generationen und Regionen kennen. Wieder andere reisen vorwärts. Statt Ursprünge zu finden, begehren sie Einblicke in die Zukunft. Die Zeitreisende erkennt, wie sich Strassen- und Zugnetze, die vertikale Landwirtschaft oder das Shopping weiterentwickeln könnten. In den begehbaren Wunderländern sind Kabel und Codes gut versteckt - so wie der Code von Google, der sich auf 2 Milliarden Zeilen erstreckt. Das Programmierte fühlt sich ganz natürlich an. Wer wird noch in der Gegenwart leben wollen? Werden Besuche in fremde Zeiten einmal unerlässlich, um auf neue Ideen zu kommen?

Lust am Spiel

Wunderländer sind Marktplätze. Man shoppt und kauft online. Bereits heute suchen 60 Prozent der Nutzerinnen auf Instagram nach Produkten. 2020 soll jeder vierte Euro online ausgegeben werden. Die Lädeli sterben, Essen lässt man sich nach Hause liefern. Im Gegensatz zur drohenden Ödnis der Innenstädte stehen zahlreiche Events. Es wird vermarktet, in Szene gesetzt, mit Schweinwerfern beleuchtet und mit Emotionen aufgeladen: Die Bundesratswahl, die Generalversammlung der Aktiengesellschaft, das Schwingerfest, mit Flutlicht beleuchtete Skirennen, der Wechsel an der Parteispitze, die Enthüllung des nächsten 007. Sat.1 macht aus dem Kinderspiel Fangis ein TV-Erlebnis.

Durch die Eventisierung wird alles ein bisschen exotischer, als es eigentlich ist. Wenig ist im Wunderland so verpönt wie das Normale. Langeweile darf nicht sein. Spiele amüsieren und helfen, aus ökonomischen Zwangsschleifen, der Beschleunigung oder den personalisierten Korsetten auszubrechen, die die Algorithmen für uns gesponnen haben. Typisch für das neue Spielen ist die Verbreitung der Escape Rooms. Gewinnen können die Gefangenen nur dann, wenn sie die Rätsel schnell genug lösen. Allein in Deutschland gibt es über 1000 davon. Längst haben sie die Personalchefinnen entdeckt. Statt im Vorstellungsgespräch werden die Kandidatinnen im Escape Room auf Kreativität und Teamkompetenz geprüft. Manch eine greift zu spielerischen Apps – um mit dem Rauchen aufzuhören, sich gesünder zu ernähren, ihr Gedächtnis oder ihre kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.

In der grossen Lust am Spielen lösen sich die analogen und digitalen Spielbretter auf. Ganze Städte werden zum Schauplatz. Quer durch London spielt man Mr. X und Monopoly. Man kauft sich in quasi-reale Spiele ein, die mehrere Monate dauern. Wie Michael Douglas in The Game erkennen wir nicht, wer Statist, Rollenspieler oder Passantin ist. Wer das Spiel organisiert, lernt, wie wir uns verhalten und beabsichtigt vielleicht, durch Nudging, unser Verhalten zu ändern. Spielen werden wir natürlich auch online. In Videospielen daten, arbeiten, verkaufen und lernen wir. Durch die präzise Simulation des Analogen werden digitale Räume zu gleichberechtigten Orten, um Zeit zu verbringen und seine Identität festzumachen. In der Folge bezieht sich immer mehr Arbeit nur noch auf den digitalen Raum. Prototypen dieser Arbeitswelt sind Bitcoin- Schürfer oder professionelle Gamerinnen.

Stimmen statt Bildschirme

Zu den Wunderländern der Zukunft gehört das Voice Computing. Statt mit unseren Händen weisen wir die Maschinen mit unseren Stimmen an. Im Accustic Turn verlagern sich Informationszugriff, Interaktion und Unterhaltung auf Mikrofone, Kopfhörer und Lautsprecher. Vorläufer dieser Zukunft kennen wir einerseits durch Chatbots. Sie helfen uns, Weihnachtsgeschenke zu bestellen und Liefertermine zu verschieben, diagnostizieren Hautkrankheiten und therapieren Depressionen. Anderseits basieren unsere digitalen Assistenten auf Voice Computing. Sie heissen Alexa (Amazon), Siri (Apple) oder Cortana (Microsoft). Noch sind Menschen unverzichtbar, wenn es komplexer, emotionaler, unberechenbar wird. Aber in 20 Jahren werden die Maschinchen nicht mehr so dumm wie heute sein. Sie empfehlen, was wir kochen sollen, fassen Gespräche zusammen, bereiten Sitzungen vor, recherchieren für uns.

Ein Viertel der Haushalte in den USA beheimatet intelligente Lautsprecher. 38 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer nutzen auf ihren Smartphones Sprachsteuerung. Zwei Gründe sprechen für eine Verbreitung des Voice Computing. Erstens ist die Stimme wie unser Fingerabdruck oder unsere DNA ein unverwechselbares Identifikationsmerkmal. Per Stimmabdruck loggen wir uns ins Bankkonto ein und zahlen im Supermarkt der Zukunft. Zudem komprimiert sie persönliche Informationen. Sie kondensiert die Persönlichkeit, verrät unsere Gefühle, ob wir gestresst oder depressiv sind. Die an diesen Informationen Interessierten werden die Technologie in den Markt drücken. Wer hört uns unbemerkt zu, analysiert uns ohne Erlaubnis? Zweitens spricht langfristig die Ökologie für mehr Voice Computing. Wenn wir mit der Stimme die Maschinen bedienen und sie uns in Kopfhörern statt Bildschirmen antworten, würden wir Energie und Rohstoffe sparen.

Wie im Film Her werden uns die Maschinen begleiten, alles hören, sich an alles erinnern. Werden sie unsere Gedanken aufzeichnen? Werden sie noch früher als heute sehen, was uns ereilen wird? Sie denken mit und sind via Airpod für uns da. Im Accustic Turn wird die schriftliche zur mündlichen Kultur. Schon jetzt sieht man die Teenies am Bahnhof mit ihren Kästchen plaudern, Podcasts boomen. Die Kulissen unseres Alltags erwachen. Autos, Möbel, Backöfen und Zahnbürsten beginnen sich mit uns zu unterhalten. Ihre Stimmen werden sich menschlich anhören. Tastaturen und Mäuse verschwinden, die Geräte erkennen unsere Gesten. Je häufiger und intimer wir mit ihnen sprechen, je mehr wir glauben, dass sie uns verstehen, desto mehr Gefühle werden wir für sie entwickeln. Werden sie unsere Freunde sein? Wer wird den Sex mit ihnen mehr geniessen als mit den unvollkommenen, unzuverlässigen Menschen? Wird dieser Selfsex zum Normalfall?

Maschinenkunst

Längst haben die Maschinen begonnen, kreativ zu sein. Sie schreiben Kochrezepte, komponieren Popsongs, malen Bilder, designen Logos, schreiben Gedichte. Zu ihren aussergewöhnlichen Fähigkeiten gehört es, die Kreativität verstorbener Künstlerinnen und Künstler nachzuahmen. Eine künstliche Intelligenz setzt das Werk Rembrandts fort. Sie hat sich gemerkt, welche Farbtöne dem Meister gefielen und nach welchen mathematischen Regeln er Gesichter malte. Einmal trainiert malt die Maschine in seinem Stil neue Bilder. Tausende neue Rembrandts erblicken das Licht der Welt. Fälschungen, Originale und zeitversetzte Fortsetzungen sind für Amateure nicht zu unterscheiden. Die absehbare Personalisierung der Wunderländer macht die Fähigkeiten der Robo-Künstlerinnen unverzichtbar. Ihr Umfang übersteigt unsere menschliche Kapazität, unsere Fantasie genügt nicht.

Wird die ganze Welt zum Wunderland, verschwimmen Grenzen – zwischen den von Menschen und Maschinen erstellten Welten, dem Realen und Künstlichen, dem Original und der Kopie, der Wahrheit und der Lüge. Simuliert isst man ein Steak, dabei ist man eigentlich Tofu. In diese Entgrenzung fügen sich Deepfakes ein. Fälscher manipulieren Lippenbewegungen und Stimmen, setzen Körpern falsche Gesichter auf. Viral ging eine angeblich betrunkene Nancy Pelosi, beliebt ist das Face Swapping mit Pornodarstellern. Täuschend echt sind sie, die Hacks der Wirklichkeit, kaum als Täuschung zu erkennen. Noch zielen sie primär auf Prominente ab – um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, Geld zu erpressen, Aufmerksamkeit zu erhaschen und für Agitation zu sorgen. Doch die Fälschungstechnologien werden so billig und einfach zu bedienen sein, dass sie uns allen zur Verfügung stehen.

Gefälscht werden das Ferienfoto, das Video an der Weihnachtsfeier, das Masturbieren vor der Webcam. Wir alle sind potenzielle Opfer – und werden in unserer Unsicherheit, Wahres von Falschem zu unterscheiden, zu misstrauischen Beobachterinnen, paranoiden Nutzern. Dummerweise sind Falschinformationen leichter in die Welt zu bringen als zu korrigieren. Manche von uns werden sich selbst fälschen. Wenn alles ein Wunderland ist, warum sich nur mit Tätowierungen und Weiterbildungen modifizieren? Authentizität gilt im Wunderland nur für die Dauer des Moments. In jedem von ihnen können wir jemand anderes sein. Nichts ist mehr, wie es scheint, alles könnte tausendfach anders sein. Es gibt keine Wahrheit, keine Echtheit, kein Original mehr. In der Not entdecken wir analoge Speicher, Kommunikationswege und Beweismittel wieder: Die Schreibmaschine, den Brief, die Spiegelreflexkamera.

Versteht Kulturförderung die “Wunderländer” als relevante Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel folgende Fragen: Welche analogen und digitalen Wunderländer braucht es? Welche Daten, Quellen und Geschichten stehen für ihren Bau zur Verfügung? Gibt es tatsächlich einen Wechsel in eine mündliche Kultur? Wie kann man nichtökonomische Wunderländer verteidigen? Welche Spiele und Zeitreisen gilt es zu fördern, welche Utopien und Dystopien zu simulieren?


Netflixierung beschreibt, wie sich Konsum und Kultur dem Streaming angleichen. Angebote werden im Abo vertrieben, mit Daten unseren Vorlieben angepasst. Algorithmen empfehlen, wie’s weiter geht. Mächtige Plattformen aus den USA und China dominieren das Geschehen. Statt vertikal wie im Zeitalter des Films werden Geschichten, Identitäten und Biografien wie Serien horizontal erzählt – mit vielen Figuren und Handlungssträngen.

Universum 2 – Netflixierung

Milliardenschwere Startups machen vor, was passiert, wenn die Geschichten wichtiger als die reale Wertschöpfung werden, wenn die Verpackung den Inhalt verdrängt. Nicht immer folgen den fantastischen einhörnigen Versprechen auch Taten.
Milliardenschwere Startups machen vor, was passiert, wenn die Geschichten wichtiger als die reale Wertschöpfung werden, wenn die Verpackung den Inhalt verdrängt. Nicht immer folgen den fantastischen einhörnigen Versprechen auch Taten.

Wirtschaft der Geschichten

Auf weitere Turnschuhe oder ein neues Büchergestell kann man in der Schweiz eigentlich gut verzichten. Überhaupt sollte man ja etwas nachhaltiger einkaufen. Unser Konsum dreht sich auch deshalb zunehmend um das Immaterielle, weil sich unser Alltag in und vor die Bildschirme verlagert. Im Fokus der Wirtschaft der Zukunft stehen Erkenntnisse, Unterhaltung, Stimmungen, Gefühle und Identitäten. Das alles gibt es in Wunderländern in Hülle und Fülle! Eine riesige Industrie möchte uns glücklich machen. Sie lehrt das positive Denken, Achtsamkeit und Wiederaufstehen. “Heute liegt es an uns selbst, negative Gefühle zu blockieren, uns selbst zu optimieren und Achtsamkeit zu praktizieren." Werden wir noch unglücklich und unausgeglichen sein dürfen?

Emotionale und normative Argumente rücken beim Kaufen in den Vordergrund. Veja will Schuhe herstellen, die “in jeder Produktionsstufe positive Effekte für die Umwelt schaffen”. Bei Choba Choba kaufen wir unsere Schoggi direkt beim Kakaobauer. Unternehmen sind aufgefordert, Geschichten zu erzählen und diese weitergedacht vorzuleben und im Sinne der Wunderländer erfahrbar zu machen. Das funktioniert am besten, wenn sie sich auf aktuelle Trends beziehen und von einer optimierten Zukunft berichten. Erzählt werden muss auch für den Arbeitsmarkt. Je mehr Sinn die Menschen in ihre Arbeit projizieren, desto wichtiger werden die Visionen eines Arbeitgebers. Er stellt keine Produkte her, er macht die Welt zu einem besseren Ort.

Einhörner, milliardenschwere Start-Ups, machen indes vor, was passiert, wenn Geschichten wichtiger als die reale Wertschöpfung werden. Nicht immer folgen den fantastischen einhörnigen Versprechen auch Taten. Die Werte der Start-Ups schaukeln sich ins Absurde hoch – selbst wenn die Unternehmer vor allem träumen und über Jahre hinweg Verluste schreiben. Über das Einhorn Theranos, das den Bluttest revolutionieren wollte und kläglich scheiterte, gibt es bereits mehrere Bücher, Filme sind in Planung. Der Wert des Co-Working-Anbieters WeWork fiel quasi über Nacht von 47 auf 9 Milliarden US Dollar. Wir haben es mit einer narrativen Blase zu tun.

Horizontales Erzählen

Der Trend der Netflixierung stärkt das horizontale Erzählen. Die Geschichten der alten Welt folgten der vertikalen Logik des Films. Vereinfacht ausgedrückt und im Gegensatz zur Serie, funktionieren Filme mit wenigen Hauptfiguren, einem Handlungsstrang, mit klar erkennbarem Anfang und Ende. Am Ende löst sich alles auf, Widersprüche weichen, sofern man nicht gerade David Lynch schaut. Zum vertikalen Zeitalter des Films passten drei Metaerzählungen, welche die westliche Geschichte erzählen. Politisch standen erstens die Entfaltung und Verbreitung der Demokratie auf der Agenda. Der Neoliberalismus brachte zweitens den Kapitalismus in alle Ecken der Welt und alle Bereiche des Alltags. Christlich gedeutet, führte das Leben drittens aus den Armen Gottes und zurück in sie. Alle drei Erzählungen haben ihre Kraft verloren.

Traditionelle Religionen sind für viele irrelevant. «Zwinglis Zürich wird zur Stadt der Gottlosen» titelte der Tagesanzeiger im Januar 2019. Mehr als ein Drittel der Stadtzürcher gehört keiner Religion mehr an. Weltweit sind Demokratien durch Populisten herausgefordert. Der Kapitalismus wiederum steht wegen seiner fehlenden Nachhaltigkeit sowie der Verstärkung der Ungleichheit in der Kritik. Statt neuen Metaerzählungen gibt es zahlreiche kleine Geschichten, die etwas über die Zukunft berichten. Zum horizontalen Erzählen gehören zwangsläufig Widersprüche. Die resultierende Komplexität strengt viele an. Sie wünschen sich Wahrheiten, Grenzen, Hierarchien, Helden, klare Geschlechterbilder.

Das neue Erzählen prägt unser Geschichtsverständnis. Einfache Kausalitätsketten und Heldengeschichten sind längst passé. Es ist komplizierter, Netzwerke, Abhängigkeiten, Widersprüche und Parallelgeschichten sind zu beleuchten. Unsere Biografien und Identitäten verschreiben sich dem horizontalen Erzählen. Wir sind viele, sind ein Netzwerk, haben mehrere Persönlichkeiten und Karrieren. An ein Schicksal glauben noch die wenigsten. Stattdessen glauben wir an den Moment, an die Vielfalt, an die Kraft von Erinnerungen, an das Glück. Das verpflichtet zu steuern, wohin uns das Leben führen soll. Die unterstützende Coaching-Industrie floriert, Populisten stellen der Komplexität die Reduktion gegenüber.

Plattformisierung

Netflixierung basiert wesentlich auf der Potenz der Plattformen. Im Plattformkapitalismus kann jedes Produkt und jede Dienstleistung per App gebucht werden – mit entsprechenden Lo-gins und Datenspuren. Die meisten Anbieter stammen aus den USA und China, Spotify und SAP sind die einzigen grossen europäischen Plattformen. Im Überwachungskapitalismus hat dieser Mangel eine geopolitische Dimension. Neben Netflix sind Facebook, Uber, Google, Airbnb, booking.com oder die Banking-App Revolut typische Vertreter der Zunft. LinkedIn ersetzt das Verfassen von Lebensläufen und Motivationsschreiben. Auf den Plattformen finden Angebot und Nachfrage passgenau zusammen, Preise werden dynamisiert und personalisiert, unsere Konsumgeschichte online festgehalten. Kunden sind Datensätze.

Die Mobilität und Energieversorgung, das Gesundheitswesen, die Fürsorge für alte Menschen, die Versicherungen oder das Recycling sind noch nicht durch Plattformen organisiert. Es entstehen neue Grosskonzerne. Metaplattformen werden integrierend wirken und bisherige Anbieter verbinden. So hat Sky ein Angebot vorgestellt, mit dem Nutzer auf die Serien des Konkurrenten Netflix zugreifen können. Mit Metabanken verwalten wir alle unsere Konten mit einem einzigen Log-in. Tickets der Zukunft decken auf einer Reise von A nach B alle Verkehrsträger ab – egal ob wir im Taxi, Zug oder Flugzeug sind. Diese Beispiele zeigen, wo die freien Räume für neue Plattformen aus Europa liegen. Alternativ könnten sie sich dem Überwachungskapitalismus entsagen und die Angebote der Tech-Konzerne aus den USA und China neu denken – zum Beispiel durch mehr Datenschutz oder Dezentralisierung.

Selbst der Staat der Zukunft dürfte eine Plattform sein – zum Beispiel, um Steuern und Vorsorge zu verwalten oder per Link Zugang zu Dokumenten zu geben. Im Gesundheitswesen fasst das plattformale Selbstverständnis ebenfalls zögerlich Fuss. Alle Akteure, die sich um unsere Gesundheit kümmern, erhalten Zugang zu unserer digitalen Krankenakte. Als digitaler Zwilling wird sie künftig von intelligenten Toiletten, Schuhen, Kleidern, Armbändern, Uhren aktualisiert. Auch in Kultur und Bildung gibt es Raum für Plattformen. Warum nicht alle in einer Bibliothek ausgeliehenen Bücher, alle Lieblingsbilder in besuchten Museen, sämtliche gelesenen Wikipedia-Artikel, alle an einer Universität belegten Kurse in Aus- und Weiterbildung, alle dort geschriebenen Arbeiten in der Cloud speichern?

Konsum im Abo

Konsum findet künftig noch häufiger in der Logik des Abos statt. Weit verbreitet ist sie bereits in den Weiten Digitaliens. Die Profis sprechen von der Subscription Economy. Wir kaufen keine neue Office-Version für Word und Powerpoint mehr. Stattdessen überweisen wir jährlich eine Gebühr, um regelmässige Updates zu erhalten. Auch Cloud-Speicher (Dropbox) oder unseren Medienkonsum (Spotify, Netflix, NZZ) bezahlen wir im Abo. 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen und ein Viertel der Bevölkerung streamt Musik über Spotify – Tendenz stark steigend. Weniger offensichtlich bezahlen wir die Dienstleistungen der sozialen Medien und Suchmaschinen durch Abgaben. Statt Geld überweisen wir Daten.

Unternehmen sichert das Abosystem wiederkehrende Einkünfte – was das Planen der Zukunft wesentlich vereinfacht. Seit 2012 haben sich US-Unternehmen mit Abomodell doppelt so gut entwickelt wie die ohne. Kundinnen und Kunden erhalten sofort Zugriff auf die aktuellsten Angebote. Produkte werden zu Versionen. Als Gegentrend zum Abo verbreiten sich Mini-Varianten von Angeboten, die man früher mit einem langfristigen Vertrag abschliessen musste. Wir versichern die Drohne für ein Wochenende, gönnen uns für einen Monat einen zweiten Streamingdienst. Auch im Analogen verbreitet sich das Abo. Die wöchentliche Lieferung von regionalem Gemüse ist so beliebt wie nie. Rechtsberatung gibts in der Nähe vom Bahnhof für 60 Stutz als Walk-In-Angebot. Co-Working ist zumindest digitale Nomaden eine spannende Alternative zum Homeoffice oder zur permanenten Miete eines Büros.

Ein wichtiger Treiber der Abos ist die Sharing Economy. Mobility war ein Pionier in der Umdeutung des Autos, Airbnb beim Mieten einer Ferienwohnung. Ähnliches könnte bei Kleidern und Möbeln passieren – um uns je nach Lebenssituation verändern zu können und dabei die Umwelt zu schonen. Bibliotheken und Ludotheken werden wieder cool. Die Sharing Economy lehrt auch Unternehmen das Teilen. Sie werden noch mehr auf flexible Nutzung statt Anlagevermögen setzen. Man teilt Mitarbeitende, Daten und Bürogebäude. Chefs teilen die Arbeit in Co-Leadership auf. Bauern nutzen Traktoren und Drohnen gemeinsam, Haus- und Zahnärzte teure Untersuchungs- und Behandlungsgeräte, Banken Chatbots und andere KI-Anwendungen. Freischaffende teilen sich Assistenten, Buchhalterinnen und Sitzungszimmer.

Smarte Vernetzung

Unsere Daten sind Basis einer umfassenden Personalisierung von Konsum, Unterhaltung und Information. Bereits passen sich die Streams in den sozialen Medien, Playlists, Suchmaschinen unserer Datenspur an. Bücher und Musik hören wir nach der Logik der Empfehlungsalgorithmen. Netflix personalisiert gar die Vorschaubilder seiner Serien. Bis 2040 werden digitale Zeitungen, Fahrpläne und Medikamente ebenfalls individualisiert. Kleider und Schuhe werden gemäss unseren Massen produziert. Die smarte Vernetzung ragt ins Analoge. Hotels machen Vorschläge, mit wem wir spätnachts einen Gin Tonic trinken könnten. Krankenkassen zeigen mit Hilfe von Algorithmen auf, welche Psychiaterin am besten zu uns passt. Sogar Tätowierer und Tätowierte finden via Plattform zusammen.

Was passiert, wenn alle personalisierte Bücher und Filme haben, wenn jedes Wunderland eine individuelle Projektion ist?

Aus den gesammelten Daten generieren Plattformgiganten das Wissen und die Machtquellen der Zukunft. Jede ihrer Empfehlungen ist ein A-B-Test. Die Controllerinnen erkennen, was funktioniert und was nicht, auf was wir anspringen, was wir ignorieren. Ihnen steht die Infrastruktur zur Verfügung, um mit unseren Meinungen und Gefühlen zu spielen, gigantische soziale Experimente zu unternehmen. Ihrer Kontrolle bewusst verhalten wir uns wie Beobachtete. Je mehr wir in digitalen Cockpits erleben, desto mehr befinden wir uns in einer auf uns zugeschnittenen Welt. In der Individualisierung verblasst der Zufall, die Meinungen und Perspektiven der anderen verlieren wir aus den Augen. Was passiert, wenn alle personalisierte Bücher lesen und personalisierte Filme schauen? Was, wenn jedes Wunderland eine personalisierte Projektion ist und wir eigentlich immer allein in ihnen unterwegs sind?

Besonders deutlich sind die Echokammern zurzeit dort, wo es um den Klimawandel oder die Wahrnehmung Chinas, Russlands und der USA geht. Die Wahrheiten, an die wir glauben, sind so unterschiedlich wie die Mittel, um den Weg in die Zukunft zu gestalten. Nicht alle glauben an den Klimawandel, nicht alle wollen ihm gleich begegnen. Die Echokammern verlaufen quer zur Geografie. Es entstehen Gesellschaften in Gesellschaften, Staaten im Internet, auf Schiffen lebende Mini-Staaten. Den Mitgliedern unser Communities fühlen wir uns näher als den Nachbarn. Umso wichtiger werden Orte und Mechanismen, welche die Echokammern aufbrechen. Dazu eignet sich das Tauschen, Austauschen und Debattieren, das Unvorhersehbare und nicht Vermessbare, das von den Algorithmen Unberührte. Schrumpfen die öffentlichen Räume, drängen das Ökonomische und mit ihm die Datensammler noch weiter in unsere Leben vor.

Versteht Kulturförderung die “Netflixierung” als relevante Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel folgende Fragen: Wo wird heute vertikal, wo künftig horizontal mit vielen Handlungssträngen und Figuren erzählt wird? Wo braucht es Bildung für horizontal erzählte Biografien und Identitäten? Wo sollte Kultur zur Plattform werden? Wo könnte Kulturförderung Abos, Personalisierung und Empfehlungsalgorithmen im Verkauf von Erlebnissen und Erkenntnissen forcieren?


Durch Populismus, die Fortsetzung der digitalen Transformation, den Wettbewerb zwischeb den USA und China sowie den Umgang mit dem Klimawandel drohen neue Risse durch die Gesellschaft, die so schnell nicht wieder verwachsen. Politische Lager missverstehen sich ebenso wie Stadt und Land, Christen und Muslime, Jung und Alt, Arm und Reich, Gebildete und Ungebildete, Technologiefans und -kritiker. Man fürchtet das Andere, misstraut, meidet es.

Universum 3 – Neue Risse

Die Supermächte streiten um die Herrschaft im All – und damit die Kontrolle der Satelliten (und damit der Datenströme). Trump befahl den Aufbau einer Space Force, Kostenpunkt 740 Milliarden.
Die Supermächte streiten um die Herrschaft im All – und damit die Kontrolle der Satelliten (und damit der Datenströme). Trump befahl den Aufbau einer Space Force, Kostenpunkt 740 Milliarden.

Supergebildete vs. Gettos

Für die Polarisierung verantwortlich sind Echokammern, ungleiche ökonomische Perspektiven, nach Aufmerksamkeit und Macht gierende Politiker, die gestiegene Mobilität, die Digitalisierung unserer Beziehungen. Sie werden fluider, entkoppeln sich vom Ort. Für Hypermobile ist Heimat dort, wo der Laptop steht. Ihre Informationsquellen, ihr Lebensstil und Freundeskreis sind global. Man fühlt sich verbunden mit jenen, die ähnlich denken und aussehen. Werte, Marken, Visionen strukturieren die Gesellschaft um. In den so formierten Wahlgemeinschaften steigt die Solidarität, doch gleichzeitig sinkt das Verständnis für andere. Volksparteien zerfallen: “Ihr «Volk» ist verschwunden, es gibt nur noch vernetzte Individuen”. Volksparteien werden durch soziale Bewegungen verdrängt, deren Fixpunkte man liebt oder hasst. Die Anhänger Trumps und seine Feinde, Greta-Fans und Greta-Hasser, Brexiteers und Remainer haben sich wenig zu sagen.

Winner Takes It All-Effekte verstärken die Risse. Reiche werden reicher, Kreative unangepasster. Gebildete ziehen in die Nähe Gebildeter. Seit den 1970ern haben sich die Unterschiede zwischen “gebildeten und ungebildeten Städten” in den USA verdoppelt. Während die Löhne der Digital- und Innovationsaffinen steigen, stagnieren sie in Berufen, die durch die digitale Transformation an Bedeutung verlieren. Einkommen auf Kapital nehmen zu, Lohneinkommen fallen. Neue Jobs entstehen im Premiumsegment, während Jobs im mittleren Bereich wegfallen. Die Elite der Zukunft ist digital-nerdig oder kreativ-disruptiv. Das Handwerk erlebt eine Renaissance, wo es unverzichtbar ist (beim Spengler, der Gärtnerin, dem Malermeister) oder Kunden bereit sind, Unikate teuer zu bezahlen. Kreative Eigenleistungen sind gefragt, Arbeit wird zur künstlerischen Performance.

Wie leben die Unsichtbaren der digitalen Streams? In düsteren Stadtteilen, die wir nicht einmal kennen?

Was aber passiert mit den Unkreativen, den für die Technologiekonzerne Irrelevanten, mit den Absteigenden aus der Mittelklasse, mit jenen, die mit den neuen Formen der Gruppen- und Identitätsbildung nicht klarkommen, mit jenen, die durch die sozialen Netze fallen, für die sich niemand interessiert, mit jenen, die in unseren Streams unsichtbar sind? Werden sie in düsteren Stadtteilen abgehängt, die wir nicht kennen und niemals besuchen? Dänemark führt eine Gettoliste. Über die Einstufung entscheiden unter anderem die Arbeitslosenquote, die Anteile an Immigranten und Vorbestraften. Zwecks Integration müssen “Getto-Kinder” mindestens 25 Stunden pro Woche in die Kita. In Dänemark stützten in den letzten Jahren übrigens Rechtspopulisten. Gemäss dem Atlas der Globalisierung sind sie auch in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn stark. Die Schweiz fehlt in den Zahlen.

Digitale Vorreiter vs. Offliner

Neue Risse verlaufen auch zwischen Skeptikern und Fans der Digitalisierung. Letztere halten technologische Fortschritte für unverzichtbar, um unsere Probleme zu lösen. Sie bejubeln diese, weil sie unser Leben vereinfachen, verdichten, intensivieren. Sonntags schicken sie ihre Drohnen über den Vierwaldstättersee. Sie schmücken sich mit intelligenten Ringen, Kleidern und Turnschuhen, richten ihr Zuhause mit smarten Betten, Toiletten und Lautsprechern ein. In ihren Häusern werden Fenster, Wände und Tische zu Bildschirmen. Roboter sind als Haushaltpersonal ebenso geschätzt wie als Gesprächspartnerinnen. Digitale Fans lassen künstliche Intelligenz entscheiden, wen sie lieben, was sie essen und welche Bücher sie lesen. Wearables vermessen Schritt und Tritt, jeden Herzschlag, jede Erregung. Mit den generierten Daten optimiert man sich. Allerdings normiert das quantifizierte Selbst freiwillig sein Verhalten. Viel anders als das chinesische Social-Scoring-Modell funktioniert diese Selbstvermessung nicht.

Den Vorreitern des Digitalen, Jeff Bezos oder Elon Musk, genügt das Leben auf Erden indes nicht. Ihre Orientierungspunkte liegen fern in der Zukunft. Sie wollen ins All, zu den Sternen, zu fremden Planeten, zu anderen Zivilisationen. Ein zweites, privatisiertes Space Race hat begonnen. Muss der Mensch, um das Universum zu erkunden, zum Cyborg werden, sich von seinem Körper lösen? Wird dieser mehr Mensch oder Maschine sein? Wird er die Kreativität aller Erdenbewohnerinnen vereinen? Die Skeptiker der digitalen Visionäre sehen zahlreiche Gefahren in einer Welt der Automaten, Drohnen und Cyborgs. Neben einem unverträglichen Ressourcenverbrauch befürchten sie Anonymisierung, Entsolidarisierung und Überwachung. Das Paradies der Offliner ist ein Retroland.

Es ist eine Welt mit weniger Daten, weniger Technologie, weniger Maschinen, weniger Superkapitalisten, die das Rad in vollem Tempo am Laufen halten. Die divergierenden Erwartungen an die Zukunft machen den Fortschritt zum religiösen Disput. Künstliche Intelligenz könnte zur Superintelligenz reifen – oder ewig dumm bleiben. Ihre Jünger beten sie an.Verängstigte wollen die entsprechende Forschung und Entwicklung verbieten. Wer aber verlangt, das Lebewesen Mensch solle ewig gleich bleiben, argumentiert ebenso metaphysisch wie jene, die es zum Cyborg mit Hirn-Internet-Schnittstelle aufrüsten wollen. Eine religiös aufgeladene Diskussion der Zukunft verheisst wenig Gutes für die Menschheit. Wir waren noch nie gut darin, metaphysische Konflikte friedlich auszutragen.

China vs. USA

Aus einer globalen Perspektive ist die Verzahnung zwischen den USA und China erwähnenswert. Sie erinnert an den Kalten Krieg. Beide Megamächte wollen die globale politische, militärische, technische, ökonomische Herrschaft. In diesem Kontext der Unsicherheit und Bedrohung wird aufgerüstet. Die globalen Rüstungsausgaben sind so hoch wie zuletzt vor 30 Jahren. Man duelliert sich um die Herrschaft im All – und damit um die Kontrolle der Satelliten (und Datenströme). Trump befahl den Aufbau einer Space Force, Kostenpunkt 740 Milliarden US-Dollar. Je nach Regierungsform wird die digitale Infrastruktur als Hilfsmittel schwarmintelligenter Staaten und der Demokratieerneuerung oder als Propaganda- und Überwachungsmaschine verstanden. Die Causa Huawei zeigt, wie sich der neue Kalte Krieg in die Ökonomie verlagert, das Duell unseren Alltag unterwandert und Regulatoren herausfordert. Wird man Produkte verbieten, Geräte aus dem Markt ziehen? Wie werden die sozialen Medien auf die Konkurrenz aus China reagieren - auf TikTok, WeChat, deren zahlreiche Nachfolger?

Kriegerische Auseinandersetzungen und Sabotagen drohen als Stellvertreterkriege nicht nur im All, sondern auh im Nahen Osten sowie entlang der wichtigen Handels- und Energierouten in Euroasien. Anlagen zur Entsalzung von Meerwasser könnten ebenfalls ins Visier geraten. In Cyberkriegen sind die Zentren, Verbindungsadern und Verkehrszentralen der Geld- und Datenflüsse bedroht: Spitäler, (National-)Banken, Börsen, Flughäfen, Kraftwerke. Offen ist die Rolle Europas, Indiens und Russlands. Wird man sich einem Megasystem anschliessen oder Alternativen ins Spiel bringen? Werden kleine Länder neue Koalitionen bilden – die Schweiz, Schweden, Norwegen, Irland und Neuseeland? Ebenso unklar ist, wie die Zukunft des afrikanischen Kontinents. Wird der Riese erwachen, sich vom Neokolonialismus befreien und dank seiner jungen Bevölkerung das neue China werden? Wird er durch Leap-Frogging ganze Epochen überspringen und zum neuen High-Tech-Zentrum und grünen Vorbild des Planeten? Droht dort in zwanzig Jahren eine massive Arbeitslosigkeit?

Ein Systemwettbewerb ist auch zwischen demokratisch und autoritär regierten Staaten erkennbar. Die Autoritären gewannen im letzten Jahrzehnt an Zulauf. Sie scheinen besser von digitalen Hilfsmitteln zu profitieren als Demokratien, denen es schwerfällt, sich digital zu erneuern. Autoritäre setzen um, während Demokratien über Grundrechte, Freiheit und Selbstbestimmung debattieren. Schreiben sie gerade an einem ganz anderen Ende der Geschichte? Zwischen ökologischen und marktliberalen Kräften zeichnet sich ebenso ein Duell ab. Wird Europa konsequent auf den Green Deal setzen? Werden dazu die Kräfte fusioniert, wie bei den Grünliberalen oder der Koalition zwischen den Grünen und Konservativen in Österreich?

Strategien der Komplexitätsreduktion

In einer polarisierten Welt unterscheiden sich unsere Hilfsmittel, um mit ihrer Komplexität, ihren Widersprüchen, ihren Spannungsfeldern und ihren Bedrohungen fertig zu werden. Weil es weder eine allgemeingültige Metaerzählung noch eine gemsiname Meinung zum Fortschritt gibt, müssen wir uns selbst zurechtfinden. Einige rufen nach noch mehr Technologie. Digitale Assistenten sollen sie durch die Städte führen, durch die Informationsfluten und den Termindschungel. Sie melden, wenn wir ein Glas Wasser trinken, zum Zahnarzt gehen und unsere Beziehungen beenden sollten. Daten und Metadaten sind das Allheilmittel der Digitalfans. Dort glauben sie neue Medikamente, sinnvolle aber noch nicht angebotene Busstrecken oder die richtige Zusammenstellung von Teams zu erkennen.

In riesigen Datensätzen behalten nur Maschinen den Durchblick. Werden sie ihre Geheimnisse für sich behalten? Werden sie Politiker bedrängen, um zu entscheiden, wofür eine Gemeinschaft Geld ausgeben sollte? Eine zweite Gruppe vertraut statt auf Maschinen und Daten auf den Nationalstaat. Auch sie übergibt die Verantwortung in fremde Hände. Populisten spielen mit ihren Hoffnungen und Ängsten. Sie proklamieren die Überlegenheit des eigenen Landes. America First. Make America great again. Verweise auf eine religiöse Identität stärken ihre Argumente. Von Gott auserwählt sind die Länder dazu bestimmt, etwas ganz Besonderes zu sein. Die Globalisierung wird zurückgedreht, die Grenzen geschlossen – auch die digitalen: Überall Splitternetze statt eines globalen Internets – für China, Russland, die Türkei, den Iran.

Diese Strategie der Komplexitätsreduktion bedingt Feindbilder. Wenn man das Beste ist, sind andere notgedrungen schlechter – oder schlimmer noch, sie wollen schaden, das Eigene unrein machen. Eine dritte Gruppe setzt auf Selbstreflexion statt Fremdbestimmung. Sie fördern und nehmen Kultur und Bildung in Anspruch, um in einer komplexen Welt nicht unterzugehen. Sie reisen, lesen, schauen Filme, gehen ins Theater und Restaurant. In Vorträgen und Performances, in Diskussionen mit anderen Bildungsbürgerinnen suchen sie das Eigene. Veränderung nehmen sie als Chance wahr. Sie sehen die Vorzüge, in einer sich wandelnden Welt ständig einen neuen Platz für sich wählen zu dürfen. Offensichtlich ist dieser Weg anstrengend. Die Verantwortung für sein Leben lässt sich hier nicht delegieren.

Re-Politisierung

Polarisierung hat einen positiven Effekt, wenn sie uns aufrüttelt, uns ermuntert, in unserer Unterschiedlichkeit Gemeinsamkeiten zu suchen, neue Formen der Solidarität hervorbringt. Dazu scheint es notwendig, die Lust am konstruktiven politischen Diskurs zu stärken. Re-Politisierung heisst, Polarisierung nicht einfach hinzunehmen, sondern sie als Anlass zur Reflexion zu verstehen. Das setzt zum einen ein politisches System voraus, in dem wir Möglichkeiten der Partizipation wahrnehmen, in dem sachliche Auseinandersetzung und das Suchen nach Kompromissen möglich sind. Müsste in den Schulen der Zukunft das Diskutieren und Streiten mehr Bedeutung erhalten?

Zum anderen scheint es wichtig, die Diskussion hin zu den Ursachen der Polarisierung zu lenken. Wir prüfen, was uns auseinanderdividiert, was die Ursachen sozialer Ungleichheit sind und wer allenfalls sogar von unserer Polarisierung profitiert. Ein anderer positiver Aspekt der Polarisierung könnte Innovation sein. Je offensichtlicher soziale Konflikte und neue Barrieren der sozialen Mobilität werden, desto grösser wird der Ruf nach Reformen im Service Public und der Infrastruktur, die wir alle täglich nutzen. Je digitaler unser Leben, desto wichtiger wird die immaterielle Infrastruktur: Suchmaschinen, Serien, soziale Medien, News. Bisher werden die Plätze, Kanäle und Kontrollpunkte in Digitalien von privaten Konzernen gebaut. Wie wird der Staat wieder zum Innovator? Muss er sich im digitalen Raum Terrain zurückerobern?

Um Risse zu überwinden, spielen schliesslich öffentliche Räume eine zentrale Rolle. Dort sieht und erlebt man das Andere, erfährt, dass ein Miteinander problemlos möglich ist. Ist es nicht toll, wenn Kopftuchträgerinnen und Transsexuelle, Rollstuhlfahrerinnen und Touristen zusammen tanzen? Kultur mindert Polarisierung, wenn sie Menschen mit diversen Vergangenheiten und soziodemografischen Hintergründen an einen Ort bringt, ungewohnte Perspektiven einzunehmen hilft, zwischen Polen vermittelt. Kulturgutscheine könnten die Beschäftigung mit dem Unbekannten fördern. Mit niederschwelligen Angeboten erreichen Bibliotheken, Stadttheatern neue Zielgruppen. Ohne Street Credibility funktioniert das nicht. Werden Angebote als abgehoben, elitär und veraltet wahrgenommen, steigt niemand darauf ein.

Versteht Kulturförderung “Neue Risse” als Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel die folgenden Fragen: Welche Trennlinien könnte man besetzen, welche moderierend aufnehmen? Welche Gratis-Angebote braucht es? Wie sollte man öffentliche Räume kultivieren? Wie kann man Echokammern aufbrechen, die Lust am politischen Diskurs fördern? Wie wird Gleichgültigkeit zu Solidarität? Wie kann man Unsichtbares sichtbar machen? Wie verstärkt man die Lust auf Zukunft?


Noch nie wurden wir so alt wie heute. Gemäss aktuellen Prognosen sollen wir bis 2040 noch älter werden. Im silbrigen Zeitalter wird die dritte Lebensphase länger und länger. Wir erhalten mehr Zeit, um uns und die Welt in Tiefe und Breite zu entdecken. Dieses Erkunden kreiert neue Märkte aber auch Ansprüche an die Infrastruktur. In der Gesellschaft der Hundertjährigen ist das Verhältnis von Jung und Alt von der Macht der Alten geprägt.

Universum 4 – Silbriges Zeitalter

Werden die alt 68er im hohen Alter nochmals eine Gründungswelle lostreten und die Tech-Konzerne herausfordern, die sie hervorgebracht haben? Führt ihr Weg von Counterculture to Cyberculture zurück zum Ursprung?
Werden die alt 68er im hohen Alter nochmals eine Gründungswelle lostreten und die Tech-Konzerne herausfordern, die sie hervorgebracht haben? Führt ihr Weg von Counterculture to Cyberculture zurück zum Ursprung?

Hundert- und Tausendjährige

2016 lag die Lebenserwartung in der Schweiz bei dreiundachtzig Jahren. Im Vergleich zu 1966 stieg sie um zwölf Jahre. Vor einem Jahrhundert starb man bereits mit 50. Bis 2045 sollen wir durchschnittlich weitere fünf Jahre älter werden. Vielleicht sind diese Veränderungen aber nichts gegen eine potenzielle Disruption des Alterns. Einige Experten glauben, der erste Mensch, der tausend Jahre alt wird, sei bereits geboren. In den USA sank die Lebenserwartung dagegen 2019 im dritten Jahr in Folge. Für den Rückgang wird Alkohol, die erhöhte Selbstmordrate sowie die Opiatkrise verantwortlich gemacht. Nicht alle sind gleich von veränderten Lebenserwartungen betroffen. Unser Vermögen beeinflusst, wie alt wir sterben. Das ärmste Prozent der US-Amerikaner lebt im Schnitt 14 Jahre kürzer als das reichste.

Die silbrige Lebensphase gewinnt bis 2040 auch deshalb an Bedeutung, weil bis dann zahlreiche Babyboomer pensioniert werden. Jährlich kommen schweizweit 100.000 Rentnerinnen dazu. Ab 2021 verlassen mehr Menschen die Erwerbsbevölkerung als dazukommen. Der demografische Wandel wird real – für die Politik ebenso wie für die Unternehmen, denen Know-How und Beziehungen verloren gehen. Im Vergleich zu früher sind die Pensionierten wohlhabender und gebildeter. Viele von ihnen werden 100 Jahre alt. Reiche, bei denen die Prognosen schlecht sind, lassen sich bei -196°einfrieren. Falls man der Kryonik misstraut, lässt man sich von den Ärzten einfach laufend die Organe, Gelenke und Zellen austauschen. Zwischen Pension und Tod stehen bei den Hundertjährigen mindestens 35 Jahre. Das ist doppelt so viel Zeit wie zwischen Geburt und Beginn des Arbeitslebens.

Eine alternde Gesellschaft muss sich zunehmend die Frage stellen, ob sie sich diese lange Altersphase leisten will – oder ob sie die Arbeitszeit verlängert. Agiert sie nicht, geraten die Sozialwerke noch stärker unter Druck. Altersverschuldung und -armut würden zunehmen. Jeder Einzelne von uns wird prüfen, wie lange seine Arbeitszeit dauern soll (oder dauern muss). Einige von uns entscheiden, bis 70 oder 90 zu arbeiten – und dadurch Teil der aktiven Gesellschaft zu bleiben, Lohn zu erhalten, wegen ihrer Ideen und Kontakte gefragt zu bleiben. Allerdings unterstützt die gegenwärtige Arbeitswelt lange Berufsbiografien nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Promis und Verwaltungsräten. Zu hoch ist der physische und psychische Verschleiss durch die Arbeit, zu skeptisch ist man gegenüber Teilzeit, Auszeiten, Bogenkarrieren oder Co-Leadership, zu hartnäckig halten sich männliche Stereotype erfolgreicher Manager.

Werden die 68er eine zweite Gründungswelle lostreten und die Tech-Riesen herausfordern, die sie einst gründeten?

68er als Silberunternehmerinnen

Wenn wir den Begriff Start-Up hören, denken wir an junge Hipster, frisch von der Uni, in Turnschuhen, an Laptops, in Co-Working-Büros. Allerdings ist es längst Zeit geworden, diese Vorstellung zu überdenken. Nicht alle Geschäftsmodelle der Zukunft werden etwas mit Digitalisierung zu tun haben. Nicht jedes Start-Up muss blitzskalieren und als Monopolist die Welt erobern. Wie hier gezeigt gibt es andere Megatrends, zudem hat die Digitalisierung Risiken und Nebenwirkungen. Gefragt ist postdigitales Unternehmertum. Es gibt bescheidenere Pläne und Ertragsmöglichkeiten, im Lokalen und Kleinen, ganz ohne Netzwerk- und Winner-Takes-It-All-Effekte.

Werden die 68er im hohen Alter nochmals eine Gründungswelle lostreten und die Tech-Konzerne herausfordern, die sie hervorgebracht haben? Führt ihr Weg von “Counterculture to Cyberculture” zum Ursprungsort zurück? Werden sie ihre “Kinder” Amazon, Google, Facebook und Apple herausfordern? Jedenfalls wird es im silbrigen Zeitalter zahlreiche neue Unternehmerinnen geben, die ihre Zwanziger lange hinter sich gelassen haben. Im Alter Unternehmerin zu werden, ist ein bisher selten gewählter Lebensweg. Doch schlummert hier ein riesiges ungenutztes kreatives Potenzial. Alte Menschen haben Zeit und Lebenserfahrung. Viele Jahrzehnte lang haben sie sich auf zahlreichen Märkten im In- und Ausland bewegt. Noch nie war eine Generation von Pensionierten so gut ausgebildet wie heute.

Sie wissen möglicherweise besser als die Jugend, welche Ideen sich durchsetzen könnten – gerade bei ihrer Zielgruppe, gerade bei Lösungen für eine Gesellschaft der Hundertjährigen. Alte Menschen mögen Erfahrung, Zeit und Geld haben. Aber vielleicht fehlt der Mut, im Herbst des Lebens nochmals neu anzufangen. Wissen die Silberunternehmerinnen, an wen sie sich wenden sollen, um ihre Ideen umzusetzen? Gut möglich haben sie Angst, sich zu blamieren, dumme Fragen zu stellen. Genauso gross ist das soziale Potenzial älterer Menschen. Wie werden sie in einer Gesellschaft der 100-Jährigen besser sichtbar? Statt zu vereinsamen, könnten sie kochen und Sprachen lehren, Literaturzirkel organisieren, als Expertinnen via Chat in Lebens-, Garten- und Businessfragen Auskunft geben, Katzen füttern, Touristen durch die Altstadt führen, per Brief und Telefon nachfragen, wie’s geht.

Wellen im lebenslangen Lernen

Je älter wir werden, je länger unsere Biografien dauern, desto dringender wird die lebenslange Bildung. Wie sollen wir unsere Kinder bilden, damit sie eine Arbeitsbiografie von 60 Jahren erfolgreich überstehen, ein Leben lang neugierig und kritisch bleiben? Welche Fähigkeiten brauchen sie, um sich ein Leben lang mit sich ändernden Medien neues Wissen anzueignen? Wo halten wir die Erkenntnisse fest, die wir mit zwanzig gemacht haben und die mit achtzig vielleicht noch wichtig sind? Reicht unser Gehirn als Speicher oder sollten wir diesen digital erweitern? Bestehen die bisherigen Gesetzmässigkeiten des Fortschritts in Zukunft, fallen in jede Biografie zwei grosse Technologiewellen. Offensichtlich sollte Bildung zum selbstständigen Lernen, zur Autodidaktik befähigen.

Lebenslanges Lernen hört nach dem Studium nicht auf, im Gegenteil, es beginnt dann erst und erstreckt sich bis weit ins Alter. Ihre silberne Lebensphase wollen die neuen Alten mit Exkursionen, Selbsterfahrungstrips und Weiterbildung füllen. Statt der Karriere rücken beim Lernen die grossen Fragen in den Vordergrund. Woher kommt das Leben und wohin führt es? Was veränderte sich im 18, 19 und 20. Jahrhundert? Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit ausserirdischen Lebens? Werden uns die Roboter vom Planeten vertreiben? Klar, die Senioren-Universität gibt es schon lange. Aber den Alten der Zukunft genügen abendliche unverbindliche Ringvorlesungen nicht. Sie setzen stattdessen auf ein jahrelanges Studium – mit Prüfungen und Abschluss. Bis 2040 werden neue Bildungsinstitute für ältere Menschen entstehen und sich bisherige an der silbrigen Zielgruppe neu ausrichten.

Die vielleicht spannendste Frage im Kontext eines lebenslangen Lernens ist, ob es neben zwei einleuchtenden Bildungswellen zu Beginn und am Ende des Lebens in der Lebensmitte eine dritte Phase geben soll, die wir intensiv für Aus- und Weiterbildung nutzen. Es ist die Zeit, in der wir uns fragen, warum wir hier sind und was wir mit unseren Leben anstellen wollen. Man startet eine zweite, vielleicht ganz andere Karriere, die näher an den eigentlichen Fähigkeiten und Leidenschaften liegt. Das Sinnstreben verdrängt den Erfolgshunger. Das eine oder andere CAS dürften nicht reichen, um das Leben mit 40 zu rebooten.

Home Treatment

Das Alter bringt nicht nur Freudiges mit sich. Doch bietet die Zukunft die Möglichkeit, das Unschöne neu zu denken. So werden das Spital, die psychiatrische Klinik und das Pflegeheim der Zukunft viel öfters als heute in unseren eigenen vier Wänden stattfinden. Nicht nur sprechen die Kosten für dieses Szenario. Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist personalintensiv. Auch Kost und Logis gehen ins Geld: Zimmer und Verpflegung machen über 40 Prozent der Kosten eines Pflegeheims aus. Die Bewohnerinnen und Bewohner decken diese heute mehr schlecht als recht. Die Hälfte von ihnen bezieht Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV. Eine mögliche Antwort wäre die obligatorische Pflegeversicherung.

Ein zweites Argument für die Verbreitung von Home Treatment sind digitale Technologien. Intelligente Betten, Kameras, Toiletten und Uhren übernehmen Kontrollaufgaben, die im heutigen Pflegeheim noch Pflegefachkräfte und Ärzte wahrnehmen. Intelligente Pillen melden, ob sie geschluckt wurden. Smartwatches messen Puls, Bluthochdruck und erkennen Vorhofflimmern. Auch die psychische Betreuung wird digital. Alleine der Kanton Zürich rechnet mit 50'000 Demenzkranken bis 2040. Chatbots und intelligente Lautsprecher könnten helfen. Wir sprechen mit ihnen über unsere Gesundheit, unsere Ängste und unsere Vergangenheit. In virtuellen Wunderländern unternehmen wir Zeitreisen und wiederholen unsere liebsten Erinnerungen. Die so gefürchteten Pflegeroboter dürften häufig immateriell sein – und uns als liebevolle, fürsorgliche und hilfsbereite Stimmen durch die Tage begleiten.

Schliesslich spricht der Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit für ein Altern zu Hause. Viele von uns erschreckt die Vorstellung, in Alters- und Pflegeheimen unsere letzten Lebensjahre zu verbringen. Wir möchten zu Hause bleiben – bei unseren Büchern und Haustieren, in der Nähe unseres Gartens, mit einer Aussicht, die uns vertraut ist, in einem Heim voller Erinnerungen an Tage, als wir frischer und kräftiger waren. Generationenübergreifende Wohngemeinschaften gewinnen ebenso an Bedeutung wie Plattformen, mit denen die Silbrigen und ihre Angehörigen die Pflege organisieren. Wie auf Tinder wählen wir die Pflegenden aus, wie auf AirbnB die Räume, wie auf Netflix den Behandlungsansatz. Durch das neue Altern (das die Unterschiede zwischen den Generationen aufhebt) sowie die höhere Berufstätigkeit der Frauen feiert der Mehrfamilienhaushalt ein Comeback.

Mächtige Alte

Weil westliche Gesellschaften älter werden und gleichzeitig weniger Kinder zeugen, verändert sich das Verhältnis von jungen und alten Menschen (Zahlen Schweiz). Durch ihre Überzahl und ihre finanziellen Reserven haben die Alten über Jahre hinweg die politische und wirtschaftliche Macht. Eine florierende Industrie, die das Altern aufhalten und uns ewig jung halten will, könnte diese Dominanz bis weit ins 21. Jahrhundert aufrechterhalten. Die neuen Verhältnisse werden sich in Abstimmungen und Wahlen spiegeln – und sprechen eher gegen Reformen, die angesichts von Digitalisierung, Demografie und Klimakrise nötig werden. Zudem lenken die Gealterten die Geschicke in der strategischen Führung unserer Unternehmen. Diese Form der Macht hat ein Geschlecht, es ist männlich.

Besonders offensichtlich wird es in Verwaltungsräten. Nur 55 von 206 strategischen Führungskräften der SMI-Unternehmen sind weiblich. In einer Deloitte-Studie geben 21 Prozent der befragten Verwaltungsräte an, den Frauenanteil nicht erhöhen zu wollen, 91 Prozent sind gegen Frauenquoten. Das Durchschnittsalter beträgt übrigens 59. Weil wir länger fit bleiben, dürften die grauen Eminenzen noch lange an der Macht bleiben. Angenommen Babyboomer und Vertreter der Generation X arbeiten bis kurz vor 90, halten die heutigen Verhältnisse noch 30 Jahre an. Vertreterinnen der Generation Y werden dann kurz vor 70 sein. Sie müssen also noch lange darauf warten, um ihre Ideen umzusetzen und werden in 30 Jahren nicht mehr alles ändern wollen. Vielleicht erklärt sich dadurch deren Rückzug ins Private. Wird sie von einer gelobten zu einer verlorenen Generation?

Der Konflikt zwischen Jung und Alt verschärft sich, sollten die Jungen die Alten für eine überschuldete Welt am Rande des Klimakollapses verantwortlich machen. Eine Vorschau auf die Konflikte bieten die Klimademos. Der alte weisse Mann wird noch mehr zum Feindbild – der Linken, der Frauen, der Jungen, der Nachhaltigen, der Reformfreudigen. Die Alterung und die sich verschiebenden Verhältnisse von Jung und Alt haben eine bisher nicht angesprochene internationale Dimension. Nicht alle Gesellschaften altern gleich schnell. In Südkorea und China ist der Kinderquotient (0-bis 14-Jährige im Verhältnis zu 15-bis 64-Jährigen) viermal kleiner als in Nigeria oder Äthiopien. Junge Gesellschaften sind potenziell innovativer, kämpfen aber auch mit Konflikten, wenn die Jungen keine Arbeit finden. Sie werden nach Europa drängen.

Versteht Kulturförderung das “Silbrige Zeitalter” als relevante Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel folgende Fragen: Sollte man Angebote stärker an einem älteren Publikum ausrichten? Unterscheiden sich Gewohnheiten und Bedürfnisse älterer Menschen überhaupt? Wie kann man sie als Kulturschaffende fördern, besser sichtbar machen? Welches Wissen speichern sie über die Vergangenheit? Wie kann man den Dialog der Generationen verbessern?


Nature First folgt aus der Notwendigkeit, intelligenter mit unseren endlichen Rohstoffen umzugehen. Bis 2040 wird die Bevölkerung ebenso steigen wie der durchschnittliche globale Wohlstand. Bisher ging ein höherer Lebensstandard mit einer grösseren Nachfrage nach Rohstoffen, Energie und Mobilität einher. Nature First beschreibt die daraus resultierenden Probleme, Lösungsansätze und politischen Spannungsfelder.

Universum 5 – Nature First

Bis 2040 könnten die arktischen Ozeane eisfrei sein. Es wird eine Verdoppelung der Fluggäste erwartet. Seit 1975 hat sich der Abfall pro Person verdoppelt. Eine Schweizerin produziert jährlich 26.3 Kilo Elektroschrott.
Bis 2040 könnten die arktischen Ozeane eisfrei sein. Es wird eine Verdoppelung der Fluggäste erwartet. Seit 1975 hat sich der Abfall pro Person verdoppelt. Eine Schweizerin produziert jährlich 26.3 Kilo Elektroschrott.

Green New Deal

Die negativen Folgen des Klimawandels werden unübersehbar. Ein erhöhter Meeresspiegel bedroht das menschliche Habitat, bis 2040 könnten die arktischen Ozeane eisfrei sein. Zwar liegen nur 2 Prozent der Landmassen weniger als zehn Meter über Meereshöhe. Doch befinden sich hier Megastädte wie New York, Sydney, London, Mumbai, Vancouver, Tokio und Shanghai. Bangladesch, die Niederlande und die USA könnten riesige Landstriche verlieren. Die Bevölkerung an diesen Küsten schätzt man auf 680 Millionen. Ganze Inseln verschwinden. Brände wüten – werden die Brände in Australien am Jahreswechsel 2019/2020 “das Tschernobyl der Klimakrise” sein? Millionen, wenn nicht Milliarden Tiere starben in den Flammen, darunter viele Koalas, die zu langsam sind, um sich retten zu können. Rohstoffe werden knapp: Kohle, Kupfer, Phosphor, Kobalt, Wolfram, Lithium und Selen oder das für die Lasertechnologie wichtige Yttrium. Sie werden häufig in politisch instabilen Ländern gefördert, sind selten und nur schwer zu ersetzen.

Eine ökologische Wende setzt nachhaltigeren Konsum voraus. Doch Mobilität, Lebensstandard und Datenverbrauch nehmen zu. 2019 stieg die Datennutzung der Deutschen im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent. Bis 2040 wird eine Verdoppelung der Fluggäste erwartet. Seit 1975 hat sich der Abfall pro Person mehr als verdoppelt. Eine Schweizerin produziert jährlich 26,3 Kilo Elektroschrott. 80 Prozent der ausrangierten Geräte landen im Kehricht oder werden illegal entsorgt. Um ihre Ökobilanz zu verbessern, müsste die Wirtschaft eine längere Nutzungsdauer ihrer Produkte anstreben und Abfälle vermeiden. Ein möglicher Orientierungspunkt sind geschlossene Kreisläufe. Aus Fruchtschalen wird Karton, IKEA stellt Möbel aus Verpackungsmaterial her. In Aquaponik-Farmen wird Fischkot zu Gemüsedünger.

Nicht nur Verwaltungsräte und Topmanagerinnen bestimmen die Wirtschaft der Zukunft. Wir alle sind Kunden, Mitarbeitende, Investoren, Regulatoren, haben Zugang zu Social Media, mit denen wir mit Shit Storms unökologisches Verhalten anprangern können. Veränderung entsteht, wenn wir bewusster einkaufen oder die Banken als Multiplikatoren der Geldströme in die Pflicht nehmen. Zum Beispiel investieren sie Milliarden US-Dollar in fossile Brennstoffe: Die Credit Suisse 57, die UBS 26 (2016 bis 2018, gemäss SRF. Nachhaltige Fonds gewinnen wenig überraschend an Bedeutung, die Forderung nach totaler Transparenz ihrer Zusammensetzung nimmt zu. Interessierte stellen sich ihre Vorsorgeprodukte gleich selbst zusammen. Um die ökologische Wende zu unterstützen, können wir Gesetze erlassen. Grossbritannien, Frankreich, Norwegen, Schweden und Dänemark wollen bis 2040 Diesel- und Benzinautos verbieten. Norwegen will bis dann Kurzstrecken-Flieger elektronisch versorgen. Die EU hat einen Green New Deal für 1000 Milliarden Euro beschlossen. Er verlangt Investitionen im Transportwesen, Wohnungsbau, Energiebereich, in Land- und Forstwirtschaft.

Bionik, bionische Firmen und Geo-Engineering

“Nature First” heisst, von der Natur zu lernen, ihre Intelligenz zu kopieren, uns Menschen als Teil von Gaia zu verstehen. Stellvertretend dafür steht die Bionik. Der Begriff setzt sich aus “Biologie” und “Technik” zusammen. Die Bionik verlangt, dass unsere Technologien so intelligent wie die Natur werden. Fortgeschritten ist sie in der Architektur. Die Natur nachzubauen, impliziert, ihre Formen und Funktionen zu imitieren, ihren effizienten Umgang mit Ressourcen zu kopieren. Der Eiffelturm ahmt den menschlichen Knochenaufbau nach. Auf der Expo 2012 wurde eine lamellenbestückte Fassade präsentiert, die sich je nach Sonnenlicht öffnet und schliesst. Forscher tüfteln an lebendigem Beton, der durch Bakterien wächst und sich selbst repariert. Mit neuen Produktionsverfahren wie dem 3-D-Druck nähern wir uns natürlichen Konstruktionsweisen weiter an.

Von der Natur lernen möchten auch soziale Systeme. Wie können wir Städte zu Schwärmen formen – ohne in Schwarmdummheit zu verfallen, ohne einen autoritären Technostaat zu bauen, der Koordination durch Überwachung erzwingt? Schwarmintelligente Unternehmen möchten die Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden besser nutzen und kombinieren. Die mächtige Boston Consulting Group (BCG) spricht von bionischen Firmen. Sie kombinieren das Beste aus Natur und Technik – in Bezug auf ihre Arbeitswelten, Organisationsformen und Informationsflüsse, ihren Umgang mit knappen Ressourcen. Bionische Unternehmen passen sich gemäss ihren Potenzialen flexibel an eine Umwelt im Wandel an. Aufgabe der Managerinnen ist es, den Fluss von Gedanken, Ideen und Wissen aber auch Daten und Emotionen zu optimieren. Gleichzeitig verhindern sie Herdentrieb und Gruppeneffekte.

Wenn der Mensch fortfährt, sich wenig nachhaltig zu verhalten, könnte er gezwungen sein, als Ingenieur in die Grundmechanismen der Natur einzugreifen. Geo-Engineering bezeichnet “technische Eingriffe in das Klimasystem der Erde”. Zum Beispiel wird gefordert, mehr Bäume zu pflanzen und Wälder auszuweiten. Diese Massnahmen verdunkeln jedoch die Erdoberfläche, sie nimmt mehr Wärme auf. Eine Initiative des Energieministers in der Regierung Barack Obamas wollte diese Effekte mit weissen Autos und Dächern sowie helleren Strassen wettmachen. Radikaler denkt das chinesische Geo-Engineering-Programm. Um das Steigen des Meeresspiegels zu verhindern, sieht es bis zu 100 Meter hohe Mauern vor Grönland vor. Weitere diskutierte Notmassnahmen sind das Pumpen von Wasser auf die Antarktis, das Düngen der Ozeane oder das Wolkenimpfen.

Sehnsucht nach Entnetzung

Im digitalen Zeitalter finden Arbeit, Beziehungspflege und Unterhaltung auf Bildschirmen statt. Ihre Grössen mögen variieren, aber da sind sie immer – im Bett, an der Bushaltestelle, auf der Toilette. Selbst wenn die Bildschirme verschwinden, verstummen die intelligenten Lautsprecher und Kopfhörer kaum. Unsere digitalen Fesseln legen wir uns völlig freiwillig an. Längst sind wir eine Smartphone-Gesellschaft. Ein Viertel der Sechsjährigen in der Schweiz hat ein eigenes Telefon. Täglich starren wir 88 Mal auf den digitalen Begleiter. Jugendliche verbringen bis zu vier Stunden pro Tag online. In 20 Jahren wird es Smartphones in heutiger Form nicht mehr geben. Sie werden immaterieller, unsichtbarer, fluider. Als Nachfolger diskutiert man intelligente Brillen, Kontaktlinsen, Kopfhörer, Ringe und Projektionen auf dem Handgelenk. Wir verschmelzen noch mehr mit unserer digitalen Aura.

Nichts zu tun wird zum rebellischen Akt.

Die Natur bildet für viele einen willkommenen Gegenpol zur digitalen Welt. Diese ist häufig anonym, hektisch, aufgeregt, gereizt. Um ihre Steigerungen zu kompensieren, wünschen wir uns Kontraste – um zur Ruhe zu finden, unsere Gedanken und Beziehungen zu ordnen, uns menschlich zu fühlen, unsere Sinne zu kultivieren. Das Bedürfnis nach Rückzugsorten aus Digitalien gleicht einer Sehnsucht nach Entnetzung. Man dürstet nach Stille und Einsamkeit – nach Momenten, in denen wir erkennen, was uns kostbar und wichtig ist, was wir uns eigentlich wünschen. Es sind Oasen der Langsamkeit – ohne Informationspush und Reminder. Nichts zu tun, wird zum rebellischen Akt.

Orte der Entnetzung sind befreit von den Zwängen der Multioptionsgesellschaft. Wir müssen nicht entscheiden, nicht wählen, sind niemandem Rechenschaft schuldig. Wir legen unsere Masken ab, sind einfach nur, warten, dürfen uns gar langweilen. Unsere Systeme werden heruntergefahren, auf Stand-by geschaltet. Können wir unser Selbst in diesem Nichts nicht am besten erkennen? Um dieser Sehnsucht nach Entnetzung nachzukommen, werden bis 2040 digitale Reservate wie Pilze aus dem Boden schiessen. Störsender verhindern, dass wir erreichbar sind. Wir, das sind die digitalen Eliten, die sich diese Auszeiten leisten können. Massagen entspannen uns. Waldbäder heilen uns. In das Streben nach Entnetzung fügt sich der Wunsch nach Reinheit, reiner Baumwolle, echter Vanille.

Grüne Trennlinien

Je mehr die Ökologie zum politischen Thema wird, desto mehr schafft sie neue gesellschaftliche Trennlinien. Sie verlaufen dort, wo einige im Namen der Nachhaltigkeit den Verzicht fordern – und sich andere auf ihre Freiheit berufen. Wer die Natur durch Verzicht schützen will, wird zu staatlichen Eingriffen tendieren, zu Verboten, Gesetzen und Steuern. Apropos Flugverkehr: Fluglinien zahlen auf Kerosin immer noch keine Steuern. Umgekehrt setzen die Verfechter der Freiheit auf die Intelligenz der Märkte. Zukunftsorientierte Unternehmerinnen sollen das Gute vervielfachen und das Schlechte mindern. Die Mächtigen – wie Murdoch in Australien – kapern die Medien, um ihre Version des Klimawandels durchzusetzen. Die jeweiligen Lager haben jeweils andere Träume, andere Feindbilder. Elon will auf den Mars, Greta das Klima retten. Wird beides möglich sein?

Die Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Nachhaltigkeit verläuft emotional, geht es doch um Identitäten. Sichtbar werden die Konflikte bei emissionslastigen Konsumgütern wie beim Fliegen, dem Auto, dem Fleisch oder dem Wohnen. Fleisch und Autos werden bald ähnlich stigmatisiert sein wie heute das Rauchen und das Fliegen. Auch die Nutzung des Digitalen wird stärker ökologisch reflektiert. Die Gerätschaften verschlingen knappe Rohstoffe, ihr Energiekonsum ist beträchtlich. Besonders schädlich ist das Streaming. Streaming ist das neue Fliegen In den USA wird in Spitzenzeiten bereits 50 Prozent des Internetverkehrs auf Netflix und Youtube zurückgeführt. Allgemein schreibt man Netflix 15 Prozent des Traffics zu. Datenzentren fressen Unmengen an Strom, man geht von einer Verfünffachung der Speicherkapazität in den USA zwischen 2014 und 2020 aus.

Der Green New Deal soll die Natur retten, die Volkswirtschaft stärken, neue Arbeitsplätze schaffen. Verzichten wir auf alte Technologien, verstärkt sich der Innovationszwang. Mehr Flugscham bedeutet mehr Highspeed-Züge. Chinas Netz ist besser ausgebaut als Europas, von Amerikas Netz ganz zu schweigen. Durch weniger Fleisch- und Milchkonsum florieren vegetarische und vegane Alternativen. In 20 Jahren werden Ersatzprodukte wie auch Fleisch aus dem Reagenzglas üblich sein, vielleicht sogar der Normalfall. Ähnliches gilt für Fisch. Den Ozeanen geht es schlecht, in der Fischzucht machen sich Industrialisierungsprobleme bemerkbar. Auf jede Tonne Lachs kommen 42 Liter Bleichmittel (um Fischläuse zu töten). Die Politisierung der Ernährung macht tierische, nicht nicht-saisonale und nicht-regionale Produkte deutlich teurer. Ähnlich könnten Eingriffe in Energieversorgung und Mobilität Innovationssprünge auslösen.

Ökolabels und -diktaturen

Um die Nachhaltigkeit unseres Konsums zu steigern, kommt der Ruf nach Ökolabels auf. Diese vermitteln beispielsweise, wieviel Wasser für die Herstellung von Lebensmitteln oder wie viel Energie für deren Lagerung und Transport verwendet wurden. Bei Banken zeigen grüne Labels, wie nachhaltig unser Geld investiert wird. Auch die digitale Zukunft wird gelabelt. Ähnlich wie Waschmaschinen erhalten Smartphones, Datenzentren, Suchmaschinen und Streamingdienste Labels, die über ihre Nachhaltigkeit informieren. Neben dem Preis entscheidet die ökologische Belastung über den Kauf beziehungsweise die Wahl des digitalen Ökosystems. Zu diesem gehören neben Geräten, Software, Streamingdienste und Clouds. Für Tech-Konzerne eröffnet die grüne Welle neue Möglichkeiten der Positionierung und Entwicklung.

Green Tech setzt Standardisierung bei Ladegeräten, eine höhere Lebensdauer der Geräte, eine bessere Reparierbarkeit sowie geschlossene Stoffkreisläufe voraus. Fordern wir von Herstellern mehr ökologische Transparenz ein, werden wir selbst zur Rechenschaft gezogen. Nachdem wir zum Datenlieferant wurden, werden wir nun als Umweltbelaster verstanden. Misslingt es uns, mit Verzicht und Freiwilligkeit die Welt zu retten, werden drastischere Massnahmen populär. In Überwachungsszenarien wird jede Emission registriert, jeder Abfallsünder identifiziert. In Szenarien der Ökodikaturen führen wir alle ein Konto für unseren ökologischen Fussabdruck. Bei jedem Einkauf, jeder Streamingstunde, jeder Zugreise werden uns Ökopunkte abgezogen. In kapitalistischen Gesellschaften steht reichen Menschen ein grösserer Fussabdruck zur Verfügung.

Je weniger wir mit Bargeld zahlen, desto schneller sind solche Szenarien denkbar. Es reicht, bei jedem Kauf die ökologische Belastung zu erfassen und anschliessend sämtliche Ökotransaktionen auf einem Konto zusammenzuziehen. Das zeigt, wie nahe wir uns an Szenarien von Ökodiktaturen bewegen und warum Labels ebenso wie digitales Bezahlen den Trend unterstützen. In Schweden werden 80 Prozent der Einkäufe mit Karte bezahlt, bis 2030 will man bargeldlos sein. Ökodiktaturen zögern nicht, smarte Planstädte neu zu bauen, veraltete Technologien zu verbieten und durch staatliche Lenkung in saubere Alternativen zu investieren. Notfalls wird das Ökoverhalten digital überwacht, wie in Shanghai die Mülltrennung. Der Green Deal wird zur Green Order. Werden totalitäre Staaten die grünsten von allen sein? Wie werden sie sich zu Ländern verhalten, aus denen Klimaflüchtlinge fliehen?

Versteht Kulturförderung “Nature First” als relevante Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel folgende Fragen: Wie kann man sich spielerisch und nicht moralisierend für eine grünere Zukunft einsetzen? Welchen Beitrag leistet man zum Green New Deal? Wo werden Abfall, Recycling und Upcycling zur Kunst? Wer schreibt die dazugehörige Kulturgeschichte? Welchen Beitrag kann man zur Überwindung grüner Trennlinien leisten?


In der Crowdwirtschaft bestimmen neue Akteure das Geschehen. Bisher entscheiden Unternehmen, was produziert und konsumiert wird. Sie definieren, wer wie was arbeitet und was mit unseren Daten passiert. Folglich konzentriert sich hier sehr viel Macht. Zu den neuen Akteuren der Crowdwirtschaft gehören Städte und die Communities der Gleichgesinnten. Mithilfe des Internets bündeln sie ihre Ressourcen. Offline leben sie das Prinzip der Selbstversorgung.

Universum 6 – Crowdwirtschaft

Die Ent-Virtualisierung von Geld könnte auch deshalb an Bedeutung gewinnen, weil sich so viel Geld wie nie im System befindet. 1970 zirkulierten nicht einmal 70% der heutigen Geldmenge.
Die Ent-Virtualisierung von Geld könnte auch deshalb an Bedeutung gewinnen, weil sich so viel Geld wie nie im System befindet. 1970 zirkulierten nicht einmal 70% der heutigen Geldmenge.

Mächtige Städte

Die Urbanisierung, die Start-up-Kultur und beschränkt mögliche Investitionen in die digitale Infrastruktur lassen die Wirtschaft der Zukunft primär in Städten gedeihen. Sie sind Zentren der Kreativität, wo Menschen-, Daten- und Warenströme zusammenfliessen. Hier konzentrieren sich die kulturellen Angebote, werden neue Technologien und soziale Innovationen entwickelt, reflektiert und erprobt. Hier findet das Neue den kreativen Nährboden um zu entstehen. Es kommt zu Effekten der Selbstverstärkung. Durch die ökonomischen und kulturellen Angebote ziehen noch mehr Menschen in die Städte. Seit 1995 findet das Schweizer Jobwachstum in den Kernstädten und deren Agglomerationen statt. Zürich, Basel, Genf-Lausanne und Bern erbringen fast zwei Drittel der nationalen Wertschöpfung. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Auf dem Land entsteht dagegen kaum neue Arbeit. Das verstärkt nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Unterschiede.

Städte sind mächtige linksgrüne Zentren, Bern ihre Hochburg. SVP und FDP kommen zusammen gerade mal auf 19 der 80 Sitze im Stadtrat. Der Stadt-Land-Graben verdrängt den Röstigraben. Die Tiefsteuerkantone Zug, Nid- und Obwalden und Schwyz stimmen immer rechter. Urbanisierung hat eine globale Dimension. In der Schweiz wird es auch in Zukunft keine Stadt mit den Realitäten einer globalen Metropole geben. Das kann für internationale Schweizer Unternehmen insofern zum Nachteil werden, als wir die Möglichkeiten und Bedürfnisse dieser Städte nicht kennen und dazugehörige Lösungen nur im Ausland testen können. Die Vielzahl dieser Megastädte wird 2050 in Asien liegen. Auch deshalb beginnt das asiatische Zeitalter. Die grösste asiatische Stadt soll sich bis 2040 in Mumbai ausbreiten, mit 42 Millionen Einwohnern. Das entspricht in etwa der Bevölkerung der heutigen Ukraine (44 Millionen) oder Belgiens, Griechenlands, Tschechiens und Portugals zusammen.

Auch Delhi (36 Millionen) und Dhaka (35 Millionen) wachsen. In Afrika rechnen Statistiker mit Kinshasa und Lagos. Bis 2075 soll Kinshasa die grösste City der Welt werden. Solche Städte entwickeln sich ökonomisch ganz anders als ihr Umland. Sie können so erfolgreich werden, dass sie politische Unabhängigkeit einfordern. Für internationale Talente und Touristen attraktiv zu sein ist wichtiger, als auf das Umland Rücksicht zu nehmen. Wollen sie noch solidarisch sein und die Infrastruktur auf dem Land bezahlen? Neo-Stadtstaaten könnten politisch ganz andere Wege gehen als ihre konservativen Umländer, Drogen legalisieren, das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer einführen, Autos verbieten, Jugend- und Frauenquoten für Führungsgremien einführen. Um ihre Unabhängigkeit zu erhöhen, fördern sie Urban Farming und Urban Mining. Befinden sie sich in armen Ländern, werden sie sich abschotten und massiv in ihre Sicherheit investieren.

Banken und Gewerkschaften als Crowds

Zu den gestärkten wirtschaftlichen Akteuren der Zukunft gehören zweitens die Communities. Gleichgesinnte schliessen sich zusammen, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Sie kaufen gemeinsam ein, fördern sich gegenseitig, teilen. Wir kennen sie vom Crowdlending (Geld leihen), Crowdfounding (Projekte finanzieren) oder der Crowdinnovation (Ideenfindung). Zusammen kaufen sie sogar Häuser und alte Schlösser. Auf dartanans.fr adoptierten 18.543 Personen für 1,6 Millionen Euro das Château La Mothe-Chandeniers. Alle für einen, einer für alle. Nicht jede Community ist digital. In verlassenen Bergdörfern oder vergessenen Städtchen blühen alternative Formen des Zusammenlebens auf. Statt an globalen Marktplätzen orientiert man sich am Prinzip der Selbstversorgung.

Mithilfe digitaler Plattformen denken Gemeinschaften der Gleichgesinnten etablierte Institutionen neu. Versicherungen und Banken könnten die ersten Verlierer sein. Im Umfeld der Negativzinsen will man sein Geld möglicherweise lieber in reale Projekte investieren als auf einem Konto schrumpfen lassen. Entschädigt wird man für seine Kredite mit den Erzeugnissen, die im geförderten Projekt anfallen – einem Nachtessen im Restaurant, ein paar Eiern, einer handgemachten Vase oder einem Sprachkurs. Kleine Gruppen werden ihre Risiken selbst abdecken – ohne riesige, kostenverschlingende Administration. Ähnlich könnten Crowds Schulen, die medizinische Versorgung, Gewerkschaften und selbstredend kulturelle Institutionen und ihre Förderung neu denken.

Crowdgewerkschaften nutzen das Internet, um zu Streiks und Unterschriftensammlungen aufzurufen. Sie entwickeln und vertreiben Angebote für die Community – zum Beispiel Kurse im digitalen Arbeiten oder gegenseitige Feedbacks in steckengebliebenen Projekten. Online stimmen Freischaffende ihre Arbeitsverträge ab. Jährliche Mitgliederbeiträge werden durch die Finanzierung von Aktionen ergänzt – für den Druck von Plakaten in einem Abstimmungskampf, der Organisation einer Podiumsdiskussion, der Konzeption und Durchführung von Weiterbildung. Allerdings könnte die Crowdwirtschaft als Ganzes die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmenden schwächen, wenn sich niemand mehr für Gesamtarbeitsverträge einsetzt. Wird es noch einen Sozialstaat für jene geben, die von keiner Crowd unterstützt werden? Braucht es das Grundeinkommen, um die Visionen einer Crowdökonomie zu realisieren?

Arbeit in Projekten

Die dominante Arbeitsform in der Wirtschaft der Crowds ist das Projekt. Ein Grund für die Fragmentierung ist der Wunsch vieler nach Verwirklichung und Abwechslung durch ihre Arbeit. Das gilt zwar nicht für alle – und doch wird es 2040 kaum noch jemanden geben, der sein ganzes Leben für denselben Arbeitgeber tätig ist. Loyal sind wir nicht mehr gegenüber einem Unternehmen, sondern gegenüber unserem Team, einer Vertrauensperson, einer Aufgabe, einer Mission oder gegenüber uns selbst. In Projekten zu arbeiten, heisst Rollen über Titel zu stellen. Die Vier-Tage- Woche wird sich unauffällig verbreiten. Sie ermöglicht es, Arbeit besser zu verteilen, und passt zu einer Wirtschaft, deren wichtigster Rohstoff unsere Kreativität ist: Wer kreativ sein soll, braucht viel Inspiration und Erholung, Zeit im Wunderland.

Die Vier-Tage-Woche passt zu einer Wirtschaft, deren wichtigster Rohstoff unsere Kreativität ist.

Ein zweiter Grund für den Siegeszug der Projekte sind neue Organisationsformen. Die gegenwärtig überall eingeforderte Agilität bedingt Netzwerke, die sich rasch an neue Technologien, Bedürfnisse und Konkurrenten anpassen. Bildhaft gesprochen stellt das altmodische Unternehmensskelett mit seinen Hierarchien und Abteilungen dem kontinuierlichen Wandel Hürden in den Weg. Erst wenn es keine fixen Organigramme mehr gibt, die Stellenbeschreibungen und -zuteilungen verschwunden sind, Entscheidungsgewalt nicht mehr in der Unternehmensspitze monopolisiert wird, nimmt die Veränderungsfähigkeit unserer Organisationen sprunghaft zu. In einem solchen Szenario werden Teams viel schneller als heute neu und in der Regel über Organisationsgrenzen hinweg zusammengestellt. In diesen neuen Arbeitswelten ist ein neuer Managementtypus gefragt.

Neben der Agilität sprechen die Kosten und ein neues Menschenbild für neue Formen, um Arbeit zu organisieren. Die heutigen Skelette ziehen zu viel Abstimmungsbedarf nach sich. Statt Selbstorganisation herrschen Sitzungsmarathons und eine ermüdende CC-Kultur. Sie wirken ordnend, disziplinierend, widersprechen dem Bild eines kreativen, selbstständigen und selbstbestimmten Mitarbeiters. In den Netzwerkorganisationen der Zukunft dominieren neue Karrieren. Statt in Hierarchien hochzuklettern, vertieft man sich in Themen. Bogenkarrieren werden ebenso normal wie Boomerang-Karrieren, bei denen man zu seinem Arbeitgeber zurückkehrt. Alte Anreize wie Status, Lohn und Verfügungsgewalt verlieren an Bedeutung. Die Unlust zu Führen bewirkt einen Mangel an Führungskräften.

Cloud-Organisationen

Die Crowdwirtschaft ist voller Cloud-Organisationen. Sie beschäftigen nur eine Minderheit ihrer Angestellten mit langfristigen Arbeitsverträgen. Die Mehrheit der Angestellten wird dagegen nach Bedarf dazu gebucht. Durch diese Schrumpfung des Personalkörpers sinken die Kosten gleichermassen wie die Risiken, auf falsche Mitarbeitende zu setzen. Cloud-Organisationen funktionieren häufig mit zwei Welten. Im Atelier wird innoviert und kontrolliert, in der Fabrik schuften die einfachen Mitarbeitenden. Gerade bei Plattformen, die ein Heer an einfachen Mitarbeitenden brauchen, breitet sich Ghost Work aus. Sie fahren Taxi, sammeln E-Scooter ein, reinigen Mietwohnungen, säubern die sozialen Medien. Diese Tätigkeiten sind für die Unternehmen unverzichtbar, sind aber unsichtbar und schlecht bezahlt.

Cloud-Organisationen greifen situativ auf die Fähigkeiten von Expertinnen und Fachkräften zu. Die damit verbundene regelmässige Neuzusammensetzung künstlerischer Teams, wie man es von Theatern und Fussballteams kennt, fördert die Neuerfindung eines Unternehmens. Je mehr Menschen in Projekten statt langfristigen Verträgen arbeiten, desto stärker rotiert das Personal. Unternehmen setzen sich immer schneller neu zusammen. Um nicht auseinanderzufallen, scheint ein stabiler Kern wichtig. Er besteht erstens aus Mitarbeitenden, die für die Identität des Unternehmens wichtig sind. Gibt es zu wenig Kontinuität, leidet das Selbstverständnis. Es wird unklar, für was ein Unternehmen steht und kämpft. Zweitens braucht es einen festen Bestand an Mitarbeitenden, die das Tagesgeschäft garantieren. Diese wissen, wie die Prozesse funktionieren, und haben auch keine Lust, diese täglich neu zu denken.

Drittens sind Mitarbeitende gefragt, die gegenüber Kapitalgebern, Öffentlichkeit und wichtigen Kunden für Kontinuität sorgen. Alle diese Kernmitarbeitenden streben nach Stabilität und Sicherheit. Sie kommen in den Genuss fixer Löhne und langfristiger Arbeitsverhältnisse, haben dafür weniger Freiheiten und tiefere Löhne als die Freischaffenden. Diesen fehlt wiederum die finanzielle Sicherheit und deshalb vielleicht auch die Stabilität im privaten Umfeld. Das kann sich negativ auf deren Kreativität auswirken. Diese Horizontalisierung des Berufslebens wirft Fragen auf der Ebene der Weiterbildung, der Unternehmenskulturen, des sozialen Zusammenhalts sowie des sozialen Sicherungssystems auf. Sowohl der Staat als auch die Crowds werden bis 2040 Versicherungslösungen erarbeiten, die ein finanzielles Auskommen in Zeiten garantieren, in denen man als Cloud-Arbeiter gerade kein Projekt hat.

Token-Ökonomien

Die Token-Ökonomie denkt die Crowdwirtschaft nochmals einen Schritt weiter – indem sie den Gemeinschaften der Gleichgesinnten eigene Währungen zugesteht. Kryptowährungen sollten nicht vorschnell als Spekulationsobjekte abgetan werden. Zum einen sind staatliche Währungen wie auch die Nationalstaaten selbst eine relativ junge Erscheinung. Beides war vor dem 19. Jahrhundert weitgehend unbekannt. Zum anderen werden sich Kryptos verbreiten, die an die Währungen der Nationalstaaten gebunden sind – wie dies bei Libra von Facebook geplant ist. Die verstärkte staatliche Regulierung von Kryptowährungen bringt zusätzliche Stabilität und damit Vertrauen in die neuen Währungen. In Anwendungen wie CryptoKitties – wo man virtuelle Katzen züchtet – finden Spiel, Promotion neuer Währungen und börsenähnliche Wertveränderungen über die Zeit statt.

Andere Tokens binden sich an die Geschehnisse des realen Lebens. Ein häufig zitiertes Beispiel ist die auf dem Dach produzierte überschüssige Sonnenenergie. Wir sammeln Sonnen-Tokens, die wir dann in andere Währungen tauschen. Auch soziale Währungen sind denkbar, wenn man zum Beispiel durch die Pflege älterer Menschen oder die Organisation von Spieleabenden und Mittagstischen für die Fürsorge im Alter spart. Die Entvirtualisierung von Geld könnte auch deshalb an Bedeutung gewinnen, weil sich so viel Geld wie nie im System befindet. 1970 zirkulierten nicht einmal 70 Prozent der heutigen Geldmenge. Wer wird diese neuen Währungen verwalten? Werden sie neu definieren, wo die Grenzen von Gesellschaften verlaufen?

Heute dominieren diejenigen von Nationalstaaten. Sie legen fest, wer wo Steuern zahlt, wer sich wo wie politisch einbringen kann und wer welche mit Steuern finanzierten Dienstleistungen für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen darf. Bis 2040 werden die Fundamente von Neo-Staaten deutlicher erkennbar sein - von Konzernen (Stichwort: Google-Staat) oder von nach Unabhängigkeit strebenden Stadtstaaten. Ihre gesellschaftliche Relevanz wird steigen, wenn sie eigene Währungen haben und staatliche Aufträge übernehmen: Bildung, Infrastruktur, Rechtsprechung, Gesundheitsversorgung, Sicherheitskontrollen und militärische Interventionen. Werden die Nationalstaaten ihre Nachkommen einfach entstehen lassen? Werden sie sie bekämpfen oder mit ihnen kooperieren?

Versteht Kulturförderung die “Crowdwirtschaft” als relevante Entwicklungsdimension, stellt sie sich zum Beispiel folgende Fragen: Was werden Crowds wie fördern? Versteht man sie als Partner oder Konkurrenten? Verstärken Crodws die Prekarisierung der Arbeit von Kulturschaffenden? Falls ja, braucht es Gegenmassnahmen? Welche Rolle werden Kryptowährungen in der Kulturförderung spielen? Wo könnte man das Teilen von Maschinen, Daten, Mitarbeitende und Wissen fördern?


FIKTIONEN Wie sich Kulturinstitutionen verändern

LesAmis ist ein Künstlerkollektiv, das für den schweizerischen und französischen Markt Serien produziert. Geld verdient man mit Produktionen für nationale TV-Sender. Schon bald möchte man einen Erfolg bei einem grossen Streaming-Portal landen. Bisher erzählten LesAmis gruselige Serienmorde. In Zukunft will das Kollektiv tiefgründiger arbeiten, gesellschaftliche Themen aufgreifen. Zum Team gehören Autorinnen, Dramaturgen, Kameraleute und eine Online-Community.

Fiktion 1 – produzieren

Wilde Gedanken drehen sich um ein neues Zielpublikum. Wird man 2040 Inhalte nur für die Maschinen produzieren? Werden wir sie kreativer machen wollen?
Wilde Gedanken drehen sich um ein neues Zielpublikum. Wird man 2040 Inhalte nur für die Maschinen produzieren? Werden wir sie kreativer machen wollen?

Boom ohne Ende

LesAmis scheint auf dem richtigen Weg zu sein. Das serielle, horizontale Erzählen setzt sich voll durch, die Nachfrage nach Serien ist ungebrochen hoch. In der Schweiz gibt es gegenwärtig 1,8 Millionen Netflix-User. Die Altersklasse der 15- 29-Jährigen stellt relativ betrachtet am meisten von ihnen. Je höher der Lohn, je höher der Bildungsabschluss, desto öfters werden Serien geschaut. Sie sind Wunderländer. In ihnen nehmen wir die Welt aus anderen Perspektiven wahr. Wir lassen uns mental entführen, lassen uns inspirieren, schalten ab, schaffen Distanz zum Alltag. In den Serienwelten können wir uns verlieren, nach Vorbildern suchen, uns mit Figuren identifizieren, Lebensentwürfe ausprobieren. Um erfolgreich zu bleiben, muss das Kollektiv den Zeitgeist richtig lesen, Trends und die aus ihnen resultierenden Spannungsfelder erkennen. Das gilt für die Inhalte wie für die Erzählformen und Formate.

Im umstrittenen Markt der Serien ist es entscheidend, die richtigen Geschichten richtig zu erzählen. Will man auf Netflix einen Hit landen, ist zudem eine international funktionierende Erzählweise gefragt. Das setzt Themen, Bildsprachen, Figuren und Drehorte voraus, die sich ein Stück weit von der nationalen Optik wegbewegen, das Nationale zumindest neu interpretieren. Zu touristische, zu selbstverliebte Zugänge scheitern. Wer international reüssieren will, sucht die Zusammenarbeit mit Expertinnen und Stars aus anderen Ländern. Das erfordert die Augen offen zu halten, nicht nur Serien aus dem eigenen Kulturkreis zu schauen, zu reisen, zu lesen. Diversität in Bezug auf Alter, Hautfarbe und Geschlecht sind für internationale Produktionen selbstverständlich – auch weil sie das Publikum vergrössern.

Internetnutzung auf Laptops und Desktops nimmt ab, die mobile Nutzung zu. Wann erscheint die erste Serie, die auf dem Kopf steht?

2019 führte in nur der Hälfte der von Netflix produzierten Filme eine Frau Regie. Allerdings waren das doppelt so viele wie in Hollywood. Um Aufmerksamkeit zu erregen, will das Kollektiv innovieren – seine Serien in Bezug auf Genres, Erzählstile und Bildsprache neu denken. Eine Variante könnte das Hochformat sein. Hintergrund: Die Internetnutzung auf Laptops und Desktops nimmt ab, die mobile Nutzung auf Tablets und Smartphones aber zu. Wann erscheint die erste Netflixserie, die auf dem Kopf steht? Wird neue Hardware – wie die intelligente Kontaktlinse – neue Erzählformen verlangen? Eröffnen sich im Kontext der Streaming Wars Wege für Filme, die Serien zusammenfassen oder mehrere Serien in einer Metaserie bündeln? Wie immer dürften Innovationen die alten Formen bedrängen aber nicht völlig verdrängen. Um nahe am Zeitgeist zu bleiben, gönnt man sich eine Online-Community. Ihre Mitglieder geben monatlich einen einseitigen Trendreport ab.

Grüne Themen

Um den Zeitgeist zu bespielen, setzt das Kollektiv auf die grüne Transformation. Die gesteigerte Sorge um die Nachhaltigkeit bietet zahlreiche Anschlusspunkte, um Thriller zu entwickeln: Illegale Entsorgung, Ressourcenknappheiten, die Suche nach neuen Energiequellen, das grüne Unternehmertum oder ökologisch motivierte Szenarien der Überwachung. Die Geschichten der Krimispezialisten erzählen dann von einem Serienmörder, der ähnlich wie in Seven Umweltsünder aus dem Weg räumt, von einer preisgekrönten Unternehmerin die eigentlich eine Umweltsünderin ist oder von einer Dystopie, in der man nach dem Verbrauch eines gewissen ökologischen Fussabdrucks vom Regime eliminiert wird. Auch in der Produktion will man grüner werden – einen möglichst kleinen ökologischen Fussabdruck produzieren, ganz auf Flüge verzichten, beim Catering zum Dreh nur veganes Essen anbieten.

Will das Kollektiv gesellschaftspolitisch relevant sein, könnte man weitere Themen bespielen, die im ersten Teil der Studie thematisiert wurden. Wie beim Trend “Nature First” gibt es beim demographischen Wandel viele Anschlusspunkten, um einen Thriller zu entwickeln. Fragen, die man aus einer Thriller-Perspektive aufgreifen könnte, sind die Wut gegen die alten weissen Männer, die Konflikte zwischen Jung und Alt, die Altenpflege durch Roboter und künstliche Intelligenzen oder die Sehnsucht, nicht zu altern und die damit verbundene Suche nach Hilfsmitteln der ewigen Jugend. Wie gesehen werden ältere Menschen versuchen, ihren Geist ins Netz hochzuladen und sich für spätere Zeiten einzufrieren. Da kann so einiges schiefgehen…

Entlang der zeitgeistigen gesellschaftspolitischen Themen könnten LesAmis – statt weitere Morde zu inszenieren – eine Art Schulfernsehen für Erwachsene anbieten. So wie der Whole Earth Catalog 1968 einst internetähnlich auf Papier über alternative Lebensweisen informierte, könnten die Formate zeigen, wie man Energie spart oder Abfall vermeidet. Wie damals der Katalog vereinen diese «Tipps, Tricks und Tools». Sie zeigen, wie man Leben, Wohnen, Arbeiten, Reisen und Denken grüner machen kann. Zwar ist Youtube voll von solchen Videos, aber sie sind verstreut, schlecht kuratiert und nicht immer von guter Qualität. Jede Minute kommt 500 Stunden neues Material dazu.

Serien für die Silbrigen

Den demografischen Wandel ernst zu nehmen, bedeutet für LesAmis, nicht nur thematisch auf die gesellschaftlichen Spannungsfelder und Herausforderungen einzugehen. Will man die Zielgruppe der Silbrigen für sich gewinnen, sind deren Interessen und Sehgewohnheiten näher zu prüfen. Produkte und Kommunikation müssten verstärkt an ihnen ausgerichtet werden. Neue Serien wären für und in Zusammenarbeit mit älteren Menschen zu entwickeln. Fokusgruppen, Interviews, Co-Creation und Datenanalysen sind angesagt. Präferieren die Älteren tatsächlich das altmodische vertikale Erzählen und ein langsameres Erzähltempo, das eigentlich ausser Mode geraten ist? Interessieren sie sich eher für Geschichten, die in ihrer Jugend spielen? Sind also für die Stoffentwicklung der Serien für Silbrige die 1950er und 1960er-Jahre mit ihren zahlreichen technischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen relevant?

Es ist die Zeit, als «die Welt in den Computer kam». Ebenso ist es die Zeit des Erwachens der ersten Klimabewegung. Der Whole Earth Catalog erscheint zwischen 1968 und 1972, ebenfalls 1972 veröffentlicht der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums. 1973 kommt es zur Erdölkrise. Aus einer historischen Perspektive könnte man erzählen, was damals war und wie die einstigen Protagonisten jetzt über die Zukunft denken. In der Umsetzung möchte LesAmis verstärkt mit Silbrigen kooperieren. So wie ältere Menschen keine jugendlichen Bankberater wollen, möchten sie nicht nur Milchgesichter auf dem Bildschirm sehen. In Erfurt startete 2014 ein “Tatort” mit einem Durchschnittsalter der Kommissare von 31,7 Jahren – ein wenig realistisches Alter für Mordermittler.

Ganz im Sinne von Cloud-Organisationen hat sich das Kollektiv vorgenommen, vermehrt mit Regisseurinnen, Schauspielern und Autorinnen zu arbeiten, die schon lange über 60 sind. Man rekrutiert dazu im Umfeld von Fernsehstationen, Verlagen und Theatern. Kooperationen mit den Silbrigen haben den Vorteil, dass diese – ganz im Sinne von Oral History – authentisch über die Realitäten alter Zeiten erzählen können. Silbrige in Serien zu zeigen, bedeutet, ihnen soziale Sichtbarkeit zuzugestehen. Oder sind das alles dumme Klischees? Wurden die Silbrigen durch ihr langes Leben schon mit so vielen Umbrüchen konfrontiert, haben sie so viele Medienrevolutionen erlebt, dass sie an die heutigen Serien genauso gut anknüpfen wie die jüngeren Generationen? Interessieren sie sich gar nicht für die Vergangenheit, sondern für die Szenarien lange nach ihrem Tod?

Serien als Hörspiele

Je mehr Stimmen statt Bildschirme unseren Medienkonsum prägen, je mehr sich Information und Unterhaltung auf Audiokanäle verlagern, desto wichtiger wird es zu prüfen, ob LesAmis seine Geschichten künftig statt in Bildern in Ton bringen soll. Im Vergleich zur Filmproduktion sind Podcasts und Hörspiele deutlich billiger zu erstellen. Die Märkte wachsen. 20 Prozent der unter 30-Jährigen hören wöchentlich Podcasts, bei den über 60-Jährigen sind es nur 9 Prozent. Wird es ein Netflix-Pendant nur für Hörspiele geben? In Konzeption und Herstellung sind Möglichkeiten und Grenzen der Responsiveness zu prüfen. Ist es möglich, Serien so zu produzieren, dass man sie 1:1 als Hörspiele verwenden kann? Oder wären die Prioritäten umzukehren und sämtliche Serien zuerst als Hörspiele zu produzieren?

Auf jeden Fall scheint es für das Kollektiv wichtig, vorsichtig zu verfolgen, wie sich die Hör- und Sehgewohnheiten der Nutzerinnen verändern. Dazu braucht man Daten. Doch setzt man wie LesAmis nicht auf einen Direktvertrieb – und kooperiert stattdessen mit etablierten Plattformen wie Spotify und Netflix –, hat man nur eingeschränkten Datenzugriff. Man steigert dadurch zwar seine Reichweite, dafür entgeht einem aber präzises Wissen über seine Nutzerinnen. Man versteht, wie sich das allgemeine Verhalten ändert, doch einzelne User bleiben unsichtbar. Wer schaut was wann? Wann brechen Nutzerinnen eine Serie, ein Hörspiel ab? Ein weiteres Problem von grossen Anbietern ist die angestrebte Exklusivität. Was, wenn die Anbieter entscheiden, Filme und Serien nirgends anderswo zu zeigen, nicht zu verkaufen, nicht auf DVD zu veröffentlichen?

Auf Audio zu setzen, könnte für das Kollektiv bedeuten, mehr Roboter einzustellen. Schon bald werden wir nicht mehr unterscheiden können, ob eine Maschine oder ein Mensch spricht. Dem Tacotron- Sprachsynthese-System von Google reicht eine fünfsekündige Hörprobe, um eine Stimme zu klonen. Einige Mitglieder des Kollektivs wollen künstliche Intelligenz Inhalte recherchieren und Entwürfe von Drehbüchern schreiben lassen. Als Material dienen unter anderem Begriffe, die bei Google trenden. Ihnen geht es weniger darum, die ganze Arbeit an die Maschinen zu delegieren, als auf eine zusätzliche Kreativitätsquelle zurückzugreifen. Durch die beschleunigte Produktion kann man innerhalb eines Tages Proposals entwickeln und diese gleich von der Online-Community bewerten lassen. Wilde Gedanken drehen sich um ein neues Zielpublikum. Wird man 2040 Inhalte nur für die Maschinen produzieren? Werden die Menschen die Maschinen kreativer machen wollen?

Personalisierte Serien

Je digitaler der Konsum von Hörspielen und Serien wird, je menschlicher und kreativer die Maschinen werden, desto interessanter die Möglichkeiten personalisierter Inhalte. Im krassesten Szenario bekommt jeder Zuschauer, jede Hörerin ihre eigene Geschichte erzählt. Künstliche Intelligenz schreibt datenbasiert Tausende von Skripts und liest diese auch gleich ein. Grundlage der Personalisierung sind unsere online erfassten Interessen, Gefühle, Erinnerungen, Stimmungen, Netzwerke und Einkäufe. Das Foto- und Videomaterial auf unseren Smartphones wird in die Geschichten integriert. Unsere analogen und digitalen Bekannten spielen mit. Fiktion und Realität beginnen sich zu überschneiden. Die Maschine erzählt von unseren virtuellen parallelen Ichs. Etwas vereinfacht gedacht können Zuschauerinnen an einigen Wendepunkten wählen, wie die Geschichte weitergehen soll. Es wären fiktive Räume denkbar, in denen sich die Zuschauerin selbst zurechtfinden muss. Serien werden zu Spielen, zu virtuellen Welten.

Orientierungspunkte für solche Szenarien bieten die auf Netflix ausgestrahlten Kinderserien Der gestiefelte Kater – Abenteuer in San Lorenzo oder Buddy Thunderstruck. Die Familie wählt mehrmals, was als Nächstes passieren soll. Auch die Blackmirror-Folge Bandersnatch, welche die Zuschauenden «auf eine Reise in psychische Abgründe» schickte, setzte auf Interaktion. The Future is unwritten ist ein Beispiel für einen smarten Film, bei dem Algorithmen das von Menschen eingespielte Material jedes Mal neu zusammensetzen. Die in New York inszenierten Theaterabende Sleep No More oder Then She Fell sind Beispiele für analoge Welten, in denen das Publikum selbst Teil der Geschichte wird. Keine Zuschauerin erlebt denselben Abend. Positive Aspekte sind das Empowerment von Minderheiten oder die stärkere Auseinandersetzung durch das gesteigerte Interesse. Futuristischer gedacht verbindet sich das Serienschauen wie in der Serie Maniac mit psychotherapeutischen Interventionen. Musik und Handlungen der personalisierten Serien regen präzise Prozesse der Selbstreflexion an. Sie hacken unsere Erinnerungen, unsere Gedankenwelten, unsere Gefühle. Inception.

So interessant personalisiertes Erzählen ist, so gross sind die damit einhergehenden gesellschaftspolitischen Gefahren. Denn wenn wir alle unsere eigenen datenbasierten Geschichten erhalten, die unsere Echokammern abdichten statt sprengen, drohen gesellschaftliche Risse noch grösser zu werden. Grüne werden grüner, Paranoide paranoider, Nationalisten nationalistischer. Man hört, was man weiss, sieht, was man kennt, bekommt seine Weltbilder bestätigt. Dadurch verlieren wir die Sensibilität für andere Lebensentwürfe, für die Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen. Gemeinsame Kultur schwindet. Das könnte LesAmis veranlassen, nicht nur Erfahrungen mit individuellen Mikro-Erzählungen zu machen, sondern im Sinne der Eventisierung auf Dramen zu setzen, die ein breites Publikum begeistern. Braucht es dazu grosse Geschichten über unsere Vergangenheit und Zukunft, Wiederholungen von Klassikern, die alle kennen?


Das Theater X ist ein innovatives Stadttheater einer grösseren Schweizer Stadt. Bei der Besetzung der künstlerischen Leitung bevorzugt man Persönlichkeiten, die sich strukturell und künstlerisch trauen, neue Wege zu gehen. International hat man sich einen Namen gemacht, weil man die gewählten Stoffe in digitale und analoge Spielwelten überträgt. Nun überlegt man sich, was es bedeuten würde, wenn man eine Plattform sein möchte.

Fiktion 2 – vorführen

Im Rampenlicht stehen richtige Menschen. Sie spucken und zittern. Pannen und Fehler haben im Einmaligen durchaus ihren Reiz
Im Rampenlicht stehen richtige Menschen. Sie spucken und zittern. Pannen und Fehler haben im Einmaligen durchaus ihren Reiz

Zeitdiagnose als Kompass

Das Stadttheater X möchte seinem Publikum Angebote machen, wie man unsere Zeit lesen kann. Lesen bedeutet zu analysieren, zu moderieren, zu imagesisieren, zuzuspitzen, zu ironisieren, in die Zukunft zu denken. Man will ein Ort sein, wo Gegenentwürfe ausprobiert und dargestellt werden. Aufführungen, Lesungen, Liederabende, Diskussionen und Workshops machen die Zeitdiagnosen konkret und diskutierbar. In den Einführungen vor und den Diskussionen nach den Vorstellungen stellen Dramaturgen die Ansätze vor. Verstecktes wird aufgeschlüsselt, zusammen mit dem Publikum werden die Deutungsangebote reflektiert und weiterentwickelt. Für die Diskussion der Aufführungen lädt man Influencer, Promis, Politikerinnen und Populisten ein. Man lässt sich kritisieren, sucht den Dialog. Überraschende Vernetzungen erhöhen die Reichweite, sorgen für Spektakel.

Wirkung entfaltet das Spielzeitmotto weit über das gespielte Programm hinaus: in Vortragsreihen, die man zusammen mit Hochschulen oder auch Unternehmensberatern durchführt, in Essays auf der Webseite, in veröffentlichten Sammelbänden. Das Theater wird zum multidisziplinären Künstlerhaus. Die Themen setzt man nicht alleine fest. Ein künstlerischer, divers zusammengesetzter Beirat gibt Impulse und Feedbacks, schafft Netzwerke über die Theaterwelt hinaus. Im Sinne der Cloud-Organisation lädt man für die Mitarbeitenden einmal pro Monat eine Soziologin, Philosophin, Historikerin, Naturwissenschaftlerin oder Trendforscherin ein. Sie berichten aus ihrer Perspektive über die Fragen unserer Zeit. Passend zu den Themen werden Stoffe und Personal gesucht, Geschichten entwickelt – lustige, blutige, traurige, ernsthafte, verworrene. Um das Künstlerhaus und seine Themen in der Öffentlichkeit zu positionieren, geht man Partnerschaften ein – mit Verlagen, mit Autoren, Medien und Influencern.

Die gewählten zeitdiagnostischen Themen schaffen Gelegenheit, die eigenen Strukturen und Prozesse zu hinterfragen. Grüne Themen stellen die eigene Ökoeffizienz, Diversität die eigene Vielfalt, Innovation die eigene Offenheit, Eliten die eigene Abgehobenheit zur Diskussion. Dieses Jahr plant das Theater X, das Thema Macht anzugehen. Strukturen sollen dahingehend geprüft werden, wer die Deutungshoheit hat, wer Entscheidungen trifft, welche Minderheiten unsichtbar bleiben. Im Rahmen dieser Überlegungen hat die Intendanz beschlossen, das Thema Lohngleichheit und -transparenz aufzunehmen. Welche Gründe gibt es in einer von kollektiven Performances geprägten Organisation, nicht alle Mitarbeitenden gleich zu entlohnen?

Analoge Rückzugsräume, digitale Eroberer

Im Theater der Zukunft gibt es Vertreterinnen des analogen Rückzugsraums und digitale Eroberinnen. Wird sich das Theater teilen oder sind gerade die Reibung und die Kombinationen beider Sichtweisen fruchtbar? Vertreterinnen der Rückzugsräume wollen Kontrapunkte setzen – zum Glatten, Einfachen, Algorithmischen, Virtuellen, Entsinnlichten. Der Theatersaal der Zukunft ist der gleiche wie heute. Wird es dunkel, ist es an der Zeit, die digitale Aura auszuschalten. Auf die Bildschirme, Newsticker und sozialen Netze zu verzichten, ist ungewohnt. Es strengt an, dem Moment ohne Ausweg ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig befreit die Auszeit. Für kurze Zeit ist man niemandem nichts schuldig. Endlich ist man unerreichbar. Diese Momente sind umso wertvoller, je mehr es ausserhalb des Theaters blinkt und zirpt, je schneller und bunter die Streams laufen.

Anders als bei Netflix existiert kein Pausenknopf. Man kann nicht zurückspulen, darf nicht sprechen, ist im Moment gefesselt. Es gibt keine Retusche, keine zweiten Takes. Keine Vorstellung läuft gleich. Jede Show ist ein wertvolles Unikat für ein kleines und immer neu zusammengesetztes Publikum. Das macht den Theaterbesuch zum einmaligen Erlebnis. Im Rampenlicht stehen richtige Menschen. Sie spucken und zittern. Pannen und Fehler haben im Einmaligen durchaus ihren Reiz. Immer könnte etwas schiefgehen – ganz anders als in den von den Maschinen bespielten digitalen Wunderländern. Die Zusammenkunft der Menschen verpflichtet zu einer völlig anderen Aufmerksamkeit als das Glotzen auf die Flimmerkisten. Analog zu Deep Work könnte man von Deep Experiences sprechen.

Wird man begleitete Drogentrips anbieten, als Verkupplerin datenbasiert Gäste miteinander bekannt machen?

Allerdings wissen nur wenige von dieser Exklusivität, der Qualität und Intensität dieses Erlebnisses. In der Schweiz geht weniger als die Hälfte der Bevölkerung einmal pro Jahr ins Theater. Bei Schweizerinnen mit einem Sekundarabschluss I sinkt der Anteil unter ein Drittel. Würden Bezüge zu anderen Medien helfen, neue Zielgruppen zu erschliessen? Müssten die Schauspielenden aus Babylon Berlin und Dark im Theater zu sehen sein? Sollten Youtube-Stars sich selbst spielen? Müssten die nach drei Staffeln endenden Serien auf der Bühne weitererzählt, einzelne Figuren in Form von Spin Offs und dem horizontalen Erzählen analog vertieft werden? Um den Moment stärker aufzuladen, möchten die Vertreter des analogen Rückzugsraums den Theaterbesuch noch mehr seiner Vergangenheit angleichen. Sie wollen Statistenrollen für eine Vorstellung versteigern, im Saal wieder das Licht anknipsen. Der Theaterbesuch soll ein wildes Fest sein. Wird man begleitete Drogentrips anbieten? Gehört zu jeder Vorführung eine lange Tafel mit reichlich Wein? Soll man als Verkupplerin auftreten, datenbasiert Gäste miteinander bekannt machen?

Transfer in Spiele und Events

Analoge Rückzugsorte zu kultivieren, muss nicht heissen, das Digitale zu vernachlässigen. Längst ist die Bühne zu einem High-Tech-Spielplatz geworden – mit dreh- und verstellbaren Elementen, Musikanlage, Videoinstallationen. Drohnen tanzen, sprühen, produzieren Düfte und bieten ein Feuerwerk der neuen Generation dar . Bildschirme machen es möglich, live auf andere Inszenierungen zurückzugreifen. Kay Voges inszenierte 2018 Die Parallelwelt simultan in Berlin und Dortmund. Mit Webcams greift man auf reale Schauplätze zurück. Livebilder aus den Büros von Topmanagerinnen, vom Time Square oder aus einem Operationsaal, werden in die Inszenierungen integriert. Ab und zu greift man auf die Social-Media-Kanäle und Fotostreams der einwilligenden Personen zu, die im Publikum sitzen. Ihre Welten werden Teil des Spektakels. Die Gäste stimmen ab, wie die Handlung weitergehen soll. Mit Tweets kommentieren sie das Geschehen auf einem Second Screen.

Die Fraktion der digitalen Eroberer will die Dramen in den digitalen Raum übertragen. Man begann mit Videoaufzeichnungen und träumt von Hologrammen für das Wohnzimmer. Das Theater X überträgt seine Stücke in reale Spiele à la The Game und Virtual-Reality-Erfahrungen à la Pokemon Go. Klassiker wie Romeo und Julia, Der zerbrochene Krug, Der Schimmelreiter oder Die Jungfrau von Orleans geben die Schauplätze und das Personal der Wunderländer vor. Mittels Chatbot-Technologie kann sich die Zuschauerin mit den Figuren dieser Stücke unterhalten. Sie werden dadurch nicht mehr linear erzählt. Vielmehr gibt der Zuschauer durch seine Fragen die Chronologie der Handlung vor. Zu digitalisieren heisst, Potenziale der Personalisierung zu erschliessen. In jedem Wunderland hat Romeo eine andere Vergangenheit und sieht anders aus. Er trifft auf jene Figuren aus anderen Shakespeare-Stücken, die sich am besten in ein personalisiertes Szenario einfügen. In diesem Durcheinander kann nur ein Algorithmus Regie führen.

Ähnliche Übertragungen funktionieren im analogen Raum. Mitten in der Stadt kann jeder Platz, jede Treppe, jeder Turm, jeder Baum zur Bühne werden. Die Zuschauer bewegen sich frei in den Rahmenhandlungen, erkunden die Orte, lassen sich von den Figuren verführen, ins Gespräch verwickeln. Sie wählen selbst, ob sie zwischendurch an die Bar gehen oder jeden Winkel des Spiels erforschen. Nicht immer wissen sie, wer Zuschauer, Schauspieler, Techniker, Statistin ist. Die Smartphones (beziehungsweise ihre technischen Nachfolger) werden zu Spielkonsolen, die uns lenken, uns datenbasiert mit anderen Teilnehmenden vernetzen. Analoges und Digitales finden in Augmented -Reality- Szenarie zusammen. Ausgewählte Aufführungen bettet man in Events – inklusive Galadiners, Konzerte, Podiumsdiskussionen, Führungen hinter den Kulissen und Parties ein. Die Gäste kaufen Erlebnistickets, die einen Zeitraum von bis zu vierundzwanzig Stunden abdecken.

Das Theater als Plattform

Will das Theater eine Plattform sein, müsste es seine Sortimentsstruktur offenlegen. Sie führt wie heute zunächst über das Personal. Wo sind welche Regisseurinnen, Dramaturgen, Schauspielerinnen und Bühnenbildner am Werk? Besucherinnen der Webseite können dort nach anderen Vorstellungen mit ihren Lieblingen suchen. Das Sortiment umfasst weitere Themen, Genres und Erzählformen. Was thematisiert den Krieg, was Gerechtigkeit, was Männlichkeit und Weiblichkeit? Was ist locker und leicht, was ernst und traurig? Welche in der Spielzeit aufzuführenden Geschichten wurden im 19., welche im 20. oder im 21. Jahrhundert geschrieben? Was stammt aus dem deutschsprachigen Kulturraum, was kommt von weit her? Erst durch bewusste und offengelegte Strukturierung können Besucher gezielt suchen, Themen oder Personen abonnieren. Das ist die Basis, um Push-Meldungen zu verschicken. Erscheint ein neues Stück, erhält man eine E-Mail.

Auf der anderen Seite des Vorhangs wären die Nutzerinnen zu strukturieren, zu analysieren und mithilfe eines Custumer-Relationship-Managements zu hegen und pflegen. Das Stadttheater prüft die detaillierte Auswertung seiner digital verkauften Tickets. Welche Vorstellungen werden von Jungen und welche von Älteren besser besucht? Was schauen sich Männer und was Frauen an? Welches Publikum applaudiert besonders laut und heftig? Welche Verbindungen bestehen zwischen den Besucherinnen und Besuchern, zwischen den Vorstellungen? Das in den Daten versteckte Wissen ist zwar kein Erfolgsgarant, aber eine interessante Informationsquelle. Zudem lässt sich mit Daten prognostizieren. Welche Vorstellung wird Besucher A mit grosser Wahrscheinlichkeit als nächstes besuchen? Welche seiner Interessen könnte man auch in der nächsten Spielzeit bespielen? Welche Zuschauerinnen könnte man als Sounding Board in der Entwicklungsphase für welche Produktionen beiziehen?

Sicher, das smarte Theater mit Benutzerkonto, komplett vermessenen Produktionen und Zuschauern hätte seine Vorteile. Es wäre effizienter, besser vorbereitet. Wer prognostizieren kann, vermag zu empfehlen – per Newsletter, per Push auf dem Smartphone. Man könnte Besucherinnen gezielter ansprechen, Vorstellungen besser auslasten, ja gar Catering und Personaleinsatz planen – wenn man ahnt, wie viele Besucher kommen und wie viele Gläser Sekt diese trinken werden. Umgekehrt besteht der Reiz des Theaters gerade darin, keine berechenbare, berechnende Plattform zu sein. Aus Sicht der Besucherin bedeutet dies, nie genau zu wissen, was sie erwarten wird, überrascht und erstaunt zu werden, einen Schritt aus ihrer Echokammer zu tun. Diese Wagnisse stärken die Fähigkeit, sich einzulassen, offen zu bleiben, geduldig zu sein, zu schärfen, was einem gefällt.

Responsiveness, Co-Creation, Kombi-Angebote

Viele Stadttheater leiden an Überalterung, gerade beim Abopublikum. Weil Studierende ebenfalls regelmässige Besucher sind, klafft das Loch in der Mitte. Man spricht von der Notwendigkeit von Audience Development und Nichtnutzerforschung. Sollte der Schwerpunkt gar nicht bei den Jungen, sondern vielmehr bei den Singles, den DINKS, LGBTQ und jungen Familien gesetzt werden? Braucht es mehr Jugend-, mehr Familien- oder mehr Alterstheater? Potenzielle Zuschauer fühlen sich angesprochen, wenn das Angebot anregt, infrage stellt, neue Perspektiven öffnet, vor allem aber auch an bestehende Welten anschliesst – an bereits bekannte Geschichten, Stars, Symbole, Gefühle. Müsste man, um die Aktualität der Themen offensichtlicher zu machen, während der Vorstellung auf riesigen Second Screens zusätzliche Informationen zu Tagesaktualitäten einblenden – zumindest für solche, die das interessiert, für jene, die in den Vorstellungen eine VR-Brille tragen?

Wäre es im Sinne des Audience Development sinnvoll, zusammen mit anderen Institutionen Paketangebote zu schnüren? Eine Vorstellung mit einem Saunabesuch zu koppeln? Oder mit einem Gutschein für ein nahegelegenes Restaurant? Mit einer Lesung in der Buchhandlung ums Eck? Um mehr über die Zuschauerinnen zu erfahren und deren Partizipation zu erhöhen, bietet das Stadttheater X seinen Abomitgliedern die Möglichkeit an, über einen Teil der künftigen Produktionen abzustimmen. Zur Wahl stehen neben Klassikern, Neudeutungen von TV-Serien, Computerspiele, Romanen sowie aktuelle Ereignisse. Um die Schwellenangst vor dem Theater abzubauen, will man das Programm sowie einzelne Stücke öfters mit externen Personengruppen entwickeln – mit Arbeitslosen, Migranten, Transsexuellen, DJs, Kassiererinnen, Hochbegabten. Jeder neue Kreis bietet neue Perspektiven (und Zugang zu einem neuen Publikum).

Die Integration des Publikums in die Programmplanung passt in die Öffnung der Wertschöpfungskette. Am Stadttheater X ist sie durch öffentliche Proben, an Aufführungen anschliessende Gespräche und verkaufte Plätze hinter und auf der Bühne längst passiert. Man vermietet und näht Kostüme, erarbeitet Szenografien für Sterne-Restaurants und Luxushotels. Cross Selling! Für Pensionierte überlegt man ein Theaterstudium Light zu offerieren. In einem Jahr könnte man ihnen Stoffe und die Produktion eines Theaterbetriebs näherbringen. Positive Erfahrungen sammelt man in Weiterbildungen für Topmanagerinnen. Sie lernen Auftrittskompetenz, gemeinsam überträgt man die Spezifika des Theaterbetriebs auf die heutige Arbeitswelt. Zeichnen sich Cloud-Organisationen nicht wie das Theater durch eine rasche Neuzusammensetzung von Teams aus? Braucht es in einer Wirtschaft der Wunderländer nicht überzeugende Geschichten, um Kunden und Talente zu gewinnen?


alteKüche ist ein Festival für (fast) vergessene Schweizer Küchen- und Gartenkultur. Jeweils im späten Frühling werden Setzlinge und Samen von alten Gemüsesorten verkauft. Traditionelle Rezepte und Zubereitungsarten werden neu interpretiert, auf Bühnen live vorgekocht. Das Festival will eine Vorbildrolle einnehmen – ökologisch, ökonomisch sowie in der Übertragung der Vergangenheit in die Zukunft. Man will Generationen, aber auch Natur und Technologie zusammenführen.

Fiktion 3 – erlebbar machen

Man will gleichzeitig in die Zukunft und Vergangenheit blicken – die Gegenwart ist die spiegelnde Achse.
Man will gleichzeitig in die Zukunft und Vergangenheit blicken – die Gegenwart ist die spiegelnde Achse.

Lebendige Innenstädte

Die alteKüche öffnet ihre Türen immer am ersten Wochenende im Mai. Auf dem zentral gelegenen Platz der Stadt Z wird ausgestellt, gekocht, erklärt und vorgeführt. In zahlreichen Pop-ups, Restaurants, Parks, Gärten und Läden hat das Festival kleine Ableger. Auftraggeberin und damit die wichtigste Finanzquelle ist die Stadt. Das Festival wurde ins Leben gerufen, um die Geschichte zu feiern, den grünen Zeitgeist sexy zu machen und durch den Event Perspektiven zu kombinieren, wo sonst Risse drohen. Hippe Urban Gardeners treffen auf die ländliche Bevölkerung, Einheimische auf zufällig anwesende Touristen, historisch Interessierte auf Futuristen, Technologieversierte auf Veganer, Schweizer Heimatfreunde auf Weltenbummler. Im geschützten festlichen Rahmen soll man mit Fremden ins Gespräch kommen, zufällig entdecken, Vorurteile abbauen. Um niemanden auszuschliessen, ist ein Teil der Aktivitäten frei zugänglich.

Friedhöfe erfinden sich als Ort der Ruhe und Treffpunkt des Erinnerns neu. Ihr Raum soll mehrfach genutzt, Leben und Tod nicht mehr absolut getrennt werden.

Das Festival versteht sich als Teil der Stadtentwicklung. Dazu will man unterschiedlichste kulturelle und lokalökonomische Institutionen vernetzen, die etwas mit der schweizerischen Ess- und Gartenkultur zu tun haben. Zu den Trägerorganisationen gehören Restaurants, Bauern, Gärtnereien und Kochbuchverlage. Hochschulen und Universitäten sind eingeladen, ihre Erkenntnisse zu Smart Farming, Gen- und Biotechnologie, Ernährung, Gartenbau und zur Zukunft des Fleisches vorzutragen. Seit Kurzem nehmen Friedhöfe am Festival teil. Sie wollen sich neu erfinden, verzichten doch die Gestorbenen mittlerweile in der Regel auf ein klassisches Grab. Als Ort der Ruhe und als Treffpunkte des Erinnerns erfinden sich die Friedhöfe neu. Ihr Raum soll mehrfach genutzt, Leben und Tod nicht mehr absolut getrennt werden. In Berlin wandelten sich einige von ihnen zu Gemüsegärten für die Urban Farming Community.

Das Festival will die Innenstädte zurückerobern. Man will diese nicht kampflos an mächtige Konzerne abtreten, die sich als Einzige noch physische Präsenz im Stadtzentrum leisten können, ohne dort etwas verkaufen zu müssen. Begehbare Erlebnisse sollen einen Kontrapunkt zu den zahlreichen Lieferdiensten und Shops des Internets bieten. Die am Festival beteiligten Anbieter arbeiten unter einer gemeinsamen Marke. Man versteht sich als Netzwerkorganisation, als Cloud. Um die Leute weg von den Bildschirmen zu locken, müssen sie auf dem Festival etwas Sinnliches erfahren. Sie wollen anfassen, ausprobieren, riechen, hören, schmecken können, nass werden, schwitzen, dreckig werden. Ob die Sinne natürlich oder technisch anregt werden, spielt eine sekundäre Rolle. Die einen interessieren sich für fingergrosse Drohnen, die anderen für frisch geerntetes Gemüse.

Wurzelländer

Die alteKüche setzt auf den Trend der Wunderländer. Mitten in der Stadt sollen die Besucherinnen des Festivals in eine fantastische Welt abtauchen. Als Gast soll man sich für ein paar Stunden in einer fremden Welt wähnen. Wie auf dem Burning Man Festival stellen Licht- und Textilkünstlerinnen, Schreinerinnen und Bühnenbildner jedes Jahr neue Kulissen her. Das Festival versteht sich als Serie. In der Konzeption versucht man Bezüge zu den Vorjahren herzustellen. Bei der Wahl des Mottos setzt man auf Partizipation. Jährlich stimmen die Besucherinnen online über das Thema ab. Letztes Jahr bespielte man Wurzelländer, zuvor das Jahr 1800. Es werden Themen vorgeschlagen, die sich eignen, um die Kulturgeschichte der Gärten, des Kochens, des Recyclings und überhaupt der Nachhaltigkeit zu bespielen. Man will gleichzeitig in die Zukunft und Vergangenheit blicken, die Gegenwart ist die spiegelnde Achse. Pflanzen eignen sich dazu hervorragend, sind sie doch nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Grundlage von Heil- und Färbemitteln, Kosmetika und Textilien.

Das Motto spiegelt sich natürlich in den digitalen Welten des Festivals. Dazu gehören die offizielle Internetseite sowie der Auftritt in den sozialen Medien. Obwohl dies völlig freiwillig ist, machen sich viele Besucher die Mühe, sich ganz gemäss dem Motto zu kleiden. Sie sind hervorragende Botschafterinnen des Festivals. Zu sehen waren auf dem Festival der Wurzelländer Kostüme von überdimensionalen Rüben, Randenfeen und Wurzelmännchen. Soziale Medien werden als Werbekanäle des Festivals immer wichtiger, gerade für die internationale Vermarktung. Relevant sind die mit Hashtags versehenen Bilder vor allem für Individualtouristen, die ohne Reisegruppen und -führer reisen. Sie wollen sich vor Ort selbst ein Bild machen beziehungsweise eigene Bilder der very instagrammable-Wunderländer schiessen. Doch auf diesen standardisierten Plattformen gibt es nur wenig Platz, um der digitalen Fantasie freien Lauf zu lassen. Auf der offiziellen Internetseite findet man deshalb den wahren Weg ins digitale Wunderland.

Es öffnet sich eine Parallelwelt, in der digitalaffine Artistinnen ihre Varianten der Wurzelländer oder des 19. Jahrhunderts präsentieren. Sie führen in alte Kochbücher, zu den Restaurants der auftretenden Köche, in die Biologie der Wurzeln. Man kann sich mit längst verstorbenen Köchinnen unterhalten, Gemüsegärten des 18. Jahrhunderts bestaunen, lernen wie man ein Tatar ohne Fleisch macht, mit der Randenfee im Wurzelwald flirten. Und immer besteht in den digitalen Wunderländern Gelegenheit, mit anderen Besuchern zu chatten, deren Rezepte, deren Gärten und deren ganz persönliche Wunderländer kennenzulernen. Die Endlosigkeit des Digitalen steht im spannenden Kontrast zu den kleinen Bühnen und intimen Begegnungen, die das Festival in zahlreichen Kellern, Restaurants und an Ständen ermöglichen will.

Festival-Token

Schon lange arbeitet die Stadt mit einem Festival-Token. Mit dem virtuellen Geld kann man vor Ort Eintritte, Pflanzen, Getränke und Speisen bezahlen. Tokens bezieht man online oder vor dem Gelände im Tausch gegen Schweizer Franken. Freiwillige, die am Festival mitarbeiten, können sich Tokens verdienen. Wenn man einer anderen Freiwilligen den Tag versüsst, jemandem hilft, das Festival in seinen Social-Media-Kanälen promotet, erhält man Tokens gutgeschrieben. Diese speisen sich aus einem Fonds, den Fans, Gönner und die Stadt dem Festival jedes Jahr als Investition zur Verfügung stellt. Auch die Betreiber der Stände, die teilnehmenden Restaurants und Clubs sowie die auftretenden Künstlerinnen und Künstler werden für ihre Beiträge von der Stadt mit Tokens entschädigt.

Die Stadt setzte auf Tokens, um den Zahlungsverkehr zu vereinfachen. Zudem wollte man im Sinne eines gemeinsamen Experiments besser verstehen, wie das Geld auf dem Festival ausgegeben wird. Alle Daten sind anonymisiert und stehen allen im Sinne von Open Data zur Verfügung. Zudem lässt man von einer Hochschule beobachten, wie die Einführung der Tokens die Freiwilligenarbeit verändert. Abgeschaut hat man damals bei der Stadt Wien. Dort wurde 2019 ein Token eingeführt, um den CO2 Ausstoss zu reduzieren. Wer zu Fuss geht, Rad fährt oder den ÖV nutzt, erhält eine Gutschrift, die man gegen ein Gratisticket in den Bereichen Kunst und Kultur eintauschen kann. Die Stadt hat sich vorgenommen, Zentrum eines digitalen Humanismus zu werden. In Berlin wird mit dem Eco Coin experimentiert. Wer seine Pfandflaschen zurückbringt, vegan isst, zu einem grünen Stromanbieter wechselt oder an einem Workshop zum Thema Nachhaltigkeit teilnimmt, erhält ein paar Coins gutgeschrieben.

Das besondere an den Tokens ist, dass sie über die Zeit ihren Wert verändern. Wer dieses Jahr 100 Franken in alteKüche-Tokens tauscht, hat je nach der veränderten Bedeutung des Festivals nächstes Jahr mehr oder weniger Geld. Natürlich muss man nicht spekulieren, man kann seine Tokens während seines Besuchs gegen ein Bier oder Restbeträge sofort nach der Veranstaltung zurück in Franken tauschen. Mit den Tokens kann man an der Festivalbörse auf die künftige Ernährung wetten, die von Umwelt, Klima und Tierwohl beeinflusst wird. Werden wir mehr Insekten, mehr Algen, mehr genoptimiertes, mehr im Garten gezogenes Gemüse essen?

Natur trifft auf Technologie

Das Festival will die Qualitäten des High-Tech-Labors Natur bekannt machen. Wir lernen wir das Labor jedes Jahr besser kennen. Die Carlson-Kurve prognostiziert exponentiell abnehmende Kosten für die DNA-Sequenzierung. Synthetische Biologinnen betrachten die Natur wie Ingenieure, man kann sie umbauen und weiterentwickeln. Superfood funktioniert ohne Pillen und Zusätze. Der seit Ende der 2010er-Jahre anhaltende Trend der Agrifood- und Food-Tech-Start-ups ist ungebrochen. Das Festival versteht sich als Ort, um Ernährungsinnovation und Biohacking zu diskutieren. Grüne und digitale Transformation treffen aufeinander. Nachhaltigkeit und neue Technologien sollen – statt gegeneinander ausgespielt – kombiniert werden. Sie helfen, die Vergangenheit zu bewahren und die grüne Zukunft zu entdecken. Biohacker machen aus dem Essen eine Wissenschaft.

Um die bionischen Zugänge zu fördern, wählen die Festivalsfans alle drei Jahre ein Motto aus drei technologienahen Vorschlägen. Nächstes Jahr heisst das Motto “Data by Nature”. Man möchte Beispiele präsentieren, wie heute Daten zum Einsatz kommen, wenn Lebensmittel vermessen, produziert, verarbeitet und verteilt werden. Es geht um Transparenz. Die Veranstalterinnen und Veranstalter haben registriert, dass Kundinnen und Kunden vermehrt die Lieferketten ihrer Lebensmittel verfolgen möchten. Sie wollen wissen, woher ihre Kartoffeln stammen, mit einer Webcam in die Hühnerställe gucken. Die Forderung gilt auch international. Kunden interessieren sich dafür, unter welchen Bedingungen ihre Kaffee- und Kakaobohnen angebaut wurden. Für dieses Wissen, vor allem aber für ein gutes Gewissen, sind sie bereit zu bezahlen. Produzenten erhalten durch das gesteigerte Interesse neue Möglichkeiten des Direktvertriebs. Man schliesst Abos jeglicher Art ab – für regionale Himbeeren und Stadthonig, für biologisch ohne Maschinen produzierten Wein und Eier von den Hühnern aus dem Quartierstall.

Vor vier Jahren standen Drohnen im Zentrum. Die Veranstalter wollten den Besucherinnen des Festivals die Angst vor fliegenden Robotern nehmen und den Erfahrungsaustausch fördern. Man wollte aufzeigen, wie sehr die heutige Landwirtschaft bereits von Flugrobotern geprägt ist. Diese kartografieren die Felder, erkennen wo Pflanzen krank oder durstig sind. Durch den Einsatz von Drohnen in Kombination mit dem Internet der Dinge lässt sich der Wasser- und Pestizidverbrauch in der smarten Landwirtschaft deutlich verringern. Legendär ist die Trash-Tech-Ausgabe des Festivals. Aus Fruchtschalen wurde auf der Bühne Karton, aus Gartenabfällen Geschirr, aus Rüstabfällen Bouillon.

Wissen exportieren

Das Festival hat sich von Anfang an einem grünen Zeitgeist verschrieben. Als Event verknüpft man Technologie mit Geschichte, mit Natur und Design. In diesen Überschneidungen entsteht Wissen, das man durch Blogs, Vlogs und Publikationen festhält und multimedial sowie in Workshops weitergibt. Der Event ist auch ein Kompetenzzentrum. Pionierarbeit leistet man in Bezug auf geschlossene Stoffkreisläufe. Für den Verkauf und den Verzehr werden auf dem Festivalgelände einzig Materialien verwendet, die man kompostieren kann. Wegwerfgeschirr im klassischen Sinne gibt es nicht. Jedes Jahr gibt es Upcycling-Workshops zu Küchen-, Verpackungs- und Gartenabfällen. Auf dem Areal gibt es einen riesigen Komposthaufen, auf den man seine Abfälle werfen kann. Expertinnen und Experten kontrollieren, geben aber auch Auskunft, damit die Besucherinnern noch etwas lernen können.

Man schliesst sich mit Lieferanten zusammen, die auf Verpackung verzichten oder diese zurücknehmen. Durch die geschlossenen Kreisläufe schont man nicht nur die Ressourcen, man spart über die Jahre auch Geld. Das erarbeitete Wissen will man nun an andere Festivals in ganz Europa exportieren. Der Businessplan sieht vor, zuerst beratende Dienstleistungen anzubieten. Neben Festivals fasst man Kongresse, Clubs und Hotels als potenzielle Kunden ins Auge. In einem zweiten Schritt will man ein Label für besonders nachhaltige Festivals anbieten. Interessierte Anbieter können sich zertifizieren lassen und mit der Auszeichnung werben. Die Leitenden des Festivals gehen davon aus, dass der Staat mehr und mehr Plastik verbieten wird. Akteure, die sich frühzeitig der neuen Realität anpassen, erarbeiten sich einen Vorteil. Junge achten vermehrt auf solche Labels, um zu entscheiden, welche Festivals sie besuchen.

Natürlich hat die Stadt festgestellt, dass das grüne Festival nicht bei allen gut ankommt. Gesprächsstoff waren nicht nur die zelebrierte Nachhaltigkeit und die Intoleranz einiger involvierter Anbieter. Im letzten Jahr gab es öffentliche Kritik von den Plastikfreunden. Sie machten auf die Arbeitsplätze aufmerksam, die durch den Verzicht auf Verpackung verloren gehen. Rechte Aktivisten führten immer wieder Überfälle aus und bewarfen die Stände nachts mit Abfällen. Sogar eine Gegenveranstaltung mit billigem Fastfood gab es. Das Festival setzt auf Diskurs und Begegnungen. So zeigte man mit dem Themenschwerpunkt “Drohnen” auf, wie Technologie und Biologie kein Widerspruch sein müssen. Jedes Jahr wird das Festival mit einem Podium eröffnet. Bevor man in die Diskussion einsteigt, erhalten drei Haters je zehn Minuten Zeit, um die Kritik vorzutragen.


Das Kunstmuseum Orion liebt zeitgenössische und futuristische Kunst. Es wird von einer digitalen Community betrieben. 2000 Fans ergänzen das Kernteam der zehn Festangestellten. In verschiedenen Städten bespielt man ungenutzte Räume, sie funktionieren als Pop-ups. Thematisch orientiert man sich ganz an den Spannungsfeldern der Gegenwart. Im Vermittlungsprogramm stellt man online Wissen zur Verfügung. Offline will man den politischen Diskurs pflegen.

Fiktion 4 – vermitteln

Wird das Publikum erkennen, wo die Maschinen am Werk waren? Wird es die Unterschiede zwischen menschlicher und artifizieller Kreativität benennen können?
Wird das Publikum erkennen, wo die Maschinen am Werk waren? Wird es die Unterschiede zwischen menschlicher und artifizieller Kreativität benennen können?

Maschinenkunst

Für den Zyklus 2020-2022 plant Orion drei thematische Schwerpunkte: Maschinenkunst, Abfall und die Gesellschaft der Hundertjährigen. Dahinter verstecken sich die Spannungsfelder Mensch vs. Maschine, Wegwerfgesellschaft vs. Kreislaufwirtschaft sowie Jung vs. Alt. Den Anfang macht die Maschinenkunst. Orion will sich bei diesem Schwerpunkt Kunstwerken widmen, die eine künstliche Intelligenz produziert hat. 2020 zeigt eine erste Ausstellung, welche Kunst Maschinen heute produzieren. Es werden Bilder ausgestellt, Lieder vorgetragen, Kochrezepte präsentiert und Texte vorgelesen. In einer zweiten Ausstellung will sich das Kollektiv ganz auf Bilder und 3-D-Drucke von künstlichen Intelligenzen konzentrieren.

Um das Publikum herauszufordern, werden einzelne von Menschen gemalte Bilder oder fabrizierte Skulpturen in die Schau integriert. Wird es erkennen, wo Maschinen am Werk waren? Wird es die Unterschiede zwischen menschlicher und artifizieller Kreativität benennen können? Und wer ist eigentlich die Künstlerin, wenn doch ein Mensch die künstliche Intelligenz erschaffen, programmiert, trainiert hat? Ist die KI selbst als Kunst zu betrachten – oder nur ein Wunder der Technik? Genauso interessiert, wie sich der Kunstmarkt durch die kreativen Maschinen entwickelt. Werden riesige Konzerne mit singenden, tanzenden, malenden, dichtenden Robotern ihr Geld verdienen? Werden diese die Preise auf dem Kunstmarkt fallen lassen oder in ungeahnte Höhen treiben? Wird man die Algorithmen hinter den Kunstwerken stehlen und manipulieren?

Im Thema ist die Frage eingewoben, ob wir uns am Anfang einer Maschinenkultur befinden? Mit den Vorstellungen der Maschinen ändert sich unsere Bewertung. Was einmal böse war, wird vielleicht gut. Wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Maschinen Kunst für sich selbst produzieren? Wird die Menschenkunst als minderwertig gelten? Wird unsere Kultur fortan überhaupt immer Maschinenkultur sein, weil die Roboter und künstlichen Intelligenzen unverzichtbarer Teil der Gesellschaft geworden sind? Wird das Anthropozän zum Maschinenzeitalter? Diese Fragen werden in das digitale Vermittlungsprogramm aufgenommen, das vor allem über einen Videokanal ausgestrahlt wird. Per Newsletter und Abos auf der Social-Media-Plattform werden Fans regelmässig mit Interviews und Reportagen versorgt. Ganz im Sinne der Crowd ist es eine offene Vermittlung, zu der das Publikum ebenfalls Beiträge beisteuert.

Abfall als Kunstobjekt

Einen zweiten Schwerpunkt legt Orion beim Thema Abfall. Geplant ist eine Schau zu seiner Kulturgeschichte. Sie zeigt, was Menschen über die Zeit weggeworfen haben und wie sich das Recycling verändert hat. Uralt ist die Verwendung von tierischen Abfällen zur Düngung. Werden wir in der grünen Zukunft überhaupt noch Dinge wegwerfen und verbrennen – oder ist alles in endlose Kreisläufe der Wiederverwertung integriert? Wird jedes produzierte Gut, jedes verbaute Element einen RFID-Chip tragen? Um das Thema glaubwürdig zu besetzen, will Orion selbst so wenig Abfall wie möglich produzieren. Zero Waste verlangt den Verzicht auf Verpackungen und Plastik. Wann immer möglich wird in Logistik, Catering und Bürobetrieb mit kompostierbaren Materialien gearbeitet. Ein “Waste-O-Meter” zeigt auf der Webseite an, wie viel Kilogramm Abfall das Kollektiv verursacht.

Durch Orion soll Abfall Kunst werden. Was Wirtschaft und Gesellschaft üblicherweise wegwerfen, soll in den Pop-up-Räumen von Orion als Kunstwerk auferstehen. Es wird mit Fruchtschalen, Autos, Elektroschrott, Verpackungen aller Art gearbeitet. Schimmelpilz wächst zu drolligen Formationen. Von Museen, Auktionshäusern und Archiven ausrangierte Werke erhalten eine zweite Chance. Allerdings müssen sie einen Transformationsprozess durchlaufen. Sie werden zersägt, verfärbt, verflüssigt, neu kombiniert. Was genau dieses zweite Leben umfasst, will die Community offenlassen. Es ist ein Wettbewerb geplant, bei dem Künstlerinnen bei Orion Abfall abholen können. Neue Kunstwerke sind ebenso denkbar wie Tapeten, Büchergestelle oder Notizbücher. Auch Performances mit und rund um das Weggeworfene sind erwünscht.

Das im Museum Ausgestellte wird Teil der Wunderländer der Besuchenden. Landschaften werden zu Kulissen von Videospielen, Porträts zu Vorbildern, um Avatare zu designen.

Passend zum Gedanken der endlosen Kreisläufe will Orion neue Beziehungen zwischen Kunstobjekten und seinen Betrachtern ermöglichen. Per Link, QR-Code oder VR-Brille erhalten Besucher Zusatzinformationen zu Werk und Künstlerin, Zugang zu ihren Videotagebüchern. Was im Museum ausgestellt wird, können Besuchende in ihre persönlichen Wunderländer integrieren. Landschaften werden zu Kulissen ihrer Videospiele, Porträts zu Vorbildern, um ihren Chatbots ein Gesicht zu geben. Für jede Verwendung wird der Künstlerin ein Kryptobetrag überwiesen. Orion denkt zudem seine Sammlung neu. Im Depot werden Führungen organisiert. Nach jeder Ausstellung wird jedes Werk dreimal geschätzt – von Expertinnen, der Community und dem hauseigenen Algorithmus. Via Kryptowährung ist die Community am Wert der Sammlung beteiligt. Alles ist digital verzeichnet, auf der Webseite einsehbar. Via Plattform kann man ausgewählte Werke für ein Jahr mieten.

Von und für ältere Menschen

Einen dritten Schwerpunkt will die Community bei der silbrigen Gesellschaft legen. Hundertjährige stellen ihre Kunst für Hundertjährige aus. Ende 2017 gab es schweizweit 1510 von ihnen. Diesen Menschen möchte man eine Plattform geben. Orion sucht dazu nach Kunstschaffenden, um eine Revue ihres jahrhundertlangen Schaffens zu zeigen. Wenn möglich sollten die Künstlerinnen noch am Leben sein, damit man diese in Veranstaltungen, Podcasts und Videoprojekte integrieren kann. Ob sie renommiert waren, ob ihre Kunst jemals im Museum gezeigt oder von den Medien aufgegriffen wurde, ob es sich um Amateure oder Profis handelt, spielt keine Rolle. Im Zentrum des Interesses steht der künstlerische Antrieb über Jahrzehnte und die Frage, ob und wie sich ein Werk in einem so langen Zeitraum verändert hat.

Zusammen mit Historikerinnen will man der Frage nachgehen, was in den letzten hundert Jahren konstant geblieben ist und welche technologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Trends ihr künstlerisches Werk beeinflussten. Wo haben externe Veränderungen etwas im Inneren der Künstlerinnen verstärkt? Führten technologische Innovationen zu neuen Möglichkeiten des Ausdrucks? Wie veränderten sie das Schaffen von Druckern, Videokünstlern, Fotografinnen, Performancekünstlerinnen und Game-Designern? Sind auch Hacker Künstler? Oder war der politische, wirtschaftliche und technologische Kontext gar nicht so wichtig? Gab die Biografie den Wandel im Werk vor – die Menschen, die man getroffen hat, die Erlebnisse und Emotionen, die sich daraus ergaben?

In einem zweiten Schritt möchte man Hundertjährige zu neuen Künstlerinnen machen. Sie stricken, tanzen, malen, singen oder erzählen. Gemeinsam mit den Auserwählten will man in die Zukunft blicken. Wie stellen sich Hundertjährige die Welt in 100 Jahren vor? Wie soll sich das Zusammenleben von Jung und Alt verändern? Orion will mit dieser Aktion gleichermassen ein junges und altes Publikum erreichen. Man prüft eine Roadshow. Mit einem fahrenden Museum will man von Quartier zu Quartier, von Altersheim zu Altersheim reisen. In die Roadshow integriert ist das Vermittlungsprogramm, mit auf Tour gehen Referierende und Vermittlerinnen. Man spricht über Einsamkeit und Neuerfindung im Alter, das Erinnern, Lernen und Vergessen von Menschen und Maschinen.

Kuratierung in der Crowd

Sämtliche Mitarbeitende von Orion arbeiten in Teilzeit. Sie sind Slasher, arbeiten nebenbei als Juristinnen und Schneider, Barfrauen und Gärtner. Eine digitale Community unterstützt sie. In den letzten Jahren ist sie auf 2000 Personen im In- und Ausland angewachsen. Sie beteiligen sich als Influencer, Trendscouts und Werbebotschafter. Zudem sind sie in die Programmgestaltung, in die Auswahl der Künstlerinnen und ihrer Werke involviert. Die Community finanziert aber auch. Dabei setzt man auf das Abosystem. Je nach Budget wählt man zwischen einem S-, M- und L-Unterstützungsbeitrag. Im digitalen Votingverfahren entscheidet die Community, welche Kunst ausgestellt wird. Ein digitales schwarzes Brett sammelt Ideen, welche Fragestellungen man künftig thematisieren, was man ausstellen, vorführen, diskutieren und organisieren könnte. Die Ideenfindung des Kollektivs ist für alle Mitglieder der Crowd transparent.

Im Online-Forum wird diskutiert und abgestimmt. Sämtliche Entscheidungsprozesse sind transparent – inklusive sämtlicher Geldflüsse von Orion. Die Entscheidungsfindung im Forum moderieren die festangestellten Mitarbeitenden. Sie sammeln und strukturieren die Beiträge, bereiten die zu beantwortenden Fragen auf. Damit der Betrieb des Museums funktioniert und dynamisch bleibt, ist eine lebendige Community unverzichtbar. Sie muss bei Laune gehalten werden – mit spannenden Online-Beiträgen, einem als relevant wahrgenommenen Newsletter und Veranstaltungen. Nur digitale Kontakte reichen nicht, um das Kollektiv zusammenzuhalten. Eine regelmässige Erneuerung der Community ist unverzichtbar. Events sind das ideale Medium, um neue Mitglieder zu gewinnen.

Das Museum versteht sich auch als Galerie. Sämtliche Werke, die in Pop-ups augestellt waren, kann man später erwerben. Der Verkauf passiert zunächst analog. Was nicht wegkommt, wird online vertrieben. Im Sinne eines Longtail-Sortiments können Besucherinnen des Webshops in den ausgestellten und nicht verkauften Werken der letzten zehn Jahre stöbern. Bevor die Kunstwerke online platziert werden, wählen die Künstlerinnen, ob sie ihre Werke versteigern oder mit einem festen Preis versehen möchten. Ein prozentualer Anteil der Erlöse geht an das Museum über. Zusammen mit den Beiträgen der Crowd ermöglichen es diese Erlöse dem Museum den Betrieb in die Zukunft zu führen.

Das Museum als Projekt

Völlig virtuell funktioniert Orion nicht. Zwar finden sämtliche Ausstellungen zwei Wochen vor der Vernissage zunächst online statt. Die Pop-ups werden mit 3-D-Scannern erfasst und digital zugänglich gemacht. Besucherinnen wählen, ob sie die 1:1-Abbildung des Pop-ups besuchen oder sich in ein personalisiertes Museum begeben, das datenbasiert auf sie zugeschnitten wird. Künstler schalten Links, die zu ihren Webseiten, anderen Projekten, zu ihren Social-Media-Accounts oder zu Texten führen, die sich mit Themen auseinandersetzen, die in den Kunstwerken verhandelt werden. Von den Künstlerinnen verfasste Kurztexte zu den Bildern werden von einer digitalen Assistenz auf Wunsch vorgelesen. Nach Ablauf der zweiwöchigen Online-Ausstellung ist es Zeit für die richtige Vernissage. Endlich kann man die Ausstellung und seine Künstler mit allen Sinnen erfahren.

Die Kerngruppe arbeitet mehrheitlich von zu Hause aus, in Co-Working-Büros und unterwegs. Ein eigentliches Bürogebäude gibt es nicht. Trotzdem treffen sich die zehn Festangestellten regelmässig für Sitzungen und gedankenreiche Abendessen. Die Gründungsmitglieder machten die Erfahrung, dass sie das Alltägliche problemlos online regeln können. Geht es um Innovation, um das Planen der Zukunft, um Konflikte oder um die Reflexion des Bisherigen, sind Treffen im Analogen unverzichtbar. Für die Workshops setzt man auf Vermittlungsräume in anderen Museen oder gemeinsame Wanderungen. Auch mit dem Shared Home Office machte man gute Erfahrungen. Zweimal pro Jahr fährt Orion eine Woche weg - nach Italien, in ein Bergdorf, an den lauschigen Oeschinensee. Dort hat man Zeit, alles Mögliche zu diskutieren, auch Privates.

Genauso fluid wie die Orte der Zusammenarbeit ist die Organisation. Ausser den zehn Kernmitgliedern ist niemand angestellt. Rollen sind wichtiger als Hierarchien. Man setzt auf die Holokratie. Alle haben dieselbe Budgetkompetenz, die Löhne sind transparent. Zusätzliches Personal für Aufbau, Umzug und Vermittlung wird für die Dauer eines Projektes angestellt. Freie Jobs platziert man auf der Homepage sowie in den sozialen Medien und Newslettern. Um zu verhindern, dass Orion auseinanderfällt, achtet man auf eine hohe Präsenz der Festangestellten und der Community an den organisierten Events. Es sind die Momente, in denen sich zeigt, ob das virtuell Gedachte auch in der altmodischen analogen Realität funktioniert.


Seit zehn Jahren gibt es an der Universität Y das renommierte Institut für Zukunftsgeschichte. Der Blick ist historisch. Man forscht, wie früher Zukunft gedacht, wahrgenommen und bewertet wurde. Dabei interessieren Unterschiede der Wahrnehmung – regionale, aber auch solche innerhalb einer Gesellschaft. Das Institut arbeitet interdisziplinär. Man kooperiert mit Soziologen, Kunsthistorikern und Informatikerinnen.

Fiktion 5 – erforschen

Kann plötzlich niemand mehr einen komplexen, tiefgründige Text schreiben, wenn die Forscherinnen filmen, fotografieren, podcasten, coden?
Kann plötzlich niemand mehr einen komplexen, tiefgründige Text schreiben, wenn die Forscherinnen filmen, fotografieren, podcasten, coden?

Besonderheiten Europas

Das Institut der Universität Y widmet sich der Zukunft. Aber die Forschung ist historisch angelegt. Man interessiert sich dafür, wie die Menschen früher die Zukunft dachten, fühlten, erlebten, bewerteten. In den Gedankenspielen der Vergangenheit spielten Mobilität, Stadtentwicklung und neue Technologien eine grosse Rolle. Utopien von Gestern imaginierten den Stillstand. Sie stellten sich stabile Gesellschaften vor, in denen sich kaum noch etwas verändert. Dumm waren sie nicht: Sie antizipierten sowohl die Videotelefonie wie das Geo-Engineering (sie nannten es “Schönwettermaschine”). Nicht realisiert haben sich die beweglichen Häuser, auf die fliegenden Autos warten wir schon lange.

Es liegt in der Tradition des Instituts, Fragestellungen mit einem starken Gegenwartsbezug zu behandeln. Die Angestellten des Instituts verstehen sich als Zeitreisende, verknüpfen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Seit einigen Jahren untersuchen sie die einstigen Ideen für ein vereintes Europa. Wie dachte man vor fünf, zehn, 50 und 100 Jahren die Zukunft unseres Kontinents? Welche geopolitischen Spannungen sah man kommen? Was sollte die Länder zusammenhalten? Wann bildete sich überhaupt ein europäisches Selbstverständnis heraus? Wie spiegelte sich dieses in der geschaffenen Kunst? In den letzten zwei Jahren hat man diesen Forschungsschwerpunkt nicht nur akzentuiert, sondern durch die Bezüge zur Gegenwart geschärft. Man will stärker als bisher die Unterschiede in der Zukunftsvergangenheit von Europa, China und den USA untersuchen. Was dachte man gleich, was anders?

Aus einer aktuellen Perspektive interessiert, seit wann sich in Europa der Blick nach vorne verdüstert hat und was die Ursachen der positiveren Bewertung der Zukunft in den USA und China sein könnten. Ab wann begann sich in Europa ein Technologieskeptizismus zu verbreiten, wie man ihn wöchentlich in der Republik nachlesen kann? Welche Rolle spielte der europäische Mangel an Big Tech für den Umschwung? Neben traditioneller Quellenanalyse setzt das Institut auf Daten, Bild- und Filmanalysen. Man arbeitet mit Netzwerkanalysen, um herauszufinden, welche Personen, Institute, Städte und Häfen auf welche Weise die europäischen Zukunftsbilder prägten.Gerade die Erforschung Chinas setzt durch die fehlende Sprachkompetenz Partnerschaften mit anderen Universitäten und spezialisierten Think Tanks voraus – selbst wenn die Algorithmen jede Sprache in Sekundenbruchteilen übersetzen werden.

In die Gegenwart tragen

Ein zweiter Schwerpunkt des Instituts identifiziert divergierende Zukunftswahrnehmungen innerhalb einer Gesellschaft. Man analysiert, wo Zukunftsrisse passierten und wie sich diese über die Zeit entwickelten. Wo gab es Zentren der negativen und positiven Deutung der Zukunft? Beeinflussten Bildung, Einkommen, Berufszweige und Herkunft die Ängste und Visionen? Wie unterschieden sich jüngere und ältere Menschen? Welchen Einfluss hatte die Religionszugehörigkeit? Wurden die Unterschiede über die Zeit grösser oder kleiner? Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragen erhofft man sich Rückschlüsse auf die Gegenwart. Existieren heute dieselben Differenzen in der Wahrnehmung der Zukunft? Wessen Aussichten haben sich verbessert? Wo wäre gemäss den Erkenntnissen aus der Vergangenheit anzusetzen, um die Angst vor der Zukunft zu verringern?

Hinter dem Forschungsinteresse steckt die Vermutung, dass Zukunftsfurcht politische Polarisierung begünstigt. Wer positiv nach vorne blickt, hat andere Prioritäten als derjenige, der sich vor der Zukunft fürchtet. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive münden Ängste in Rezessionen. Wird die Stimmung düster, schwindet die Unbeschwertheit, sinken die Investitionen. Das Institut wagt in der Diskussion polarisierter Zukunft den Weg aus dem Elfenbeinturm und will als engagierter Akteur wahrgenommen werden. Zum einen will man mit interessanten Gesprächspartnerinnen in den Medien präsent sein. Zum anderen hat gerade das Projekt Chronik für Jedermann begonnen. Man lässt Amateure die Geschichte schreiben. Ihre Chroniken sind ähnlich wie Wikipedia öffentlich sichtbar und stehen dem Institut später als Forschungsmaterial zur Verfügung. Forschung soll erlebbar werden.

Man arbeitet an einem Videospiel, mit dem man in die Vergangenheit reisen kann. Dort angelangt, versuchen die Spielerinnen, den Menschen die Zukunftsängste zu nehmen. Die spannendsten von der Community generierten alternativen Geschichten will man online zugänglich machen. Mit dem Programm “Uni für Alle” orientiert man sich an der breiten Öffentlichkeit. Einmal im Monat treten die Dozierenden auf der Bühne eines beliebten Clubs auf und präsentieren ihre jüngsten Ergebnisse. Diskussionen mit dem Publikum holen die Erkenntnisse über die Vergangenheit in die Gegenwart. Damit der Transfer gelingt, ist neben thematischen Bezügen zu gesellschaftspolitischen Fragen eine einfache Sprache verlangt. Jährlich macht man im ehemaligen Schwimmbad Wissenschaft zum Festival. Professorinnen treffen auf Studentinnen treffen auf Künstlerinnen treffen auf Pensionierte treffen auf Politiker. Für die Mitarbeitenden des Instituts ist es ein Ort, um neue Perspektiven einzunehmen und durch Co-Creation neue Forschungsfragen zu generieren.

Multimediales Wissen

Das Institut veröffentlicht seine Erkenntnisse und Gedanken nicht nur in Textform. Zwar bleiben Texte unverzichtbar für Lesende, die sich vertieft einem Thema widmen und eine entsprechende Lesesituation vorfinden. Um zusätzliche Informationsbedürfnisse und -situationen abzudecken, orientiert man sich an Trendbüros und Agenturen, die spielerischer als Universitäten mit Wissen umgehen. Erkenntnisse sollen zu Podcasts, Videos und Infografiken werden. Unternehmensberaterinnen und andere Wissensproduzenten der Wirtschaft haben verstanden, dass Wissen ein Produkt ist, das man mit einer Marke versehen, bewerben und vertreiben kann. Um die gesellschaftliche Relevanz zu stärken, will man Erkenntnisse so aufbereiten, dass sie verstanden, weiterverarbeitet und im Internet multipliziert werden. Das erfordert, Publikationsformate jenseits von PDFs auszuprobieren.

Um den Zugang zum Wissen zu demokratisieren, will das Institut erstens situativ die Komplexität der Erkenntnispräsentation reduzieren und mehr Geschichten erzählen. Sie schliessen an den Zeitgeist an, wecken Emotionen, regen die Fantasie an. Zweitens kennt das Institut die Mechanismen digitaler Kommunikation. Seit Jahren ist man in den sozialen Medien präsent und konnte sich eine internationale Fangemeinde aufbauen. Weil immer wieder neue Anbieter entstehen, probiert man gerne mal was Neues – wie damals 2020 Filmchen auf TikTok. Die erarbeiteten Studien sind online, Interessierte können sie im Internet frei beziehen und direkte Links setzen. Das bewegte Bild prägt die Veröffentlichungen ebenso wie der Acoustic Turn. Man experimentiert mit Podcasts. In 30-minütigen Interviews machen sich Doktoranden auf den Weg in die Gedankenwelten anderer Historikerinnen.

Im nächsten Jahr will das Institut seine Erkenntnisse in Chatbots übersetzen. Als Übungsmaterial dient eine Studie zu fliegenden Autos. Wird der Lilium Jet den Durchbruch bringen oder ein Rohrkrepierer sein? Die Erkenntnisse werden dadurch nicht nur in linearen Texten veröffentlicht. Ergänzend sind sie in Form von Gesprächen mit der Maschine zugänglich. Das verlangt, lange Texte in FAQ herunterzubrechen. Statt zu lesen, fragt man. Jede Leserin führt ein anderes Gespräch mit dem Chatbot. In diesen Gesprächen bringen sie eigene Ideen und Links ein. Die so entstehenden Textelemente will das Institut als Ausgangslage weitergehender Forschung ebenso wie als Futter für die Weiterentwicklung des Chatbots verwenden.

Silver Students

Geschichte war immer ein Fach, in das sich ältere Menschen einschrieben. Gut möglich steigt das Interesse für die Vergangenheit, je mehr man selbst eine hat. Für die nächsten Jahre erwartet die Institutsleitung eine deutliche Zunahme der Silver Students. Man rechnet mit bis zu einem Viertel an Lernenden im Alter von über 60 Jahren, im Segment von 35 bis 45 Jahren antizipiert man ebenfalls einen deutlichen Zuwachs. Um deren Bedürfnissen gerecht zu werden, entwickelt man einen neuen Masterlehrgang. Konzipieren will man gemäss Design Thinking und mit Beteiligung der neuen Zielgruppen. In der Vermarktung des Angebots geht man auf grössere Unternehmen zu. Man will zum Beispiel bei Anlässen präsent zu sein, die das Leben nach der Arbeit thematisieren. Partnerunternehmen wollen den Lehrgang sponsern.

Die Strategie, die silbrigen Studierenden in separaten Lehrgängen unterzubringen, hat die Institutsleitung verworfen. Stattdessen möchte man gemischte Klassen mit Zwanzig und Siebzigjährigen führen. Die Generationen sollen sich gegenseitig inspirieren und voneinander lernen. Gemeinsam ist jungen und alten Studierenden das Interesse an der Geschichte der Zukunft. Jedoch unterscheiden sie sich in ihren Lerngewohnheiten, ihrem Wissen, in ihrem Wissensmanagement, ihrer Art, in Gruppen zu arbeiten. Diese Kompetenzvielfalt soll im Lehrgang ebenfalls Thema sein. Für die Umsetzung, das Monitoring und die Erforschung der Silver-Strategie ist unter anderem die Diversitätsmanagerin verantwortlich. In ihrem Alltag rücken Genderfragen im Vergleich zu Altersfragen in den Hintergrund. Um die Studierenden für die angestrebte Multimedialität der Erkenntnisse zu gewinnen, hat das Institut das Prüfungsreglement angepasst.

Seminararbeiten darf man in Form von Podcasts, kurzen Dokumentarfilmen, Infografiken, Webseiten, imagesisierten Daten oder eines Skripts für einen Chatbot einreichen. Man hat auch Berufe der Zukunft: Datenversicherer, Erinnerungshacker, Zeitreisende, Archäologinnen, die in Daten graben oder mit Satellitenbildern arbeiten. Das Institut geht davon aus, dass ältere Studierende eher Texte schreiben werden und jüngere Semester ihre Prüfungen häufiger multimedial ablegen. Durch die Multimedialität der Hausarbeiten pocht man nicht nur auf Lerneffekte zwischen den Studierenden, sondern auch zwischen Studierenden und Lehrenden. Um multimediale Zugänge zum selben Thema zu fördern, unterstützt man gemeinsame Projekte von jungen und älteren Studierenden. Zum Beispiel wird dann die Geschichte der mit dem Grundeinkommen verbundenen Hoffnungen im gleichen Projekt in Text, Video und Comic behandelt.

Interdisziplinarität vs. Kompetenzverflachung

Entgegen dem Zeitgeist untersucht das Institut für Zukunftsgeschichte die Schattenseiten der Interdisziplinarität. Seit Jahren lebt und profitiert es von deren Vorteilen. Aus der Erforschung der Zukunft der Vergangenheit ergeben sich Fragestellungen, welche die Historiker zusammen mit Soziologen, Informatikerinnen, Kunsthistorikerinnen, Geografen und Stadtentwicklerinnen angehen. Während Historikerinnen den Längsschnitt beherrschen, kennen sich zugezogene Expertinnen in spezifischen Diskursen besser aus. Sie bereichern die methodische Vielfalt. Man teilt Kompetenzen und Daten, kombiniert Perspektiven, verhindert verkürzte monokausale Argumentationslinien. Um die Zusammenarbeit der Forscherinnen anzuregen, investiert man in eine kooperative Forschungskultur – mit Workshops, Ausflügen und gemeinsamen Veröffentlichungen.

Kann plötzlich niemand mehr einen guten Text schreiben, wenn die Forscherinnen filmen, fotografieren, podcasten, coden müssen?

Doch gehen diese Vorteile der Zusammenarbeit nicht auf Kosten der Tiefe? Werden durch zu viel Interdisziplinarität nicht Kompetenzspitzen gebrochen? Führt sie dazu, dass alle ein bisschen alles können und wissen, aber niemand mehr etwas richtig? Bewirken die kombinierten Perspektiven eine Normierung des Fragens und Untersuchens? Was passiert, wenn sich alle als Wandernde der Disziplinen verstehen? Was gibt es in einer solchen Zukunft noch zu kombinieren, wenn niemand mehr einen disziplinären Hintergrund hat? Gelten dieselben Gefahren für die Multimedialität? Kann plötzlich niemand mehr einen komplexen, tiefgründigen Text schreiben, wenn die Forscherinnen filmen, fotografieren, podcasten, coden müssen? Und wie ist die gegenwärtige Kritik an der Diversitätsförderung des Forschungspersonals zu beurteilen?

Was also ist der richtige Anteil an Interdisziplinarität, Multimedialität und Diversität? In der Klärung dieser Fragen befindet man sich am Anfang. Um einer drohenden Oberflächlichkeit entgegenzutreten, will man Deep Work stärken. Forschende sollen sich ganz den Tiefen einer Fragestellung widmen können – ohne Ablenkung durch äussere Einflüsse. Zwar existieren diese Zeitfenster in den Semesterferien, doch überlegt man, wie man Sitzungen und Administration abbauen kann. Man prüft Personal einzustellen, das einzig die Aufgabe hat, Forschungsgelder einzutreiben und das erfolgsbasiert entlohnt wird. Auf Seiten der Studierenden drehen sich die Überlegungen um die Reduktion kleinteiliger Formate beziehungsweise um eine erhöhte Mindestanzahl von Credits, die man für Kurse und Arbeiten vergibt.


In einer ehemaligen Uhrenfabrik ist das Archiv für Schweizer Public-Unternehmen untergebracht. Es speichert die Vergangenheit der Staatsbetriebe SRF, Swisscom, SBB und Post. Gegründet wurde es Ende 2019, um Reisen in die gemseinsame Geschichte anzubieten sowie die Kosten von Digititalisierung und Betriebs zu verteilen. Nach einer Anschubfinanzierung durch den Bund soll es später selbsttragend sein.

Fiktion 6 – Speichern

Gespräche treten an die Stelle des Lesens. Die Nutzerinnen des Archivs unterhalten sich durch Chatbot-Technologie mit Figuren aus der Vergangenheit.
Gespräche treten an die Stelle des Lesens. Die Nutzerinnen des Archivs unterhalten sich durch Chatbot-Technologie mit Figuren aus der Vergangenheit.

Archiv im Wunderland

Das Archiv der Service-Public-Unternehmen setzt voll auf den Trend der Wunderländer. Geschichte soll nicht einfach nur dokumentiert, aufgehängt und ausgestellt werden. Vielmehr möchte man diese für alle Sinne der Nutzerinnen und Nutzer erlebbar machen. Wer das Archiv aufsucht, reist als aktiver Passagier in die Vergangenheit. Dieses Angebot richtet sich genauso an Wissenschaftlerinnen wie an den normalen Bürger ohne viel Vorwissen. Offensichtlich unterscheiden sich deren Ansprüche: Wissenschaftler suchen Informationen, Amateure eher Unterhaltung. Aber von potenziellen Zielkonflikten will man sich in der konzeptionellen Phase jetzt noch nicht vereinnahmen lassen. Um die Wunderländer zu bauen, sind zunächst möglichst viele Dokumente der Staatsunternehmen zu digitalisieren.

Ehemalige Mitarbeitende wurden angeschrieben, ob sie noch Zeugnisse der Vergangenheit bei sich zu Hause haben. Algorithmen und Benutzungsstatistiken helfen auszuwählen, was Priorität geniesst. Weil sich die Wunderländer wie reale Welten anfühlen sollen, schenkt man Ton- und Bilddokumenten besondere Aufmerksamkeit. Via Internet soll man sie bequem vom Wohnzimmer aus aufsuchen können. Wie in einem Videospiel bahnen sich die Besucherinnen des Archivs ihre eigenen Wege. Das bedingt eine Art Timeshuttle, mit dem man Jahrzehnte zurück und vorwärts navigiert. Die Welten von SRF, Swisscom, Post und SBB werden von Anfang an gemeinsam und nicht einzeln in Gärtchen gedacht. Strukturgebend sind statt der beteiligten Unternehmen – Epochen, Orte und Themen – die 1950er-Jahre, die Sendeanlage Monte San Salvatore, Unfälle und Pannen.

Auch in Zukunft soll das Archiv ein analoger Ort sein. Er wird gemeinsam von Maschinen und Menschen belebt. Im Betrieb delegieren die Verantwortlichen so viele Arbeitsschritte wie möglich an Roboter. Sie suchen, katalogisieren, bringen, putzen, ordnen. Nicht digitalisieren möchte man den Kontakt mit den Besuchern. Das Archiv will ein offener Raum sein, wo sich Menschen treffen, sich unterhalten, ihre Gedanken teilen. Das setzt eine gemütliche Innenarchitektur voraus. Wie eine Hotellobby lädt sie ein, Zeit zu verbringen. Die Besuchenden sollen ihre Laptops und Kinder mitbringen, einen Kaffee trinken, ein Stück Kuchen essen. Dahinter steckt die Hoffnung, den Betrieb des Archivs durch Gastronomie querfinanzieren zu können.

Sprechende Archive

Das Archiv der Service-Public-Organisationen beabsichtigt, seine Quellen zum Sprechen zu bringen. E-Mail-Verkehr, Protokolle der Geschäftsleitung, Zeitungsberichte, öffentliche Reden und Videos bieten Material, um die Geschichte zu rekonstruieren. Die Vergangenheit wird lebendig, mittels einfachem, intuitiven Zugang steigert man das Interesse an ihr. Mit Stimmsteuerung erleichtert man darüber hinaus den Zugang zu den Beständen. Ältere und körperlich eingeschränkte Personen können diese selbstständig nutzen. Chatbots und digitale Assistenten kommen zum Einsatz. Neben einer kompletten Digitalisierung bedingen die sprechenden Archive eine hochgradige Vernetzung der Bestände. Erst dann können die Nutzerinnen mittels Fragen in der Geschichte navigieren. Statt Hunderte Seiten durchzuarbeiten, fragt man zum Beispiel, was am 1.12.1952 passiert ist oder ob sich Benedikt Weibel einmal zum Klimawandel geäussert hat.

Programmiert man die künstliche Intelligenz so, dass sie Geschichte eigenmächtig umschreiben und erweitern darf? Erlaubt man ihr eine eigene Persönlichkeit?

In den Wunderländern unterhalten sich die Besucherinnen des Archivs mit Figuren der Vergangenheit. Zum präsenten Personal gehören frühere Beamte, Politikerinnen und Mitglieder der Geschäftsleitung. Wie das entsprechende Storytelling aussehen könnte, hat man sich bei Westworld abgeschaut. In der viel beachteten Science- Fiction-Serie streunen Menschen durch einen virtuellen Abenteuerpark - aus dem die Roboter ausbrechen und für ihre Unabhängigkeit kämpfen werden. Von Stadttheatern ausgeliehene Dramaturgen unterstützen beim Storytelling. In den Wunderländern soll man sich nicht nur mit Prominenten unterhalten. Oral History erweckt ganz gewöhnliche Mitarbeitende zum Leben. Das ermöglicht, tiefer in den Alltag der Angestellten abzutauchen als durch die “Geschichte der grossen Männer”. Vom Aussterben bedrohte Berufe wie der Angestellte am Postschalter und die Briefträgerin werden in die Zukunft gerettet.

Via Voice Computing weisen die Nutzerinnen das Maschinenpersonal an. Digitale Assistenten suchen, bereiten auf, imagesisieren, verlinken, geben Hinweise, was die Nutzerin interessieren könnte. Ausserdem lesen sie auf Befehl Inhalte vor. Vor dem Einschlafen gönnt man sich eine Zeitreise in die 1980er-Jahre. In der Umsetzung stellt sich die Frage, ob die Maschinen die Vergangenheit einfach brav wiedergeben sollen. Oder programmiert man die künstliche Intelligenz so, dass sie Geschichte eigenmächtig umschreiben und erweitern darf? Erlaubt man ihr eine eigene Persönlichkeit? Diese Entscheidungen sind durchaus brisant. Jede programmierte Vergangenheit birgt die Gefahr, gekidnappt, gefälscht oder gelöscht zu werden.

Archiv als Plattform

Das Archiv wird als Plattform gedacht. Der Eintritt in die Bestände setzt ein Log-in voraus. Sämtliche Anfragen, Ausleihen und Auszüge werden gespeichert. Die Nutzerin sieht zehn Jahre nach ihrem ersten Besuch, was sie damals gesucht und gefunden hat. Digitale Assistentinnen vergessen nicht. Jedes neue Gespräch mit der Vergangenheit beginnt dort, wo das letzte aufgehört hat. Das heisst auch: Keine Nutzerin besucht dasselbe Archiv. Mit jedem Besuch passt es sich stärker an, lernen die Robo-Archivarinnen ihr Gegenüber besser kennen. Waren sie zu Beginn noch mühsame Begleiterinnen, entwickeln sie sich mit der Zeit zu Gefährtinnen. Man hört ihnen gerne zu und ist auch bereit, etwas über sich selbst zu verraten. Nutzerinnen können verschiedene Ausprägungen der Begleitung in der Begehung wählen. Während die einen wild erkunden, lassen sich andere strickt führen.

Für das Log-in setzt man auf bestehende digitale Infrastruktur. Das Management prüft zum einen den Swisspass, zum anderen spricht man mit den Universitätsbibliotheken. Auf keinen Fall will man den Nutzenden ein weiteres Log-in zumuten. Der Datenschutz wird hochgehalten. In der Umsetzung kommen hohe Standards der Datensicherheit und informationellen Selbstbestimmung zur Anwendung. Nutzerinnen haben die Wahl, welche Daten wie lange gespeichert werden. Wollen sie kein persönliches Archiv bauen, wollen sie nicht, dass das Archiv sie kennenlernt, wollen sie von den Chatbots und den Figuren der Vergangenheit nicht wieder erkannt werden, löscht das Archiv nach dem Log-out sämtliche Daten. Ein regelmässiges Audit von digitalen Profis prüft die Datensicherheit, den ethischen Umgang mit gesammelten Daten sowie die eingesetzten Anwendungen der künstlichen Intelligenz.

Sich als Plattform zu verstehen, heisst für die Verantwortlichen, Potenziale der kooperativen Nutzung zu testen. Wenn die Kundinnen durch die lebendigen Archive der Staatsbetriebe reisen, können sie nicht nur mit Chatbots sprechen. Via Chat können sie mit den Besuchern Kontakt aufnehmen, die sich gleichzeitig im Archiv befinden. Das Archiv wird zu einer Art Second Life. Berufliche Dialoge mischen sich mit privaten. Kooperativ ist zudem das Lesen – das als Kulturtechnik der Informationsbeschaffung nicht verschwinden wird. Während der Lektüre kann man sich die Markierungen und Notizen anderer Nutzer anzeigen lassen. Wie heute bei Kindle oder Medium sieht man, welche Stellen markiert und kommentiert wurden. Dieser Mechanismus gleicht der Kommentierung von Handschriften. Heute wie in den Bibliotheken der Renaissance kommt es beim kooperativen Lesen zu Winner-Takes-It-All-Effekten. Welche Gedanken werden sich aus der Vergangenheit in die Zukunft retten?

Pensionäre als Mitarbeitende

Im täglichen Betrieb plant man, pensionierte Mitarbeitende der Staatsbetriebe anzustellen. Diese sollen auch in der Konzeptions- und Aufbauphase ihr Wissen einbringen. Als ehemalige Know-how-Träger der Betriebe sind sie die besten Expertinnen für deren Vergangenheit. Je älter sie sind, desto weiter reicht ihr Blick zurück. Im Sinne von Oral History möchten die Verantwortlichen virtuelle Figuren aus der Vergangenheit kreieren, die zum Beispiel in den Anfangszeiten der PTT gearbeitet haben. Durch die Interviews mit früheren Mitarbeitenden gleichen sich die Figuren nicht nur der Wirklichkeit an, sie entwickeln eine Persönlichkeit. Je mehr Profil die Figuren haben, desto echter wirkt das Wunderland, desto grösser allerdings sind auch die Gefahren einer übererklärten, manipulierten Geschichte.

Auch in der Gastronomie sowie im Kundenkontakt setzt das Archiv auf Pensionärinnen. Auftragsrecherchen werden in Kooperationen von angestellten Fachreferierenden und Cloud-Arbeitenden auf Abruf erledigt. Auf Wunsch kann man ehemalige Angestellte für Vorträge buchen. Das Archiv soll ein sozialer Treffpunkt für all jene werden, die früher eng mit den Staatsbetrieben verbunden waren oder es heute noch sind. Pensionierte verdienen durch die Mitarbeit etwas dazu und bleiben über die Pensionierung Teil der aktiven Gesellschaft. Durch die tägliche Arbeit interagieren sie mit viel jüngeren Menschen – zum Beispiel mit Forscherinnen, die das Archiv besuchen, um ihre Dissertationen zu schreiben. Gleichzeitig treffen die Mitarbeitenden auf Gleichaltrige.

Man hält einen Schwatz über die Vergangenheit, die Zukunft, die Freiheiten und Sorgen eines Alltags im Alter. Um die Bedürfnisse der Pensionierten zu erfassen und entsprechende Angebote zu entwickeln, arbeitet man direkt mit der Zielgruppe zusammen. In Konzeption und Betrieb entsteht durch die Integration von älterem Personal eine riesige Altersspanne. Neunzehnährige arbeiten zusammen mit Neunzigjährigen. Während die Älteren den Zugang in die Vergangenheit sichern, bauen die Jungen die Brücken in die Zukunft. Sie bauen künstliche Intelligenzen, designen virtuelle Welten. Diese Altersdiversität zu managen, ist anspruchsvoll und setzt aktive Kulturarbeit voraus.

Archiv als Abo

Das Archiv der Staatsunternehmen möchte finanziell unabhängig sein. Nach einer Anschubfinanzierung durch die gründenden Staatsunternehmen sollen es zahlungspflichtige Angebote selbsttragend machen. Bereits vor dem Beginn des Umbaus prüft man künftige Ertragsquellen sowie die Tarifstruktur für das Betreten der Wunderländer. Studierende benutzen das Archiv kostenfrei. Bibliotheken, Universitäten und Behörden erhalten Sonderangebote. Private Nutzerinnen sowie Geschäftskunden sollen für die Nutzung des Archivs ein gebührenpflichtiges Abo abschliessen. Crowds, Mäzene und sponsernde Unternehmen unterstützen die Finanzierung.

Private Nutzerinnen zahlen monatlich eine fixe Gebühr, um Zugang zur Vergangenheit zu erhalten. Im Abo eingeschlossen ist die Möglichkeit, die Bestände zusammen mit einem Chatbot zu erschliessen oder mit potenten Suchmaschinen zu durchsuchen. In Zukunft sucht man nicht nur in Texten. Bilder und Videos werden ebenfalls durchsuchbar. Künstliche Intelligenz listet zum Beispiel die Videos auf, in denen der Zytglogge vorkommt. Regelmässig neu lancierte Missionen bieten Gelegenheit, sich in einer thematisch, räumlich oder zeitlich eingeschränkten Vergangenheit umzusehen. Wie bei Netflix werden beim Einstieg in das Portal die neusten «Missionen» mit einladenden Bildern vorgestellt. Wird man dadurch dem Serientrend Erlebnisse entgegensetzen können, bei denen die passiven Binger zu aktiven Zeitreisenden werden?

Geplant sind Reisen in die Anfangszeit des Internets sowie zum Bau wichtiger Eisenbahntunnel. Experimentieren möchte man mit alternativer Geschichte. Nach dem Vorbild von Philip K. Dicks Roman beziehungsweise der Amazon-Erfolgsserie The Man in the High Castle will man die Besuchenden mit “Was-Wäre-Wenn”-Szenarien begeistern – zum Beispiel mit der Einführung intelligenter Brillen statt Handys zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ein einfacher Farbcode zeigt an, wenn man alternativen Szenarien betritt. Um zusätzliches Material zu archivieren und multimedial aufzuschalten, plant das Archiv Crowd-Funding-Kampagnen. Angeschrieben werden Mitglieder, historisch interessierte Kreise, ehemalige und aktuelle Mitarbeitende der beteiligten Staatsunternehmen. Als Dankeschön für ihre Spenden erhalten sie Zugang zum Archiv, zu Veranstaltungen oder Büchern, die in der Erarbeitung der Geschichten in die Vergangenheit entstehen.


SZENARIEN Wie Kulturförderung funktionieren könnte

Das erste Szenario totalen Ökonomisierung bringt umfassende Privatisierung. Staatliche Instanzen der Kulturförderung verlieren durch Geldmangel, populistische Kritik und mächtige Neo-Stadtstaaten ihre Relevanz. Unternehmen, Mäzene und Crowds springen in die Bresche. Sie bestimmen den Kulturbetrieb genauso wie die Geschichtsschreibung und -speicherung.

Szenario 1 – Totale Ökonomisierung

Wäre eine stärkere Ästhetisierung des Ökonomischen zu erwarten? Arbeitswelten werden zu Wunderländern, Mitarbeiteranlässe zu gigantischen Shows
Wäre eine stärkere Ästhetisierung des Ökonomischen zu erwarten? Arbeitswelten werden zu Wunderländern, Mitarbeiteranlässe zu gigantischen Shows

Gemäss aktuellen Zahlen fördern Gemeinden, Kantone und Bund die Kultur zusammen mit total 2882 Millionen Franken pro Jahr. Umgerechnet entspricht das einem Betrag von 348 Franken pro Einwohnerin. Im Szenario einer totalen Ökonomisierung mit umfassender Privatisierung der Kulturförderung würde dieser staatliche Betrag deutlich zurückgehen - es gibt kein Budget mehr für die Kultur. Unternehmen und Private müssen die entstehende Lücke füllen. Eine stärkere Instrumentalisierung der Kultur durch ökonomische Akteure könnte eine mögliche Folge sein. Unternehmen verteilen Geld nur bedingt zwecklos. Ihre DNA schreibt vor, sämtliche ihrer Aktivitäten Geldflüsse auszulösen. Es muss sich lohnen! Folglich neigt die Privatwirtschaft dazu, Themen, Institutionen, Kunstformen und Menschen zu fördern, die am besten in ihre Visionen passen. Kritik an Unternehmen und Märkten ist nur erwünscht, wenn sie Innovation beziehungsweise neue Geldflüsse bewirkt. In der Folge nimmt wirtschaftlich motivierte Zensur in diesem Szenario zu. Was die Märkte und das Wachstum behindert, soll verschwiegen werden.

Von Unternehmen bezahlte Kulturschaffende arbeiten im Auftrag. Wäre eine stärkere Ästhetisierung des Ökonomischen zu erwarten? Arbeitswelten werden zu Wunderländern, Werbungen zu Kunstwerken, Mitarbeiteranlässe zu gigantischen Shows. Würden Unternehmen mit ihren assoziierten Kulturschaffenden die Welt verbessern wollen – zum Beispiel den Green New Deal populär machen? Würden sie gemeinwohlorientierter, weil sie sich ihrer kulturellen Verantwortung bewusst sind, sich nicht nur als ökonomische, sondern auch als kulturrelevante Akteure wahrnehmen? Würden sie Mechanismen in ihre Geschäftstätigkeit einbauen, um einen Teil ihrer Gewinne automatisch an die Kultur abzutreten – Rundungsbeträge, Kulturprozente oder Strafgebühren für jede Überstunde, jeden Flug? Neben Unternehmen finanzieren Mäzene und Crowds die Kulturschaffenden. Die ökonomische Logik wiederholt sich auf der Empfängerseite. Geld erhält, wem es gelingt, seine Projekte am besten zu vermarkten, deren Relevanz aufzuzeigen, die Community zum Spenden anzuregen. Das bedingt eine hohe digitale Kompetenz und ein gutes Netzwerk – findet die Vermarktung doch wesentlich durch soziale Medien statt.

Es müssen nicht immer Millionen gesprochen werden. Im Gegenteil: Persönliche Förderung über Mikro-Spenden im Abosystem wie bei Patreon oder dem Online-Trinkgeld-Anbieter Tipee nimmt zu. Bedeutet Privatisierung wirklich eine höhere Transparenz der Finanzierung, ein besseres Verständnis, woher und wohin die Fördergelder fliessen? Crowds könnte es gelingen, das Bewusstsein für Kultur zu verstärken – auch weil die Förderung noch mehr als heute auf persönlichen Beziehungen beruht. Werden sie sich einzig der Zukunft verschreiben, die Vergangenheit vergessen? Damit die Privatisierung ihre positiven Kräfte entfalten kann, sind wir aufgefordert, mitzumachen und mitzufinanzieren. Illegales Streamen müsste uns verlegen machen. Engagieren sich zu wenige in der Kulturförderung, geht die Vielfalt verloren und nimmt die Fremdbestimmung der Kulturschaffenden zu. Die sorgfältige Speicherung könnte ebenso leiden wie die differenzierte Beschreibung der Vergangenheit.


Im zweiten Szenario führt die Schweiz das Grundeinkommen ein. Im selben Moment werden die Sozialversicherungen heruntergefahren und die bisherigen Wege der Kulturförderung eingeschränkt. Viele Bürgerinnen und Politiker betrachten das Grundeinkommen als allgemeine Förderung unserer Kreativität. Statt gezielt wird nun mit der Giesskanne gefördert.

Szenario 2 – Grundeinkommen

Durch das Grundeinkommen kommt es zu einem Ansturm auf die Kulturinstitutionen. Sie sind Wunderländer des Verweilens, Startrampen des Zeitreisens.
Durch das Grundeinkommen kommt es zu einem Ansturm auf die Kulturinstitutionen. Sie sind Wunderländer des Verweilens, Startrampen des Zeitreisens.

Im 2039 erfolgreich geführten Abstimmungskampf zum Grundeinkommen wurde darauf hingewiesen, wie unsere Kreativität sprunghaft ansteigen könnte. Bürgerlichen Freunden des Wachstums, der Märkte und des Unternehmertums gefiel dieser Gedanke ebenso wie linken Kulturfans. Der Betrag des monatlichen Einkommens wurde von den Initianten so angesetzt, dass ein minimaler Lebensstandard gedeckt ist. In dieser Art der Kulturförderung wird niemand diskriminiert. Aus der breiten Verteilung der Fördergelder resultiert Verteilungsgerechtigkeit. Alle erhalten unabhängig von ihrem Alter, ihrer sprachlichen Gewandtheit oder ihrem bisherigen Schaffen gleich viel Geld. Sie können dieses frei für ihre Projekte einsetzen. Lohnen muss sich die ausgelebte Kreativität nicht, relevant muss sie auch nicht sein. Weil der finanzielle Druck für Kunstschaffende wegfällt, verfolgen sie wildere Ideen und nehmen sich länger Zeit, ihre Ideen auszuarbeiten. In diesem Klima der Kreativität interessieren sich junge Kulturschaffende aus der ganzen Welt dafür, in der Schweiz zu arbeiten.

Kulturkritiker und Freunde eines schlanken Staates kritisieren zusätzliche Fördermassnahmen für Einzelpersonen, die über das Grundeinkommen hinausgehen. Auf welcher Ebene werden die bisherigen Fördergelder am meisten unter Druck kommen – auf kommunaler, kantonaler oder nationaler Ebene? Die reduzierte gezielte Unterstützung von Einzelpersonen macht es schwieriger, ohne Wirtschaft und Crowds grosse Projekte zu lancieren. Wie das Szenario der totalen Ökonomisierung könnte das Grundeinkommen Winner-Takes-it-All-Effekte forcieren. Wenige erfolgreiche Künstlerinnen erhalten das grosse Geld, viele andere gehen leer aus. Die Vielfalt der Meinungen, Ansätze und Formen nimmt ab, weil zwar viele gefördert werden - aber eben nur mit einem Betrag, der knapp das Überleben sichert. Weil die Förderung der Einzelnen wegfällt, konzentriert sich die staatliche Förderung auf Institutionen, die Kultur pflegen, ausstellen, anregen, dokumentieren und für die Zukunft speichern. Deren Bedeutung als Kuratoren verstärkt sich insofern, als sie direkt Künstler fördern, die für sie arbeiten. Ein Teil der Fördergelder an Institutionen wird also von diesen an Einzelne weitergeleitet.

Durch das Grundeinkommen kommt es zu einem Ansturm auf die Kulturinstitutionen. Ihre Besucherinnen haben Zeit, sich Dingen jenseits ihrer Karriere und der Sicherung ihres finanziellen Überlebens zu widmen. Kulturinstitutionen sind Wunderländer des Verweilens, Orte des Austausches über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Startrampen des Zeitreisens. Besucherinnen möchten nicht nur etwas anschauen und erleben, sie möchten ebenso informiert und gebildet abreisen. Der Bedarf an Kulturvermittlung nimmt zu. Viel mehr Menschen als bisher wollen Kulturschaffende sein. Sie kündigen Jobs, die sie seit Jahren stressen. Slasher-Karrieren nehmen weiter zu. Zahlreiche Mitarbeitende reduzieren ihr Arbeitspensum, um nebenbei einer kreativen Tätigkeit nachzugehen. Man lässt sich früher pensionieren, um bisher unerfüllten Leidenschaften nachzugehen. Aus den neuen Freiheiten entstehen soziale Innovationen. Allerdings sinkt durch das Grundeinkommen das Durchschnittseinkommen. Museen, Bibliotheken und Theater sind aufgefordert ihre Preise zu senken.


Im Szenario Big Data bestimmen Maschinen statt Menschen, wer welche Mittel erhält. Genauso lassen wir sie entscheiden, welche Vergangenheit gepflegt und in die Zukunft gerettet werden soll. Weitergedacht setzen die Robo-Förderer nicht nur die Empfängerinnen und Beträge fest, sie stellen auch vielversprechende Teams von Kunstschaffenden zusammen.

Szenario 3 – Big Data

Können die Maschinen abschätzen, was berührt, neuartig, kritisch ist? Erkennen sie tief in unseren Gedankenwelten, wenn sich etwas in uns regt?
Können die Maschinen abschätzen, was berührt, neuartig, kritisch ist? Erkennen sie tief in unseren Gedankenwelten, wenn sich etwas in uns regt?

Selbstverständlich können die Maschinen viel mehr Informationen als wir Menschen verarbeiten. Durch den Einsatz der Roboter hofft die Kulturförderung, Geld mit mehr Wirkung zu vergeben. Was Wirkung heisst, rückt regelmässig ins Zentrum der Kulturpolitik. Argumentiert wird mit wirtschaftlichem Erfolg, dem Kitten sozialer Risse, dem Green New Deal, der Verlagerung des Lebens in den digitalen Raum, Bildung und Reflexion. Grundlage ihrer Entscheidungen sind unsere Datenspuren. Auf Nutzerseite fliesst jeder Museumseintritt, jeder gestreamte Song, jedes gekaufte Magazin, jedes ausgeliehene Buch, jede Reise in die Gleichung der Entscheidungsfindung ein. Die Daten zeigen, was ankommt und wie kulturelle Erzeugnisse und Institutionen zusammenhängen. Man muss nicht mehr schätzen, ob ein Haushalt tatsächlich 57 Franken pro Monat für “audiovisuelle Erzeugnisse” ausgibt. Man weiss es ganz genau. Wird es den Maschinen gelingen, neben quantitativen Nutzungszahlen qualitative Wirkungsgrössen zu berücksichtigen? Können sie abschätzen, was berührt, was neuartig, was kritisch ist? Erkennen sie tief in unseren Gedankenwelten, wenn sich etwas in uns regt?

Auf Seiten der Kulturschaffenden wird jedes Bild, jeder Text, jedes Werk, ja vielleicht sogar jeder Gedanke vermessen. Die Fördermaschinen wollen wissen, was produziert und ausgestellt wird, wie es auf die Besucherinnen und Besucher wirkt. Kulturschaffende müssen – um von den Algorithmen gesehen zu werden – ihren digitalen Auftritt perfektionieren. Im Szenario “Big Data” wird nur noch gefördert, was digitalisiert wurde. Ist etwas nicht online, kann es von den Maschinen nicht gesehen werden. Je besser sich Kultur und ihre Wirkung mit Daten beschreiben lässt, desto grösser die Förderwahrscheinlichkeit. Das Uneindeutige droht auf der Strecke zu bleiben. Kritiker befürchten eine Uniformierung des Kulturschaffens, wenn alles in die Rechenweise der Algorithmen passen muss. Ohne Zweifel wirkt die Automatisierung bürokratiebefreiend. Geld wird automatisch per Klick verteilt, Kulturschaffende können sich ganz auf ihr Werk konzentrieren. Endlich müssen sie keine Gesuche mehr schreiben, keine Zeit mit Sitzungen und Smalltalk verschwenden. Die Maschinen sehen vorher, ob die Kulturschaffenden die finanzierte Zeit gut nutzen werden. Zeitpläne und Offerten brauchen sie nicht.

Durch den Einsatz von Maschinen können sich die fördernden Instanzen ganz auf das Coaching, das Interpretieren und das Vermarkten konzentrieren. Vor allem haben sie Zeit, Geschichten zu erzählen. Werden sie sich die Zeit nehmen zu entdecken, was von den Maschinen nicht entdeckt werden kann? In der Übergangsphase wird es Aufgabe der heutigen Kulturförderung sein, die Robo-Förderer zu erziehen. Sind diese einmal programmiert, gilt es, ihre Entscheide kritisch zu hinterfragen. Was hat sich im Vergleich zu früher verändert, was hat zu-, was hat abgenommen? Wer gehört zu den Gewinnerinnen, wer zu den Verliererinnen des Systemwechsels? Ganz im Sinne der Token-Ökonomie könnte man Kulturschaffende statt mit Geld in Form von Tokens fördern. Anders als klassisches Geld verändert sich deren Wert über die Zeit. Er steigt in Zeiten, wo der Wert von Kultur zunimmt, die Gesellschaft die Fragen und Antworten der Kulturschaffenden honoriert, gewisse Kunstformen knapp werden.


Im vierten Szenario stehen Künstlerkollektive im Zentrum. Um die ausgeschriebenen Gelder bewerben sich Cluster vernetzter Künstler und assoziierter Institutionen. Förderung passiert stärker als heute nach normativen Kriterien. Es wird dort Geld vergeben, wo etwas Sinn macht, nicht wo etwas auf quantitative Resonanz trifft.

Szenario 4 – Künstlerkollektive

Die Kollektive verstehen sich als institutionelle *Influencer*, die Stellung beziehen, für Visionen einstehen, Ideen multiplizieren.
Die Kollektive verstehen sich als institutionelle Influencer, die Stellung beziehen, für Visionen einstehen, Ideen multiplizieren.

Der Shift zu Kollektiven entspricht der Tendenz zu interdisziplinären Teams, in denen unterschiedliche Kompetenzen zusammenkommen. Man teilt, inspiriert sich, fordert sich heraus, ergänzt sich. Solche Cluster von Fähigkeiten sind gerade für die Kreation und das Kuratieren der Wunderländer unverzichtbar. Sollen diese virtuellen und inszenierten Welten ihre Magie entfalten, muss gründlich recherchiert, wundersam geschrieben, meisterlich gebaut werden. Es wird programmiert, designt, inszeniert. Der Bedarf an interdisziplinären Teams in den Wunderländern von TV-Serien, Festivals, Gastro-Erlebnissen oder gross angelegten Spielen ist offensichtlich. Auch für die Organisation von Reisen in die Vergangenheiten und in die Zukunft ist das Zusammenspiel von konzeptionellen, handwerklichen und organisatorischen Kompetenzen unabdingbar. Vergangenheit und Zukunft müssen sinnvoll verknüpft werden, Fantasie ist ebenso verlangt wie historische Kompetenz.

Gefördert werden jene Kollektive, die neben einer Vision eine grosse Vielfalt an Erfahrungen nachweisen können. In diesem Szenario werden weniger Projekte unterstützt, dafür grössere Beträge gesprochen. Wie die Gelder innerhalb der Gruppe verteilt werden, interessiert die Förderer nicht. Man setzt auf Selbstorganisation. Entscheidend ist das Zusammenspiel der Fähigkeiten, die Wirkung, sind die ermöglichten Erlebnisse. Häufig wohnen die Mitglieder der Kollektive am selben Ort, Wohnen und Arbeiten verschmelzen. Zum Teil gründen die Kollektive gar Häuser, die von charismatischen Personen geführt werden. Diese vertreten die Kollektive in der Öffentlichkeit und entwickeln sie weiter. Aus Arbeitsgemeinschaften werden Lebensgemeinschaften. Die Häuser funktionieren als Ateliers, Forschungsstätten, Galerien und Räume der Kulturvermittlung. Grosse Kollektive entwickeln sich zu Kunstakademien. Intermediäre werden verdrängt.

Je mehr die Kollektive als Einheit der Kulturförderung in den Vordergrund treten, desto grösser wird ihre Konkurrenz. Während sich einige der Kollektive nahe an den Märkten bewegen und auf die Verkaufsfähigkeit ihre Arbeiten achten, agieren andere gesellschaftskritischer. Erstere suchen die Kooperation mit Unternehmen, Letztere mit dem Staat. Klar ausformulierte Ambitionen ziehen junge Kulturschaffende an und machen die Medien neugieriger. Die Kollektive verstehen sich als institutionelle Influencer, die Stellung beziehen, für Visionen einstehen, Ideen multiplizieren. Als solche propagieren sie den Green New Deal, die Eroberung des Weltalls, die Förderung der Maschinenkultur, die Erneuerung des Gesellschaftsvertrags, das Zelebrieren des hohen Alters, eine dezentrale Wirtschaft. Für Künstlerinnen entsteht die Herausforderung, ein passendes Kollektiv zu finden. Soziale Kompetenzen und die Zusammenarbeit im Kollektiv werden in diesem Szenario wichtiger.


Das fünfte Szenario kopiert die Truman Show. Ganz gemäss dem Kultfilm der späten 1990er-Jahre entstehen lauter Kunstwelten, welche die Wirklichkeit simulieren. Kulturförderer initiieren, überwachen und werten die Experimente aus. Gesucht werden Wege aus den Wiederholungsschleifen der Gegenwart.

Szenario 5 – Truman Show

Kulturförderung gewichtet Experimente, um neue Visionen zu entdecken. Sie sind eine Art bezahlte Opposition des Mainstreams.
Kulturförderung gewichtet Experimente, um neue Visionen zu entdecken. Sie sind eine Art bezahlte Opposition des Mainstreams.

Das Szenario Truman Show folgt der Prämisse in der Einführung dieser Arbeit, dass wir möglicherweise Gefangene der Gegenwart sind. Zwar spricht man überall über Innovation, aber wie viel verändert sich tatsächlich? Positive Visionen sind im Kontext der neuen gesellschaftlichen Risse und des Klimawandels ebenso rar geworden wie radikale soziale Innovationen. Besonders die Digitalisierung gerät unter Generalverdacht. Man reproduziert Bisheriges: Das iPhone X kann etwa gleich viel wie das erste iPhone. Laptops werden dünner und leichter, aber sie bleiben eigentlich gleich. Gleichzeitig fürchtet man ein Ende der Arbeit, eine Welt ohne Zufall, Tonnen von Elektroschrott, Gesundheitsprobleme durch mehr Strahlung, Überwachung und allmächtige Konzerne. Fans und Kritiker bewegen sich in endlosen Wiederholungsschleifen. Seit zehn Jahren tauschen sie dieselben Argumente aus. Gleichzeitig zeigen sich die Fronten zwischen global- und nationalorientierten Kräften verhärtet. Eine ähnliche Blockade könnte sich zwischen Grünen und Marktliberalen ergeben.

Dieses Ende der Zukunft gilt es umzudrehen, sollen die Apokalyptiker nicht die Deutungshoheit über den Zeitgeist erhalten. Deshalb konzentriert sich Kulturförderung in diesem Szenario darauf, Auswege aus dem Und-täglich-grüsste-das-Murmeltier-Theater anzubieten. Kulturschaffende sollen Ursachen für die Fantasielosigkeit der Gegenwart aufspüren, neue positive Ausblicke auf die Zukunft schaffen – unter Berücksichtigung der digitalen Transformation aber auch anderer Megatrends wie der biologischen Revolution, dem silbrigen Zeitalter oder der ökologischen Wende. Sie entwickeln und probieren Gegenwelten aus, Szenarien einer noch digitaleren und komplett analogen Zukunft. Sie prüfen, wie man Wirtschaft, Politik und Gemeinschaft in den Szenarien der grünen Transformation oder der Gesellschaft der 100-Jährigen komplett neu denken könnte. Um ihre Visionen zu entwickeln, steht ihnen ein riesiges Reservoir an Ideen in Vergangenheit und Science Fiction zur Verfügung. Wohl möglich hat es unsere Zukunft in der Vergangenheit in der Geschichte der Zukunft schon einmal gegeben.

Kulturschaffende werden zu Zeitreisenden, die in fernen Zeiten nach Innovation jenseits kapitalistischer und technologischer Allmachtsfantasien suchen. Kulturförderung gewichtet diese Experimente, um neue Visionen zu entdecken. Sie sind eine Art bezahlte Opposition des Mainstreams. Wichtig scheint die Vielfalt der geförderten Prototypen, Gedankenspiele, Experimente und Simulationen. Unterstützt wird, was positiv und anders ist. Ob dies alles gelingt, zeigt sich, wenn der Zeitgeist sich lichtet, wenn die Gegenwart also wieder als spannend und lustvoll wahrgenommen wird, wenn Zukunftsneugierde und -offenheit zurückgekehrt sind. Die Kunstwelten können rein konzeptionell auf Papier stattfinden. Oder aber die alternativen Zukünfte werden richtig ausprobiert – in Simulationen, Siedlungen, Spielen und verlassenen Dörfern. Gefördert wird, was Spass macht. Beispiele dafür sind das finnische Experiment mit dem Grundeinkommen oder Biosphere II, wo in riesigen Kugeln Missionen zum Mars geprobt wurden.

Im sechsten Szenario geht es düster zu und her. Kulturkritische Parteien haben die Macht übernommen. Die Macht des Regimes beruht auf Algorithmen. Sie kontrollieren, was wir online tun, sagen und teilen, was multipliziert wird. Als Gedankenpolizei wollen sie die Kontrolle über unsere Gefühle und Gedanken erlangen. Kulturförderung muss heimlich passieren.


Szenario 6 – Gedankenpolizei

Dem Untergrund ist es besonders wichtig, die Erzählungen der Vergangenheit zu schützen. Sie erstellen Kopien, drucken aus, verstecken, lagern unterirdisch
Dem Untergrund ist es besonders wichtig, die Erzählungen der Vergangenheit zu schützen. Sie erstellen Kopien, drucken aus, verstecken, lagern unterirdisch

Das sechste und letzte Szenario ist wenig erbaulich. Vielleicht kann man trotzdem etwas lernen? Es herrscht die Gedankenpolizei. Am kritischen Denken hat sie keine Freude, Innovation ist nicht gefragt. Erlaubt sind Kulturformen, die uns die Zeit vertreiben, uns unterhalten, uns nicht zu sehr zum Nachdenken anregen. Wer seiner Kreativität freien Lauf lässt, macht sich verdächtig. Lesen im öffentlichen Raum ist Tabu. Via AirPods werden wir informiert und normiert. Künstliche Intelligenz zensiert verdächtige Gedanken. Verboten ist jede Kulturform, die ein zu genaues Betrachten der Gegenwart fördert. Wer die politischen und wirtschaftlichen Autoritäten infrage stellt, wird diskriminiert. Nicht immer bemerkt man es. Die Algorithmen sind unsichtbar, operieren unauffällig. Sie verhindern, dass man einen Job bekommt, lösen Anträge auf, notfalls nutzen sie Deepfakes. Bei Bedarf schreiben sie die Geschichte um. Per Klick werden aus der Kommandozentrale digitale Kulturgüter in Sekunden gelöscht. Die Geschichte wird umgeschrieben, auf staatlichen Webseiten, auf Wikipedia. Alternative Geschichte wird Realität.

Mit gefakter Pädophilie lässt sich eine Karriere rasch verderben. Besonders von der Überwachung und Einschränkung der Gedankenpolizei betroffen sind Kulturschaffende, welche die Vergangenheit aufmerksam beleuchten, die Gegenwart kritisch beobachten, sich für eine Vielfalt an Zukünften einsetzen. Ein solches Szenario mag übertrieben wirken, und doch sieht man seine Ansätze in etlichen Schurkenstaaten. In Ungarn sieht ein neues Gesetz die Schaffung eines Nationalen Kulturrats vor, die “strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung” ermöglichen soll. “Die brasilianische Kunst des nächsten Jahrzehnts wird heroisch sein und national. Oder sie wird gar nichts sein” - liess der brasilianische Theaterbesitzer und Kulturminister im Nazi-Jargon verlauten. Bolsonaros Kulturpolitik hat eine Vorzensur von Filmen installiert. Unterstützt wird nur, was der Regierung ideologisch passt. Feministische, Gender- und gesellschaftskritische Themen gehören nicht dazu. Selbst in den USA ist eine Regierung an der Macht, in der andersdenkende Minister nicht mehr im Kabinett geduldet werden. In einem solchen Szenario ist an freie Förderung von Kultur nicht zu denken.

Sie muss im Untergrund stattfinden. In einem digitalen Zeitalter können Künstlerinnen, ihre Institutionen und die Wissenschaft nicht mehr durch Überweisungen gefördert werden. Autoritäre Systeme überwachen die Transaktionen sehr genau. Gelder werden abgezogen, Gesetzesverbrecher verhaftet, eingesperrt, aus dem Verkehr gezogen. Noch wichtiger als Bargeld ist die Unterstützung durch Materialien und den Zugang zu Infrastruktur. Infrage kommt, was Künstlerinnen und Künstler in ihrem Alltag sowie für ihr Schaffen brauchen: Essen, Übernachtungen, Kleider, Farben, Instrumente. Auch Räumlichkeiten, Bühnen, Netzwerke und Transportgelegenheiten sind gefragt. Infrastruktur anzubieten bedeutet, Plattformen zu schaffen, damit die Künstlerinnen, Denkerinnen und Sammlerinnen ihr Schaffen, ihre Gedanken präsentieren, mit Gleichdenkenden in Kontakt kommen, Kritik am System äussern können. Sie sollen gesehen werden. Wir sollten uns die Zeit nehmen, ihnen in Ruhe zuzuhören. Dem Untergrund ist es besonders wichtig, die Erzählungen der Vergangenheit zu schützen. Er erstellt Kopien, druckt aus, versteckt, lagert unterirdisch. Welche Rolle werden die Unternehmen spielen? Werden sie sich den staatlichen Instanzen unterordnen oder werden sie zu den Rebellen gehören?

FAZIT Zurück in die Gegenwart

Wir sind am Ende unserer Reise ins Jahr 2040 angelangt. Auf unserem Weg hierher trafen wir auf Parallelwelten, fiktive Institutionen und wilde Szenarien. Alle Gedanken bewegten sich im Virtuellen, in fernen oder ganz fernen Zukünften. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, um in die Gegenwart zurückzukehren und in Form von Thesen zu skizzieren, wie sich Kulturförderung in den nächsten zwanzig Jahren auf das Kommende vorbereiten könnte. Sie spiegeln nicht die Meinungen der Auftraggebenden.

Kulturförderung stärkt das Alternative und Nichtökonomische

In der Logik der Märkte muss es sich rentieren. Man misst sich am globalen Publikum, Skalierung ist gefragt. Will Kultur in diesem Kontext reüssieren, vernetzt sie sich international und folgt den entsprechenden Rastern. Aus europäischer Sicht sind Alternativen zu den Plattformen, Deutungsangeboten und Megastars aus China und den USA wünschenswert. Kulturförderung unterstützt die kritische Reflexion bestehender Angebote und pflegt den kreativen Nährboden für Alternativen. Weil aber im Skalieren Vielfalt, Nuancen, lokale Bezüge und Gesellschaftskritik verlorengehen, fördert sie genauso, was ökonomisch (noch) nicht funktioniert und sich der Logik der Skalierung entzieht: Das Unikat, das Unvollkommene, das nicht Vervielfachbare.

Kulturförderung leuchtet digitale und analoge Extreme aus

Die Wunderländer entwickeln sich in den nächsten 20 Jahren parallel in eine hyperdigitale und eine retro-analoge Richtung. In der digitalen Variante sind sie virtuell, hypervernetzt, vom Ort entkoppelt, von Maschinenwesen kreiert und bevölkert. Analog ausgeprägt sind die Wunderländer Räume der Begegnung, die wir mit all unseren Sinnen erfahren. Wir gehen bewusst offline, um nicht abgelenkt, beobachtet und vermessen zu werden. Beide Extreme haben ihren Reiz, spannend sind konsequente Kreuzungen. Um das Neue zu entdecken, hilft Kulturförderung, beide Extreme des menschlichen Habitats auszuloten, unterstützt Crossmediales und Übersetzungsleistungen: Augmented Reality, Digitalisierungsvorhaben, Prints des Digitalen.

Kulturförderung vertraut auf Expertinnen und Crowds

Crowds sind wie Expertinnen berechtigt, zu wählen, welche Kultur sie fördern wollen. Dasselbe gilt für das Speichern der Vergangenheit – wenn es darum geht, Geschichte zu schreiben, zu bestimmen, welche Bilder, Serien, Bauten, Cyborgs und Tweets wir in die Zukunft übertragen. Plakativ skizziert, sind Crowds näher am Zeitgeist, digitalaffiner und geschickter darin, Ideen zu multiplizieren. Expertinnen haben umgekehrt einen besseren Überblick. Sie sind potenziell die besseren Hüter von Diversität. Wollen sie diese Aufgabe glaubwürdig wahrnehmen, müssen die Instanzen der Kulturförderung jedoch ihre Diversität kritisch prüfen. Bilden sie Frauen, die Jugend, die Hundertjährigen, den hyperdigitalen und grünen Zeitgeist, Einwandernde genügend ab?

Kulturförderung konzentriert sich auf die Infrastruktur einer kreativen Gesellschaft

Zu dieser Infrastruktur gehören Räume, in denen Kulturschaffende an ihren Werken arbeiten und auf ein Publikum treffen. Durch neue Kulturformen ändern sich die Anforderungen an die Infrastruktur. Genauso wichtig, um kreative Potenziale zu entfalten, Resonanz zu erfahren und Diskurse auszutragen, ist die immaterielle Infrastruktur. Diese umfasst Zeit: um zu lesen, zu denken, zu diskutieren, auszuprobieren, zu entdecken. Zeit ist wertlos ohne die Möglichkeit, frei zu denken. Je konkreter Kulturförderung Ziele vorgibt oder verlangt, desto mehr schwinden die Freiräume. Eine kreative Gesellschaft braucht schliesslich Institutionen und Räume des Wissens. Ohne Wissenschaft und Wissensspeicher vergisst sie, erkennt sie keine Optionen für die Zukunft.

Kulturförderung darf ein Experiment sein

Meist läuft helvetische Kulturförderung in geregelten Bahnen. Man definiert Kriterien – auch um sich abzusichern. Neue Wege ergeben sich durch neue Kriterien, um Förderentscheide zu treffen – nach Postleitzahl, Alter, Farbe des eingereichten Dossiers, thematisierten Megatrends, digitalen und analogen Extremen. Ganz neue Formen der Kultur und Kulturförderung helfen, bisher unbeachtete Personen für das Kulturelle zu begeistern. Sie könnten ein mehrjähriges Grundeinkommen umfassen oder den Auftrag, in Experimenten Utopien zu simulieren. Auch die zufällige Auswahl von Dokumentierenden der Vergangenheit, Gegenwartsdeutern und Erfinderinnen der Zukunft aus allen Bürgerinnen per Losentscheid könnte die Diversität des Kulturschaffens stärken.

Kulturförderung wagt ein neues Verhältnis zu Geförderten

Dazu braucht es neue Rollen der Kulturförderung. Zu diesen gehört die Coachin. Sie beobachtet, gibt Feedback, begleitet, vernetzt. Zweitens könnte Kulturförderung als Dienstleister den Geförderten Aufgaben abnehmen – als Budgetplanerinnen, Vermarktungsprofis, Influencer. Drittens könnte Kulturförderung in einer gewerkschaftlichen Funktion die Interessen prekär arbeitender Kulturschaffender schützen. Auf einer Metaebene könnte Kulturförderung die Gestaltung der Zukunft und das Speichern der Vergangenheit moderieren. Sie lanciert einen Dialog, welche Infrastruktur, welche Aus- und Weiterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, welche Reflexionsräume, welche Inhalte die Kultur braucht.

Kulturförderung begeistert für die Vergangenheit

Der Mensch lebt im Wandel. Das Neue interessiert ihn ungemein. Gewiss, es lockt, weil es neue Märkte und Machtformen bringt. Aber genauso vereinfacht es unsere Leben, es entstehen neue Perspektiven, es ist spannend, vertreibt die Langeweile, intensiviert. Kulturförderung könnte als Ergänzung zum Zukunftsfetisch das Interesse an der Vergangenheit wecken. Das erfordert neue Wege, um diese zu erleben, sowie ein Verständnis dafür, wie relativ und dynamisch Geschichte ist, wie vernetzt Personen, Orte, Entwicklungen waren. Neue Technologien etablieren neue Formen, um die Vergangenheit zu interpretieren, zu speichern, zu erleben, zu bereisen. Um von diesen zu profitieren, braucht es Mittel und Zeit, die anfallenden Informationen zu deuten.

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